Naturparks: Wo die Schweiz der EU den Weg weist
Eine Delegation aus zentral- und osteuropäischen Ländern soll im Schweizerischen Nationalpark Inspiration für ihre Naturreservate finden. Dahinter steckt der Kohäsionsbeitrag, ein Instrument der Schweizer EU-Politik – nach langem Tauziehen beginnt seine Umsetzung.
Die Gruppe wandert hoch, immer schön dem Pfad entlang – diesen zu verlassen, ist im Schweizerischen Nationalpark streng verboten. Daran erinnert werden muss hier niemand. Es sind alles Park-Profis. Die Delegation mit Teilnehmer:innen aus Bulgarien, Estland, der Slowakei und Tschechien war im September auf Einladung der Schweiz mehrere Tage im Land unterwegs, der Ausflug im Nationalpark in Graubünden ein zentraler Programmpunkt.
Wie kann man nachhaltigen Tourismus und den Schutz von Biodiversität in Naturreservaten fördern und allenfalls kombinieren? Diese Frage stellt sich vielerorts. Der Schweizerische Nationalpark kann Anhaltspunkte geben: Im Jahr 1914 gegründet, ist er der älteste seiner Art in den Alpen und in Mitteleuropa, ein seit einem Jahrhundert unberührtes Reservat mit den höchsten Schutzbestimmungen und ein wichtiger Forschungsstandort.
Das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) hat die Delegation eingeladen, da nach langem Tauziehen mit der EU-Kommission die Schweiz mit verschiedenen zentral- und osteuropäischen EU-Staaten die entsprechenden Abkommen im Rahmen des sogenannten Kohäsionsbeitrags abgeschlossen hat – diese bezahlt die Schweiz der EU als eine Art Abgeltung für den Zugang zum europäischen Binnenmarkt.
Es handelt sich um etwas mehr als eine Milliarde Franken, die für die Oststaaten vorgesehen sind. Nebst sozialer Sicherheit und Wirtschaftswachstum ist Umweltschutz ein strategisches Ziel, das die Schweiz mit diesen Zahlungen verfolgt. (Mehr Infos in der Box am Textende.)
Ein Park wie kein zweiter
Der Austausch unter den Teilnehmenden nimmt mit jedem Höhenmeter zu – es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich Expert:innen aus EU-Staaten ausgerechnet in den Schweizer Alpen vernetzen. «Dieser Austausch ist sehr wichtig – wir stehen letztlich alle mehr oder weniger vor den gleichen Fragen, ob EU oder nicht», sagt Marqueta Konecna. Sie arbeitet beim tschechischen Umweltministerium und ist konzeptuell bei der Gestaltung von Parks im Land zuständig.
Sie unterstreicht, dass insbesondere die langjährige Erfahrung der Schweiz bei der Parkführung und im Monitoring wichtig ist für die Länder des ehemaligen Ostblocks. Als praktisch einziges Land in Europa hatte die Schweiz im 20. Jahrhundert keine historischen Brüche, blieb von Kriegen und Systemwechseln verschont. «Diese Stabilität ist einmalig und produziert Erfahrungswerte, die für uns sehr wertvoll sind. Dazu kommt natürlich, dass die Schweiz sehr innovativ ist. Nicht alles können wir übernehmen, aber es bringt uns auf Ideen.»
An dieser Reise interessiert sie sich vor allem für das Management von Besucherströmen in geschützten Parks: Wie kann man beispielsweise Mobilität und nachhaltigen Tourismus verbinden? «Natürlich ist ein gut ausgebauter öffentlicher Verkehr wichtig. Ebenso aber auch die Organisation zwischen allen Beteiligten: Kommunen, Touristiker, Parkangestellten und so weiter», sagt Konecna.
Von der föderalen Struktur der Schweiz und der engen Zusammenarbeit zwischen staatlichen Stellen und Privaten könne man einiges lernen, der Schweizerische Nationalpark sei in dieser Hinsicht ein gutes Anschauungsbeispiel.
Der Park verzeichnet jährlich im Schnitt mehr als 100’000 Besucher:innen, die ganze Region – zu der beispielsweise auch die weltberühmte Destination St. Moritz gehört – kommt auf rund eine Million Besuchende; dies bei einer Bevölkerung von 9300 Menschen. Auf solche Zahlen komme man in den tschechischen Parks nicht, aber wie andernorts seien auch sie während der Pandemie bei den Einheimischen beliebter geworden, sagt Konecna. «Wir müssen abwägen: Mehr Parkplätze oder Ausbau des öffentlichen Verkehrs?» Die Antwort wäre klar, aber Nachhaltigkeit muss man sich leisten können.
Bären und Wilderer als Probleme
Während der Schweizerische Nationalpark unter den grossen Besucherströmen leidet, ist es in Bulgarien genau andersrum: «Die Menschen sehen die Natur bei uns oft als wirtschaftliche Ressource. Die Idee geschützter Naturräume erschliesst sich nicht allen», sagt Angel Ispirov. Er ist Aufseher im zentralbulgarischen Central Balkan National Park. Dieser ist mit 720 Quadratkilometer der zweitgrösste im Land, damit aber immer noch ein Vielfaches grösser als der Schweizerische Nationalpark, der auf 170 Quadratkilometer kommt.
Entsprechend unterschiedlich sind die Herausforderungen. Bulgarien gehört wirtschaftlich zu den ärmsten Ländern in der EU, die Prioritäten liegen naturgemäss auch anders. «Der Park wurde offiziell 1991 gegründet, existierte aber die ersten Jahre eigentlich bloss auf dem Papier, denn Personal dafür wurde erst sechs Jahre später eingestellt», sagt Ispirov.
Noch heute ist die Aufsicht des Parks unterdotiert, was besonders hinsichtlich der zwei grössten Herausforderungen problematisch ist: Bären und Wilderer. «Die Bärenpopulation nimmt zu. Die Tiere weichen immer öfter in besiedelte Gebiete aus. Und die Wilderei war schon seit jeher ein Problem, ein ebenso gefährliches.» Ispirov patrouilliert deswegen bewaffnet.
Die Reise in die Schweiz sei aber auch für ihn wertvoll: «Es ist wie ein Blick in die Zukunft: Ich kann dank den Erfahrungen hier erahnen, was künftig auf uns zukommen könnte.» Zudem lerne er von praktischen Experimenten, die man durchführt – etwa, wie man mit einfachen Materialien und Techniken die Abwasserreinigung von Hütten umweltschonend und autonom gestaltet. «Wir haben ein gut ausgebautes Hütten-Netz in unserem Park, der Unterhalt ist aber schwierig. Wir sind immer auf der Suche nach Lösungen, um sie autonomer zu machen», sagt Ispirov.
Ein langjähriges politisches Spiel findet sein Ende
Gemäss Verteilschlüssel kommen die vier Delegationsländer auf knapp ein Fünftel der gesprochenen Finanzmittel im Kohäsionsbereich, also rund 210 Millionen Franken. Die für die Teilnehmenden relevanten Projekte machen 83 Millionen aus, plus die von den Staaten erbrachte Eigenleistung von 15%.
Daniel Birchmeier vom Seco ist seit Jahren in die Projekte involviert. Er erklärt: «Die Länder erhalten teilweise bedeutende Kohäsionszahlungen von der EU. Uns ist deshalb wichtig, best practices zu identifizieren, die für sie nützlich sind.»
Die Bandbreite reicht dabei von handfesten Investitionen in hochqualitativen Anlagen (vor allem in den Bereichen Energie, Gesundheit und Berufsbildung), hin zu konzeptueller Arbeit und Wissenstransfer. Es ist oft eine Arbeit in der Nische, mit Vorzeigemodellen, die Impulse freisetzen sollen.
Birchmeier, der die Delegation betreut, spricht an diesen Tagen viel von Inspiration. Er wird die Gruppe noch mehrere Tage durch die Schweiz führen, runter ins Mittelland, um weitere Ideen zu präsentieren. Die Alpenluft im Nationalpark machte den Teilnehmenden offenbar Lust auf mehr.
Auch wenn Bern und Brüssel voraussichtlich noch einige Zeit am Verhandlungstisch verbringen werden, um ihr künftiges Verhältnis zu definieren – diese schweizerisch-europäische Zusammenarbeit hat begonnen.
Die zweite Schweizer «Kohäsionsmilliarde»
Unter dem Namen «Schweizer Beitrag an ausgewählte EU-Mitgliedstaaten» leistete die Schweiz ab 2004 einen Beitrag an die Osterweiterung der Europäischen Union. Dieser ersetzte die frühere Osthilfe und betrug rund 1,3 Milliarden Franken und zielte auf Projekte, die der Kohäsion der Union zugutekamen – die Schweiz erhielt dafür einen weitgehenden Zugang zum europäischen Binnenmarkt.
Der zweite BeitragExterner Link umfasst den gleichen Betrag, wobei 200 Millionen für Staaten vorgesehen sind, die besonders von Migration betroffen sind. Die übrigen 1,1 Milliarden Franken werden vom Seco und der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza) mit 13 Partnerstaaten bis ins Jahr 2029 umgesetzt.
Der Beitrag wurde zwischenzeitlich zum Spielball: Im politischen Gerangel um das institutionelle Rahmenabkommen entschied die Europäische Kommission die Börsenäquivalenz aufzuheben, was in der Schweiz als Diskriminierung massiv kritisiert wurde. 2019 hat die Schweiz den Beitrag sistiert. Als der Schweizer Bundesrat 2021 die Verhandlungen über das Rahmenabkommen einseitig beendete, beschloss das Parlament den Beitrag als Zeichen des guten Willens zu deblockieren.
Verglichen mit den europäischen Transfers ist der Schweizer Kohäsionsbeitrag bescheiden: Er macht nicht einmal ein Prozent aller Mittel aus, die die EU zur Verfügung stellt.
Editiert von Balz Rigendinger
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