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Wie ich den perfekten Arbeitsplatz entdeckte

Jede(r) für sich, aber mit Rücksicht auf die anderen. An Co-working-Arbeitsplätzen sind streitlustige Leute fehl am Platz. ‘Work’N’Share

Fast die Hälfte der Schweizer Arbeitskräfte müsste nicht mehr an einen festen Arbeitsplatz gebunden sein. Diese Entwicklung hat dem sogenannten Co-Working Auftrieb verliehen - es geht um flexible Arbeitsplätze, die sich buchen und temporär nutzen lassen. Ich bin auf den Zug aufgesprungen und gehöre nun auch dazu.

Als indische Journalistin wurde ich mit agilen Kolleginnen und Kollegen und planenden Verlegern in lärmigen Newsräumen geschult. Auch ausserhalb meines Berufslebens gab es wenige stille Büros, die der Besinnlichkeit Rechnung trugen. In Co-Working-Räumen ist dies anders.

Es begann mit einem Buch in Myanmar

Meine Reise in eine solche Gemeinschaft begann vor bald zwei Jahren mitten in einem Karriere-Wechsel. Dem Ereignis war eine andere Soloreise vorausgegangen. Während einer Bootstour auf dem Irrawaddy Fluss in Myanmar vor einigen Jahren hatte ich den Bestseller von Susan Cain gelesen: «Quiet: The Power of Introverts in a World That Can’t Stop Talking» (Die Kraft von Introvertierten in einer Welt, die endlos quatscht).

Cain hinterfragt das neue GruppendenkenExterner Link, welches die Bedeutung der Zusammenarbeit und offener Büros hervorhebt. Ihr Fazit: Was die Leute tatsächlich brauchen, ist ein stiller Ort, um zu denken und zu arbeiten. In einem früheren Interview sagte Cain: «Die Leute, vor allem Introvertierte, möchten sich gerne während längerer Zeit konzentrieren können, indem sie in einen Seelenzustand namens Flow gelangen.» Das Buch sprach mich an.

Als ich «Work’N’shareExterner Link«, einen modernen, mit Licht und sanften Farben gefluteten Raum entdeckte, wusste ich, dass ich mein Refugium gefunden hatte. Früher war es eine Garage und ein Architekturstudio in der Nähe der Ufer des Genfersees in der wunderbaren Stadt Lausanne. In diesem grossen, offenen Büro sind Co-Worker aus verschiedenen Bereichen tätig. Obwohl sich rund 100 Personen eingeschrieben haben, halten sich dort durchschnittlich nur 25 pro Tag auf.

Die Gemeinschaft besteht aus einer speziellen Mischung aus Unternehmern, die Nahrungs- und Bierfirmen auf die Beine stellten, Programmierern, Geeks für Technik, Geisteswissenschaftlern und einigen Marketing-Profis. Ich hatte auch das Vergnügen, mit Wissenschaftlern und Designern in dem Raum zu arbeiten. Im Verlauf der Zeit schloss ich mit ihnen Freundschaften.

Nomaden und Sesshafte

Wenn ich dort bin, sitze ich normalerweise nahe am Fenster, obwohl es keine fixen Plätze hat. Gewiss, man kann ein Büro reservieren, sich entwickeln und «ansässig» werden. Aber man kann auch einfach ein «Nomade» sein und so oft kommen, wie man Lust hat.

Der Ort ist voll von Erwachsenen, die einander gegenseitig Platz einräumen und vertraut sind mit den Regeln eines respektvollen, ruhigen Arbeitens. Streitfreudige Kollegen findet man hier kaum. Die Atmosphäre ist angenehm, vielleicht, weil wir nicht in einem Konkurrenzkampf stehen. Während es den einen zu ruhig ist, wähnen sich andere, die wie ich als Publizisten arbeiten, im Paradies.

Mach› mal Pause

Von Zeit zu Zeit hört man im Kaffee-Raum ein Lachen und viel Französisch (Lausanne befindet sich in der frankophonen Schweiz). Der Arbeitstag wird von kurzen Pausen unterbrochen, während denen Gespräche über Themen aller Art – von Politik bis Venture-Kapital – geführt werden. Einige begeben sich ausser Haus, um die Beine zu vertreten, eine Zigarette zu rauchen oder frische Luft zu schnappen. Das Mittagessen nimmt man gemeinsam ein, oder man macht ein paar Schritte am See entlang. Am Freitag trinken manche ein Feierabend-Bier mit Kollegen.

«Ich liebe das Ambiente hier unter all den Leuten, die sich gewohnt sind, selbständig zu arbeiten», sagt mein Kollege Arthur Veenhuys, der eine Büromöbel-Firma leitet. «Sie schätzen ihre Aufgabe und sind glücklich, arbeiten zu können. Es ist interessant, von Leuten mit so vielen verschiedenen Erfahrungsbereichen umgeben zu sein. Sie helfen mir aus meiner Arbeitswelt heraus zu kommen.“

Ein Modell für die halbe Schweiz

Von Zeit zu Zeit finden Veranstaltungen statt, um gleichgesinnte Berufsleute anderer Co-Working-Räume miteinander in Verbindung zu bringen. «Solche Räume werden zu einem wichtigen urbanen Katalysator mit einem Innovations- und Kreativitätspotential. Die Gemeinschaft entwickelt sich, wenn andere den Raum für solche Veranstaltungen besuchen kommen», erklären meine Arbeitskollegen.

Laut dem Deloitte-Bericht 2016 «The Workplace of the FutureExterner Link» (Der Arbeitsplatz der Zukunft) ist in der Schweiz derzeit jede vierte Person freiberuflich tätig. Von den anderen möchte ein Drittel im nächsten Jahr freiberuflich tätig werden. Deloitte sagt voraus, dass in Zukunft die Hälfte aller Schweizer Angestellten in der Lage sein wird, ihre Arbeit auf mobiler Basis ausführen zu können.

Karl Frank Meinzer, Leiter des Bereichs Real Estate Beratung bei Deloitte Schweiz, sagt swissinfo.ch, dass der globale Trend hin zu Co-Working, der auch die Schweiz betreffe, von drei Kräften angespornt werde. «Der Wandel zu einer service-orientierten, wissensbasierten Wirtschaft und die wachsende Bedeutung der Digitaltechnik führen zu einer immer grösseren Zahl von Personen, die auf mobiler, ortsunabhängiger Basis arbeiten könnten.»

Hinzu komme, so Meinzer, dass die wachsende Sharing Economy (arbeitsteilige, dynamische Wirtschaft) zu einer Zunahme freiberuflich tätiger Personen führe, was die Nachfrage nach Co-Working-Räumen ebenfalls fördere.

Produktiver als der feste Arbeitsplatz

Laut dem Bericht haben die Firmen diesen Trend erkannt. Flexible Arbeitsgestaltung kann Kosten reduzieren, die Nutzung des Raums effizienter machen und die Produktivität der Angestellten erhöhen. Laut Meinzer können die Unternehmen ihre externen Netzwerke erweitern und vom Wissen anderer profitieren, indem sie ihrerseits ebenfalls Co-Working-Räume anbieten.

Der Trend sei in der Schweiz gereift aber noch nicht gesättigt und Co-Working sei längst nicht mehr nur eine Untergrund-Option für Blogger und Programmierer, sagt Jenny Schäpper-Uster, Präsidentin von Co-Working Schweiz. Co-Working ist ein Privileg, sofern man nicht an einen Arbeitgeber gebunden ist, der seine Angestellten jeden Tag am Arbeitsplatz sehen will. Jeder Anhänger des Co-Working wird bestätigen, dass es bei diesen Räumen in erster Linie um die Gemeinschaft geht, die sich darin aufhält, und weniger um den physischen Raum, den diese bewohnt. In diesen Räumen arbeiten die Leute zusammen oder individuell, aber oft nicht für den gleichen Arbeitgeber.

Co-Working oder Hot Desking, wie das Phänomen manchmal auch genannt wird, begann in Berlin Mitte der 1990er-Jahre und nahm danach in San Francisco Gestalt an, bevor es sich auf der ganzen Welt verbreitete. Auch die Schweiz hat zur Verbreitung beigetragen. Innerhalb von zwei Jahren schossen rund 100 Co-Working-Räume – als Alternative zu traditionellen Arbeitsplätzen – wie Pilze aus dem Boden. Genf und Zürich weisen die höchste Dichte auf, aber einen Anstieg neuer Räume gab es laut der Vereinigung Co-Working Switzerland, die rund 80 solcher Gemeinschaften repräsentiert, auch in anderen urbanen Regionen.

Zwischen Freiheit und Disziplin

Zuhause zu arbeiten, ist nicht immer eine gute Alternative, weil es einsam oder ablenkend sein kann. «Wer es einsam findet, vermisst den sozialen Kontakt und die Disziplin am Arbeitsplatz. Es ist auch einfacher, Grenzen zwischen Arbeits- und Freizeit zu setzen», sagt Schäpper-Uster.

«Eine Frau braucht Geld und Raum für sich selber, wenn sie einen Roman schreiben will», schrieb Virginia Woolf 1929 in ihrem Buch «A Room of One’s Own» (Ein Raum für sich selber). Woolf scheint das Bedürfnis früh erkannt zu haben, obwohl es nicht nur für Frauen gilt. Ich glaube, sie hätte sich in einem Co-Working-Raum glücklich geschätzt.

(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)

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