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Giacometti-Institut in Paris will neue Perspektive bieten

Das Giacometti-Institut ist nur auf Voranmeldung über Internet betretbar. Dies ermöglicht einen intimeren Blick auf das Werk des Schweizers. Xavier Bejot, Fondation Giacometti, Paris

Das Giacometti-Institut in Paris, ein Ausstellungs-, Austausch- und Forschungsraum, öffnet am 26. Juni seine Pforten. Ein innovatives Konzept, um sich die Zeit zu nehmen für ein einfühlsames, kreatives Entdecken des Künstlers und eine Erforschung seiner reichhaltigen Epoche.

Das Montparnasse-Quartier der Avantgarde war Alberto Giacomettis Hochburg. Ab 1922 lebte und arbeitete der Schweizer Maler und Bildhauer mehr als 40 Jahre lang hier, flanierte durch die Strassen. Heute wird dort mit einem ihm gewidmeten Institut ein neues Kapitel in der Geschichte des Künstlers aufgeschlagen.

Weder Museum, noch Galerie, soll dieser Ort viele bisher unbekannte Aspekte und nie gezeigte Werke des Künstlers offenbaren, während zugleich unter optimalen Bedingungen die Moderne erforscht wird, die seine reichhaltige Epoche prägte.  

Die vom Architekt Pascal Grasso entworfenen 350 Quadratmeter grossen Räumlichkeiten befinden sich in der Rue Victor Shœlcher 5 im Montparnasse-Quartier. DR

Hier gibt es keine Warteschlangen, man steht nicht dicht gedrängt in überfüllten Räumen. Aufmerksamkeit und Intimität herrschen vor. Das Giacometti-InstitutExterner Link empfängt Besucherinnen und Besucher nur auf Voranmeldung, und sorgt dafür, dass der Andrang (höchstens 40 Personen aufs Mal) den Komfort des Besuchs nicht beeinträchtigt.

Fülle von Skulpturen und Objekten

Wenige Minuten von der Rue Hyppolite Maindron entfernt, wo Giacometti gelebt hatte, in der ehemaligen Villa des Art-Déco-Designers Paul Follot, an der Rue Victor Shœlcher 5, richtete der Architekt Pascal Grasso die 350 Quadratmeter umfassenden Räumlichkeiten ein. Das Institut beherbergt vor dem Vergessen bewahrte Schätze: Das bis ins kleinste Detail rekonstruierte Atelier Giacomettis, ein reiches grafisches Kabinett mit Zeichnungen und Stichen, seine persönliche Bibliothek, sowie drei Räume für temporäre Ausstellungen.

So kann man die Fülle von Skulpturen und Objekten, die Giacomettis Alltag in seinem nur 23 Quadratmeter grossen Refugium bevölkerten, mit einem Blick erfassen.

Neben Giacomettis rudimentären Möbeln, den unzähligen Pinseln, Messern und Alltagsgegenständen entgingen auch die mit Farbe verschmierten Wände seines Ateliers, voll mit Zeichnungen, Notizen und mit Messer in Gips geritzten Skizzen der Zerstörung – dank seiner Witwe. Anfang der 1970er-Jahre hatte Annette Giacometti alles demontieren und verpacken lassen, um die Erinnerung zu bewahren und später – in einer damals fernen Zukunft – Atmosphäre und Energie von Giacomettis Schaffen vermitteln zu können.

Jetzt ist dieser Tag gekommen! Das technische Können dieser getreuen Rekonstruktion ist gepaart mit der Emotion, Zugang zu erhalten zum Allerheiligsten, dem intimen Labor, in dem ein universelles Werk geschaffen wurde; das Refugium eines Einzelgängers, in das die Öffentlichkeit zum ersten Mal Einsicht erhält. Dicht gedrängt stehen da etwa 60 Bronzen und fragile Gips-Skulpturen, fertige und unvollendete, Skulpturen wie Giacometti sie jeden Tag sah, wie diesen «Homme qui marche» (Der gehende Mann) oder die ganz letzten «Têtes» (Köpfe), an denen er 1966 noch gearbeitet hatte, wenige Tage, bevor er diese Welt verliess.

Durchdachte Dynamik

Weit davon entfernt, ein Heiligtum zu errichten, will das Institut dazu anregen, Wissen und Forschung über den Künstler und seine Epoche, seine Freundschaften, seine Fragen und Komplexität zu vertiefen. Das Atelier von Alberto Giacometti, gesehen durch die Augen Jean Genets (die erste Ausstellung, die bis zum 16. September dauert), schildert die freundschaftlichen, poetischen und intellektuellen Beziehungen, welche die beiden Männer verband, und nimmt deren Blick auf Einsamkeit und Gefangensein unter die Lupe, und deren Wunsch, sich von der Welt abzuschotten, um Komplexität, Prägnanz und Frische ihrer Inspiration zu bewahren.

Im Herbst sollen Werke von Annette Messager unterstreichen, wie sehr zeitgenössische Kunstschaffende, auch wenn sie keine Beziehung zu Giacometti eingehen können, sein Werk beobachten und daraus eine zeitlose Moderne schöpfen, die zu allen Zeiten alle anspricht.

Das Atelier des Schweizer Malers und Bildhauers wurde bis ins kleinste Detail rekonstruiert. Marc Domage, Fondation Giacometti, Paris

Man mag überrascht sein, dass solche Absichten nicht die Form eines Museums annahmen. «Die Stiftung Alberto Giacometti ist eine private Einrichtung, die seit 2013 ein umfangreiches Ausstellungsprogramm in der ganzen Welt entwickelt hat, und sich oft (von Schanghai bis Doha) an ein Publikum wendet, das in der Regel wenig oder keinen Zugang zu den Werken des Künstlers hat», erklärte Catherine Grenier, Direktorin des Instituts.

Die Gründung des Instituts in Paris entspreche umgekehrt dem doppelten Bedürfnis, diesen grossen Künstler des 20. Jahrhunderts im besonders reichhaltigen Kontext seiner Zeit zu betrachten, und dieses Wissen an die jüngeren Generationen zu vermitteln. «Dieser Ansatz kompensiert somit effektiv das Fehlen eines Museums, das teurer und weniger flexibel wäre,» sagte Catherine Grenier.

Als Erbin des Werks von Giacometti und dann seiner Witwe besitzt die Stiftung etwa 300 Skulpturen, 88 Gemälde, 2000 Zeichnungen, 1000 Drucke sowie mehr als 2000 Fotos und unzählige Archivdokumente. Der Erwerb des Standorts, in dem sich das Institut befindet, wurde dank der Versteigerung eines Gemäldes (für 8,8 Millionen Euro 2015) möglich, das Joan Miró dem Ehepaar Giacometti 1954 geschenkt hatte. Dank dem Erlös aus der Versteigerung ist die Institution zur Umsetzung ihrer Mission nicht auf Subventionen angewiesen, sondern kann sich selbst finanzieren.

Hin zu einer wissenschaftlichen Gesellschaft neuer Art

Im gleichen Sinn fördert das Institut den Zugang für Amateure und Fachleute zu umfangreichen, bisher unerforschten Archiven, darunter Familienkorrespondenz, Briefe an André Breton oder an Modelle des Künstlers.

Jean Genet und Alberto Giacometti, eine auf Freundschaft und tiefer Bewunderung fussende Beziehung. DR

So wird die Legende in die Ferne gerückt und es entstehen neue Wahrheiten. Aus diesem Grund vergibt die Stiftung auch Stipendien, organisiert die Schule der Moderne – einen Konferenzzyklus und ein Programm mit wissenschaftlichen Publikationen – mit dem Ziel, den Wissensaustausch über die Zeit zwischen 1910 und 1960 zu vertiefen, zu dokumentieren und zu fördern. 

Denn seit einigen Jahren haben Studierende und junge Kunstschaffenden die Tendenz, die moderne Kunst zugunsten der zeitgenössischen zu unterschätzen. Dies führt zu einem Mangel an Fachwissen. Und dieser Entwicklung will das Institut entgegenwirken.

«Auf der anderen Seite», fügt Christian Alandète, der für Ausstellungen und Editionen verantwortlich ist, «kehren viele junge Kunstschaffende heute zu einer klassischen Praxis der Skulptur zurück, in einem Atelier, im direkten Kontakt mit dem Material und lassen die virtuelle Welt, die Entmaterialisierung durch Computerunterstützung, hinter sich». Der Bildungsauftrag des Instituts zielt auch darauf ab, zu verhindern, dass die Kunstschaffenden von heute einen Teil ihrer Wurzeln kappen.

So kann das Giacometti-Institut in seiner kostbaren und diskreten Anlage im XIV. Arrondissement von Paris vielleicht einen neuen Weg im Universum der kulturellen Institutionen eröffnen und in Bezug auf grosse Museen bestätigen, dass sich auch kleine, private Stiftungen gewagte Missionen geben können, die bei den unterschiedlichsten Zielgruppen auf Gehör und Aufmerksamkeit stossen. Grundlegende Arbeit, die aus Neugierde ein Vergnügen, aus Entdeckung einen Nährboden macht. Wir können noch immer von Giacometti lernen.

Bacon und Giacometti in der Fondation Beyeler in Basel​​​​​​​

Es ist eine Gegenüberstellung zweier Superstars. Entgegen allen Erwartungen gibt es bei Bacon und Giacometti einige Gemeinsamkeiten zu erkennen. Eine obsessive Faszination mit dem Körper und der menschlichen Figur, die Härte einer kompromisslosen Darstellung, eine intensive Spannung und ein kraftvolles, dunkles inneres Gefühl sind verbindende Elemente. Beide Künstler kehrten immer wieder zu ihrem Motiv zurück und teilten sich mit Isabel Rawsthorne auch ein Modell, was zu ihrem Treffen in London 1960 führte.

Aber damit scheinen sich die Gemeinsamkeiten ziemlich erschöpft zu haben. Der Ire und der Schweizer segeln nicht im gleichen Wasser. Obschon man keinen wirklichen Dialog zwischen den beiden Künstlern ausmachen kann, bietet die von Catherine Grenier, Ulf Küster und Michael Peppiatt kuratierte Gegenüberstellung der 100 präsentierten Werke in der Fondation BeyelerExterner Link einige packende Raritäten.

Zwei Werke, Giacomettis Homme qui marche II (1960) in Gips, die als Vorlage für seine ikonische Skulptur diente, und Bacons Three Studies of Figures on Beds (1972), ein grosses Triptychon, vermitteln beide den Eindruck von Bewegung, der sie zusammenführt. Ein hypnotischer Schwindel.

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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