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Arbeitslosengeld: EU verärgert Schweiz und Grenzgänger

Arbeitslose Grenzgänger müssen möglicherweise bald die Schweizer Arbeitsämter aufsuchen. Keystone

In Zukunft sollen EU-Grenzgänger Arbeitslosengeld von dem Land erhalten, in dem sie arbeiteten, statt wie bisher von ihrem Wohnsitzland. Diese Ankündigung der EU schlug nicht nur in der Politik wie eine Bombe ein; auch die am stärksten Betroffenen stehen dieser Reform nicht positiv gegenüber.

Jeden Tag kommen gegen 320’000 europäische Grenzgängerinnen und Grenzgänger zur Arbeit in die Schweiz. Verlieren sie heute ihre Stelle, erhalten sie die Arbeitslosenentschädigung von ihrem Wohnsitzland.

Mit der neuen EU-Sozialversicherungs-Regelung wären Grenzgänger, die ihre Stelle in der Schweiz verlieren, in Zukunft auf Hilfe der regionalen Arbeitsvermittlungszentren (RAV) angewiesen, und die Schweiz müsste für ihre Arbeitslosenentschädigung aufkommen.

Die geplante EU-Reform könnte die Schweiz pro Jahr bis zu einer Milliarde Franken kosten. Sie wirft aber auch viele weitere Fragen auf.

+ Wer bezahlt künftig für arbeitslose Grenzgänger?

Um in Kraft zu treten, muss der Entscheid der EU- Arbeits- und Sozialminister noch die Hürde im EU-Parlament nehmen. Die EU-Abgeordneten werden sich mit den EU-Staaten danach auf einen Kompromiss einigen müssen, bevor die Vorlage definitiv verabschiedet werden kann. Der Prozess könnte Jahre dauern, und die aktuelle Version der Vorlage noch erhebliche Veränderungen erfahren.

Das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO)Externer Link argumentiert, die Schweiz wäre nicht verpflichtet, diese Regeln zu übernehmen, da sie nicht direkt Teil des Abkommens über die Personenfreizügigkeit seien. 

«Es ist eine echte politische Bombe. Sollte es in dieser Frage eine Abstimmung geben, kann man sich das Resultat schon jetzt leicht vorstellen.»

Jean-François Besson, GTE

Zudem besteht ein gewisser Handlungsspielraum. So wurde Luxemburg, wo die Grenzgänger 45% aller Arbeitskräfte ausmachen, eine Übergangsfrist von sieben Jahren eingeräumt, um die neuen Regeln umzusetzen.

Tatsache bleibt, dass der Druck der EU-Staaten sicher sehr stark sein wird. Nach Angaben der Tageszeitung Tribune de Genève ist die automatische Übernahme von Regeln im Sozialversicherungswesen ein Teil der Verhandlungen über den Abschluss eines künftigen institutionellen Rahmenabkommens zwischen der Schweiz und der EU, die zur Zeit im Gange sind.

Im aktuellen Kontext scheine es auf jeden Fall wenig wahrscheinlich, dass die Schweiz die neue Regelung in ihrer jetzigen Form übernehmen werde, erklärt Jean-François Besson, Generalsekretär der Vereinigung europäischer GrenzgängerExterner Link (Groupement transfrontalier européen, GTE).

«Es ist eine echte politische Bombe, die Vermischung von drei Themen, die in der Schweiz sehr unpopulär sind, nämlich Europäische Union, Grenzgänger und Arbeitslosenentschädigungen. Sollte es in dieser Frage eine Abstimmung geben, kann man sich das Resultat schon jetzt leicht vorstellen», sorgt sich der Vertreter der grössten Vereinigung, die sich in der Schweiz für die Interessen der französischen Grenzgänger einsetzt.

Derzeit erhalten Grenzgänger die in ihrem Wohnsitzland geltenden Arbeitslosenentschädigungen. Die Arbeitslosengelder werden im Verhältnis zum Lohn berechnet, den sie in der Schweiz erhielten. Gewisse Länder zeigen sich etwas grosszügiger als andere, vor allem im Hinblick auf die maximale Entschädigung.

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In Frankreich ist die Höhe der Arbeitslosenentschädigung (57% bei einem Lohn von mehr als 2154 Euro) zwar deutlich niedriger als in der Schweiz (70 bis 80% des Lohns), aber dafür ist die Bezugsdauer länger (700 statt 400 Tage). Der Höchstbetrag liegt bei 7237 Euro pro Monat.

«Auf den ersten Blick mag das neue System besser erscheinen, weil die Arbeitslosen Ende Monat eine höhere Entschädigung erhalten würden», erklärt Guylaine Riondel-Besson, Leiterin der Rechtsabteilung der GTE.

«Aber», warnt sie, «Achtung vor voreiligen Schlüssen. Die persönliche Situation der Versicherten spielt eine bedeutende Rolle. Eine ältere arbeitslose Person, die längere Zeit keine neue Stelle findet, wäre mit dem aktuellen System besser dran, während eine jüngere arbeitslose Person, die rasch wieder in den Arbeitsmarkt zurückfindet, mit einer Arbeitslosenentschädigung aus der Schweiz besser fahren würde.»

Wer in Italien arbeitslos wird, erhält über einen Zeitraum von maximal 24 Monaten 70% des Lohns. Dabei liegt der Höchstbetrag pro Monat jedoch  bei 1314 Euro. Zum Vergleich: Im Kanton Tessin beträgt der Medianlohn rund 4800 Euro pro Monat. Das neue System dürfte also die Lage der italienischen Grenzgänger erheblich verbessern, da ihr Arbeitslosengeld ihren tatsächlichen Löhnen in der Schweiz besser entsprechen würde.

In Deutschland erhalten arbeitslose Grenzgänger eine Leistung in Höhe von 60% des sozialversicherungspflichtigen Lohns (67%, wenn sie Kinder haben). Die Obergrenze des versicherten Lohns liegt bei 6500 Euro, wenn man in den alten Bundesländern lebt, und bei 5800 Euro im früheren Osten des Landes.

Die Bezugsdauer fällt je nach Alter und Beitragsjahren unterschiedlich aus: Für einen Arbeitslosen, der älter ist als 58 Jahre und mindestens vier Jahre Beiträge in die Arbeitslosenversicherung einbezahlt hat, beträgt sie maximal 24 Monate.

Mit dem neuen System wären arbeitslose deutsche Grenzgänger etwas besser dran, obwohl es auch in diesem Fall erhebliche Unterschiede je nach Alter und Beitragsdauer gäbe.

In sozialen Netzwerken sehen viele Grenzgänger eine gewisse Logik darin, von dem Land Arbeitslosengeld zu erhalten, in dem man gearbeitet und seine Beiträge an die Arbeitslosenversicherung bezahlt hatte. «Die aktuelle Lage ist nicht normal. Es ist nicht die Aufgabe Frankreichs, Arbeiter auszubilden, damit sich der von ihnen geschaffene Reichtum gegen den Staat wendet, der sie während Jahren ernährt hat», erklärte zum Beispiel Nicolas auf der Facebook-Seite von swissinfo.ch.

«Die Schweiz will Vorteile, ohne aber die Risiken zu tragen. Das ‹Cherry Picking› (Rosinenpickerei) muss ein Ende haben!», fügte Ivan hinzu, in einer Anspielung auf Aussagen von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron am letzten Weltwirtschaftsforum in Davos im Februar 2018.

Jean-Luc Johaneck, Präsident der Vereinigung Comité de défense des travailleurs frontaliers (CDTF), stuft die Reform als «sehr schlecht» ein. swissinfo.ch

Bei den Vereinigungen, die sich für die Interessen der Grenzgänger einsetzen, ist der Ton hingegen viel vorsichtiger. «Was wird geschehen, wenn ein Grenzgänger krank wird? Oder wenn sein Anspruch auf Arbeitslosengeld ausläuft?

Wird er beim RAV die gleiche Unterstützung erhalten wie einheimische Arbeitslose? Solange diese wesentlichen Fragen nicht geklärt sind, wird es schwierig sein, zu entscheiden, ob diese neue Direktive etwas Gutes ist oder nicht», erklärt Jean-François Besson.

Jean-Luc Johaneck, Präsident der Vereinigung Comité de défense des travailleurs frontaliers (CDTF)Externer Link, die sich für die Interessen von rund 20’000 Elsässer Grenzgängern einsetzt, die in der Schweiz arbeiten, zögert seinerseits nicht, die Reform als «sehr schlecht» einzustufen.

«Die Wohnsitzländer der Grenzgänger konzentrieren sich ausschliesslich auf den finanziellen Aspekt und nicht auf die Wiedereingliederung der Arbeitslosen», erklärt er. Wenn man so handle, werde diesen Menschen nicht besser geholfen, und mittelfristig werde das Wohnsitzland daraus auch keinen Gewinn ziehen können.

Sowohl Jean-Luc Johaneck als auch Jean-François Besson sind der Ansicht, dass es besser wäre, zum System zurückzukehren, das vor 2009 und dem Inkrafttreten der bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der EU bestand. Damals hatte die Schweiz 80% der Beiträge, welche für die Arbeitslosenversicherung der Grenzgänger erhoben wurden, an Frankreich weitergeleitet.

«Das aktuelle System ist nicht zufriedenstellend, da die Schweiz nur einen kleinen Teil (drei bis fünf Monate) der Versicherungsbeiträge an die Nachbarstaaten überweist, was für diese von grossem Nachteil ist», unterstreicht Jean-François Besson. So gab Frankreich 2015 fast 610 Millionen Franken für seine arbeitslosen Grenzgänger aus, während die Schweiz nur gerade 138 Millionen Franken Kompensationsgelder an Frankreich überwiesen hatte.

+ Frankreich leidet unter Schweizer Arbeitslosigkeit

 «Diese Direktive ist ein Geschenk des Himmels für die Populisten», wettert Jean-François Besson. Die Schweizerische Volkspartei (SVP, rechtskonservativ) ist nach dem Entscheid der EU-Minister rasch auf die Barrikaden gestiegen.

«Es gibt denen, welche die Verhandlungen mit Brüssel torpedieren wollen, Munition.»

Laurent Wehrli, FDP

Ende Juni wies sie ihre kantonalen Fraktionen an, Initiativen zu lancieren, die verlangen, dass die Schweiz keine Arbeitslosengelder an Grenzgänger ausrichten wird.

Es ist sehr wahrscheinlich, dass sich die Lega dei Ticinesi und die Genfer Partei Mouvement citoyens genevois (MCG), zwei populistische Parteien, die ihre Wahlerfolge durch Stimmungsmache gegen Grenzgänger erzielten, dem Aufbegehren anschliessen werden.

Bei den anderen Parteien wird die neue Direktive als bedeutender Stolperstein in den ohnehin schon komplizierten Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU eingeschätzt. «Es gibt denen, welche die Verhandlungen mit Brüssel torpedieren wollen, Munition», sagte der freisinnige (FDP.Die Liberalen, rechtsliberal) Abgeordnete Laurent Wehrli gegenüber derTribune de Genève.

Und Gerhard Pfister, der Präsident der Christlich-demokratischen Volkspartei (CVP, Mitte/rechts) erklärte: «Die Europäische Union hätte es nicht besser machen können, um die Chancen für ein Rahmenabkommen zu ruinieren.»

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

Wer soll für die arbeitslosen Grenzgänger bezahlen? Ihre Meinung interessiert uns!

Sie können den Autor des Artikels auf Twitter kontaktieren: @samueljabergExterner Link

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