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Italienische Grenzgänger auf den Barrikaden

Der Grenzgängerverkehr zu Stosszeiten führt regelmässig zu Staus auf den Strassen zwischen Italien und der Schweiz. Keystone

Der Ständerat hat das neue Doppelbesteuerungsabkommen mit Italien ratifiziert, in einem zweiten Schritt wird das separate Grenzgängerabkommen mit Italien folgen, das noch zu heftigen Diskussionen Anlass gibt. Italienische Grenzgänger und italienische Grenzgemeinden laufen gegen das neue Abkommen zwischen Rom und Bern Sturm. Auch im Tessin gefällt es nicht.

Die Schweiz und Italien haben am 23. Februar 2015 ein Protokoll zur Änderung des Abkommens zur Vermeidung der Doppelbesteuerung sowie eine Roadmap im Steuer- und Finanzbereich unterzeichnet. Das Änderungsprotokoll zum Doppelbesteuerungsabkommen (DBA) sieht den Austausch von Informationen gemäss Artikel 26 des OECD-Musterabkommens vor.

Vereinfacht gesagt wird so der Informationsaustausch auf Anfrage zu Bankkundendaten eingeführt. Die erfolgte Unterzeichnung des Änderungsprotokolls vereinfachte bereits die Regularisierung italienischer Kunden von schweizerischen Banken im Rahmen des italienischen Selbstanzeigeprogramms im Jahr 2015 (Volontary Disclosure).

Höhere Sanktionen bei Verstössen

Der Nationalrat hat am 1. März den Vorschlag des Bundesrats (Regierung) mit 125 Ja- und 65-Nein-Stimmen klar angenommen, die Obergrenze der Verwaltungssanktionen im so genannten Entsendegesetz bei Verstössen gegen die minimalen Lohn-und Arbeitsbedingungen von 5000 Franken auf 30’000 Franken zu erhöhen.

Das Gesetz betrifft entsandte Arbeitskräfte, die aus EU-Ländern in die Schweiz kommen. Gemäss Freizügigkeitsabkommen können diese in der Schweiz eine bestimmte Anzahl von Tagen arbeiten, müssen aber nach Schweizer Rahmenbedingungen bezahlt werden.

Das war in der Vergangenheit nicht immer der Fall. Lohndumping wurde regelmässig festgestellt, wodurch einheimische Firmen einen Wettbewerbsnachteil haben. Daher war der Druck gross, die so genannten flankierenden Massnahmen zu verschärfen.

Nach Meinung der Mehrheit des Nationalrats hatte die geltende Obergrenze von 5000 Franken eine zu wenig abschreckende Wirkung auf die Arbeitgeber. «Es geht nicht darum, mehr Bussen auszusprechen, sondern eine wirkliche Abschreckung zu erzielen», verteidigte Corrado Pardini (SP) als Kommissionsprecher die Vorlage.Während der Nationalrat der Änderung des DBA im Dezember zugestimmt hat, hat der Ständerat die BotschaftExterner Link am 1.März im Rahmen der Frühjahrssession oppositionslos mit 42 Ja-Stimmen durchgewunken. Wesentlich umstrittener als dieses Änderungsprotokoll des DBA ist das Grenzgängerabkommen zwischen der Schweiz und Italien, auf das man sich vor einem Jahr in einer so genannten Roadmap geeinigt hat.

Splitting statt Rückerstattung

Nach äusserst schwierigen und komplizierten Verhandlungen, wie das Staatssekretariat für internationale Finanzfragen (SIF) betont, unterzeichneten die Verhandlungsdelegationen der Schweiz und Italien im Dezember 2015 das neue GrenzgängerabkommenExterner Link, welches das bestehende aus dem Jahr 1974 ablösen soll.

Insbesondere der Kanton Tessin hatte Druck gemacht, das Regelwerk zu ändern, da es als unvorteilhaft für die Schweizer Seite erachtet wird. Bisher werden die Quellensteuern auf das gesamte Einkommen von italienischen Grenzgängern in der Schweiz – in den Kantonen Tessin, Wallis und Graubünden – eingezogen. Danach werden 38,8 Prozent dieser Steuern an den italienischen Staat beziehungsweise die Wohngemeinden der Grenzgänger in Italien zurückerstattet.

Gemäss dem neuen Grenzgängerabkommen unterliegen neu 70 Prozent des Lohntotals der Quellensteuer in der Schweiz, während 30 Prozent in Italien veranlagt werden. Dabei soll dieser Lohnanteil schrittweise zu den in Italien üblichen Steuersätzen veranlagt werden. Die Schweiz wird nach Inkrafttreten des Abkommens keine Steuererträge von Grenzgängern mehr nach Italien überweisen. 

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Protest von Grenzgängern

Dieses Splitting-Verfahren bedeutet unter dem Strich eine Erhöhung der Steuern für die Grenzgänger, denn die Einkommenssteuern liegen in Italien deutlich höher als in der Schweiz. Entsprechend sind die betroffenen Grenzgänger empört. In mehreren Versammlungen haben sie ihren Unmut kundgetan.

Aber auch die Grenzgemeinden, die heute gemäss einem Schlüssel direkt von den aus der Schweiz überwiesenen Quellensteuern profitieren, sind in Alarmstimmung. Denn sie befürchten, dass die Steuern der Grenzgänger in den Töpfen Roms verschwinden.

«Heute vertraue ich blind auf das, was ich von Bern erhalte, während ich überhaupt nicht darauf vertraue, was Rom uns in Zukunft geben wird», sagte Omar Iacomelli, Gemeindepräsident des Grenzortes Piuro in der Provinz Sondrio, nach einem Treffen Anfang Februar in Mailand am Sitz der Region Lombardei.

Just der Präsident der Region Lombardei, Roberto Maroni, ein Vertreter der Regionalbewegung Lega-Nord, hat erklärt, sich zum Fürsprecher der Grenzgemeinden machen zu wollen. Er selbst sei mit dem Abkommen überhaupt nicht zufrieden. Die Region Lombardei sei nicht in die Verhandlungen miteinbezogen worden.

Momentan steckt das Dossier auf italienischer Seite im Senat von Rom fest, unter anderem weil der in Neuenburg (Schweiz) ansässige Senator und Auslanditaliener Claudio Micheloni auf die Klärung wichtiger Fragen drängt, die unter anderem Vermögensfragen von Auslandsitalienern betreffen.

Unmut auch im Tessin

Keinen Begeisterungssturm löst das Grenzgängerabkommen auch im Kanton Tessin aus, der sich viel von einer Neuaushandlung des bilateralen Vertrags versprochen hatte. Nun wird der Ertrag aus den Quellensteuern der Grenzgänger nur leicht ansteigen. Von «Brosamen» ist die Rede. Dabei sind zirka 62‘500 Grenzgängerinnen und Grenzgänger aus Italien im Tessin tätig.

Marco Bernasconi, Professor für Steuerrecht an der Fachhochschule der italienischen Schweiz (Supsi), hat vorgerechnet, dass das Tessin bisher 150 Millionen Franken an Steuern von den Grenzgängern jährlich einkassierte, von denen 60 Millionen nach Italien gingen. 90 Millionen blieben dem Kanton. Mit dem neuen Modell würden die Einnahmen auf 105 Millionen Franken ansteigen (+ 15 Millionen). Dieser Betrag wiederum würde zwischen Kanton (6 Mio.), Gemeinden (5 Mio.) und Bund (4 Mio.) aufgeteilt.

Die Tessiner Kantonsregierung hat bisher nur von der Paraphierung des Vertrags Kenntnis genommen. Sie prüft das Dossier. Eine offizielle Stellungnahme ist bis heute nicht erfolgt. «Wir werden uns im März noch mit Bundesrat und Finanzminister Ueli Maurer treffen», sagt der Tessiner Finanz- und Wirtschaftsdirektor Christian Vitta (FDP) gegenüber swissinfo.ch.

Einseitige Erklärung Italiens

Das Grenzgängerabkommen ist also noch lange nicht in Kraft. Es braucht die Ratifizierung durch die Regierungen und Parlamente beider Länder. Zudem hat Italien zusätzlich eine einseitige Erklärung abgegeben, welche de facto die Bedingungen für eine Annahme des neuen Steuerabkommen diktiert.

Dort heisst es, dass die Unterschrift und das Ratifizierungsverfahren für dieses Grenzgängerabkommen jeder Form von Diskriminierung sowie einer «euro-kompatiblen» Umsetzung der vom Volk am 9. Februar 2014 angenommenen Masseneinwanderungsinitiative untergeordnet seien.

Damit könnten auch umstrittene Massnahmen des Kantons Tessin gemeint sein. Italien hatte mehrfach klar gemacht, dass es in dem vom Kanton Tessin verlangten Strafregisterauszug bei Beantragung einer Grenzgängerbewilligung eine Diskriminierung sieht, genauso wie in dem vom Grossen Rat festgelegten Quellensteuerfuss von 100 Prozent für Grenzgänger statt eines kantonalen Durchschnittswerts. 

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