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Wie Russland neutrale Staaten in Europa näher an die Nato drängt

Eine gesperrte Strasse
© Keystone - Ats / Ti-press

Die Schweiz will enger mit der Nato kooperieren. Auch andere neutrale Länder suchen die Annäherung an das Bündnis. Der alte Kontinent konsolidiert seine Sicherheitspolitik – eine Übersicht.

Wird die Schweiz der Nato beitreten? Dieses Szenario scheint noch immer weit entfernt. Eine Annäherung an das Militärbündnis wird aber seit einem Jahr breit diskutiert und findet Unterstützung in fast allen politischen Lagern. Die aktuelle Frage ist: Wie nah soll es sein?

Die Schweiz ist nicht das einzige neutrale Land in Europa, das sich diese Fragen stellt. Der russische Einmarsch in die Ukraine hat die europäische Sicherheitsarchitektur nachhaltig beschädigt, das Verteidigungsbündnis Nato schliesst – nach Jahren der Orientierungslosigkeit – die Reihen. Die verbliebenen neutralen und bündnisfreien Staaten in Europa suchen nun ihre Position im Konflikt – und die meisten von ihnen rücken auf die eine oder andere Weise näher an die Nato.

Schweden und Finnland: Der radikale Bruch mit der Vergangenheit

Das Camp der schweizerischen und schwedischen Delegation in Panmunjom
Die Schweiz und Schweden werden gerne vertauscht, nicht zuletzt wegen der Neutralität. Nach zwei Jahrhunderten hat Schweden diese 2022 aufgegeben. Keystone / Str

Den radikalsten Schritt vollziehen die beiden nordischen Staaten Schweden und Finnland, die sich für einen Beitritt zur Nato entschieden haben.

Finnland wurde 2023 als 31. Staat in die Nato aufgenommen. Als neutral bezeichnete sich das Land schon seit dem EU-Beitritt 1995 nicht mehr, aber als bündnisfrei. Wobei dieser Zustand immer mehr als ein notwendiges Zugeständnis an einen übermächtigen Nachbar gesehen wurde, denn als eine ethische Entscheidung.

Vielmehr war es Realpolitik, um die eigene Souveränität gegenüber der Sowjetunion zu erhalten. Diese sogenannte “Finnlandisierung” wurde nach dem Ende des Kalten Krieges kontinuierlich abgebaut.

Schweden hat etwas mehr als zwei Monate nach dem grossflächigen Angriff auf die Ukraine ebenfalls einen Beitritt beschlossen – ein Bruch mit der traditionellen Neutralität, die das Land seit zwei Jahrhunderten pflegte. So schnell ging die Aufnahme aber nicht: Die Türkei und Ungarn stellten Forderungen und blockierten den Aufnahmeprozess, beide versuchen sich damit politischen Einfluss zu erkaufen. Es wird erwartet, dass im Laufe der nächsten Monate Schweden als 32. Land in die Nato aufgenommen wird.

Die Aufnahme der beiden Staaten ist für das Bündnis nicht nur symbolisch wichtig, sondern auch militärisch: Finnland hat eine hochausgerüstete Armee und eine 1340 Kilometer lange Grenze zu Russland, Schweden eine starke Rüstungsindustrie.

Moldau und Serbien: Alte Beziehungen halten lange an

Ein Mann vor einem Poster, auf welchem ein Hakenkreuz und ein Nato-Schriftbanner durchgestrichen sind
An einer Demonstration in Serbien in Zusammenhang mit dem Kosovo – die Erinnerungen an Nato-Bombardements im Zuge des Kosovokrieges sind im Land noch frisch. Copyright 2023 The Associated Press. All Rights Reserved

Moldau hat 1994 die Klausel der “permanenten Neutralität” in ihre Verfassung aufgenommen. Dies war zu einem Teil auf innenpolitische Gründe zurückzuführen: Der multiethnische Staat, von dem sich mit Transnistrien zudem ein Teil abspaltete, suchte durch die Blockfreiheit eine gesellschaftliche Balance zu erreichen, die von allen Bevölkerungsteilen akzeptiert würde.

Bis heute unterstützt laut Umfragen eine Mehrheit der Bevölkerung diese Neutralität. Erste kontroverse Diskussionen darüber fanden nach der russischen Annexion der Krim 2014 statt, seit dem russischen Überfall 2022 auf die gesamte Ukraine sind sie intensiviert worden. Dabei steht der Beitritt zur EU im Zentrum, in die Nato will man explizit nicht.

Serbien deklarierte sich 2007 als militärisch neutraler Staat, was auch von der Nato anerkannt wurde, gegen die sich diese Deklaration richtete. Wie Moldau hat auch Serbien die Sanktionen gegen Russland nicht übernommen und laviert politisch zwischen West und Ost – in Tradition der Blockfreien, die das ehemalige Jugoslawien als Staatsdoktrin hatte.

Malta, Irland, Zypern: Drei Inseln, drei unterschiedliche Konzepte

Ein Poster mit dem Spruch remember Cyprus
Touristen gehen entlang der Demarkationslinie in Nikosia, Zypern. Die Besetzung des nördlichen Teils der Insel lässt einen Beitritt in die Nato nicht zu. Copyright 2023 The Associated Press. All Rights Reserved

Der Kleinstaat Malta hat die Neutralität seit 1987 in seiner Verfassung stehen. Dies war ein spätes Resultat der Dekolonisierung – die frühere britische Kolonie sah sich als Teil der Blockfreien-Bewegung, die im Kalten Krieg auf Distanz zu den USA und der Sowjetunion gingen. Heute ist die Neutralität unbestritten, das Land macht als einziges EU-Mitglied nicht einmal bei Pesco mit, den gemeinsamen europäischen Verteidigungsprojekten.

Auch Irland war eine britische Kolonie, deren Neutralität im Anglo-Irischen Vertrag festgehalten wurde, der die irische Unabhängigkeit besiegelte. Anders als andere neutrale Länder in Europa verfügt Irland über minimale Verteidigungskapazitäten und legt seine “militärische Neutralität” weniger strikt aus.

Allerdings wird diese in letzter Zeit kontrovers diskutiert: Cyber-Attacken auf das Gesundheitssystem durch russische Hacker 2021 (mitten in der Pandemie) haben die geographische Isolation des Landes relativiert. Und entlang seiner atlantischen Küste verlaufen Untersee-Kabel, die für globale Kommunikation essenziell sind. Irland hat deshalb eine öffentliche Konsultation eingeleitet, um über die Zukunft der irischen Neutralität zu diskutieren – eine Annäherung an die Nato gilt dabei durchaus als Option.

Anders sieht es bei der Republik Zypern aus, deren Neutralität nicht international anerkannt ist. Das Land hat traditionell enge Beziehungen zu Russland: Die Sowjetunion galt als wichtiger militärischer Partner seit der Invasion des Nato-Staates Türkei 1974. Heute ist das Land weitgehend auf westlicher Linie, was den Krieg in der Ukraine angeht. Eine Aufnahme in die Nato ist aber unmöglich, da der Territorialkonflikt weiterhin ungelöst bleibt und die Türkei – die das Land nicht anerkennt – sofort ein Veto einlegen würde.

Österreich: Militärisch neutral, politisch klar im Westen

An einer Medienkonferenz in Bern
Die Verteidigungsminister:innen von Österreich (Klaudia Tanner), der Schweiz (Viola Amherd) und Deutschland (Boris Pistorius) kündigten am 7. Juli 2023 an, dass die drei Staaten an der Beschaffungsinitiative “European Sky Shields Initiative” teilnehmen werden. © Keystone / Alessandro Della Valle

Kritische Stimmen innerhalb des Landes sagen, Österreich sei ein “Trittbrettfahrer der Nato” – den gleichen Vorwurf hört man auch in der Schweiz. Auch eine weitere wichtige Gemeinsamkeit gibt es: Die Neutralität als identitätsstiftendes Element. Anders als in der Schweiz ist die Neutralität jedoch in der Verfassung verankert. Dies resultierte aus den Verhandlungen zum Abzug der Besatzungstruppen nach dem Zweiten Weltkrieg: Die Sowjets verlangten die “immerwährende Neutralität” des Landes, die Alliierten stimmten einer möglichen bewaffneten Neutralität nach Schweizer Vorbild zu.

Eine komplette Aufgabe der Neutralität und ein Beitritt zur Nato finden auch in Österreich wenig Unterstützung. Aber das Land nimmt – wie die Schweiz – an der Partnerschaft für den Frieden (PfP) und am Euro-Atlantischen Partnerschaftsrat (EAPC) teil. Diese erlauben eine Zusammenarbeit mit der Nato, jedes teilnehmende Land kann das Ausmass selbst bestimmen. Gemeinsam mit der Schweiz will nun Österreich am europäischen Luftverteidigungssystem Sky Shield teilnehmen – sie wären damit die einzigen zwei nicht-Nato-Staaten im Verbund.

Schweiz: Was bedeutet Neutralität heute?

Undatierte Aufnahme zwischen 1914 und 1918
Ein Schweizer Soldat im Ersten Weltkrieg an der Grenze zu Österreich auf der Dreiländerspitze der Silvretta im Kanton Graubünden. Keystone / Str

In der Schweiz ist nicht nur die Neutralität immerwährend – sondern auch die Diskussion darüber. Seit dem Beginn der Invasion wird diskutiert, wie sich die Schweiz im Krieg positionieren will: Die Sanktionen gegen Russland hat sie übernommen, schickt humanitäre Hilfe in die Ukraine und ist generell auf westlichem Kurs. Die finanzielle Hilfe für die Ukraine ist jedoch vergleichsweise tief, wie auch bei den anderen neutralen Staaten – es sind vor allem die Nato-Mitglieder, die neben militärischer Unterstützung auch Geld zur Verfügung stellen.

Dass die Schweiz europäischen Ländern die Wiederausfuhr von schweizerischem Rüstungsmaterial untersagt hat, hat für Verstimmung gesorgt. Das Land verstecke sich hinter seiner Neutralität und profitiere weiterhin von wirtschaftlichen Verstrickungen, indem es nicht energisch genug gegen russische Oligarchen vorgehe, so eine häufige Kritik.

Der Vorwurf des Opportunismus ist jedoch nicht neu und auch nicht auf die Schweiz begrenzt – die neutralen Staaten mit klar westlicher Ausrichtung profitierten vom Nato-Schutzschild, ohne dafür etwas tun zu müssen.

Geht es nach dem Schweizer Verteidigungsdepartement, soll die Kooperationsfähigkeit der Schweizer Streitkräfte – im Fachjargon Interoperabilität genannt – deutlich gestärkt werden. Der russische Angriff auf die Ukraine hat in Sicherheitskreisen eine militärische Anbindung an die Nato dringlicher gemacht. Bei der Allianz ist man sich der neuen Situation bewusst und lässt sich die neu gewonnene Attraktivität etwas kosten.

Die Nato, die Schweiz und die Atombombe:

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Wie das angekündigte Luftverteidigungssystem zeigt, konsolidiert sich die Verteidigungspolitik auf dem Kontinent: EU, Nato und Neutrale kooperieren auf unterschiedlichen Ebenen immer enger. Um den Skeptiker:innen den Wind aus den Segeln zu nehmen wird betont, dass eine Beistandspflicht in solchen Konstellationen nicht vorgesehen ist.

Aus russischer Sicht ist das aber ohnehin eine sekundäre Frage: Moskau sieht die Schweiz aufgrund der übernommenen Sanktionen als nicht mehr neutral an und hat sie als einen “unfreundlichen Staat” eingestuft.

Aus dem Archiv: #SRFglobal vom 5.5.2022

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Editiert von Marc Leutenegger

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