«Nicht die Reeder, sondern die kleinen Fische sind schuld»
Harris Dellas, liberaler Wirtschaftsprofessor in Bern, geht mit Griechenland und seinen Landsleuten hart ins Gericht. Schuld an der Krise seien Korruption, Nepotismus und die Mentalität. Ein "Grexit" wäre für das Land ein Desaster, für die Eurozone eine Erleichterung, sagt der griechisch-amerikanische Doppelbürger.
Nach der Einigung um eine Verlängerung der Finanzhilfen um vier Monate hat die griechische Regierung ihren Euro-Partnern ein umfangreiches Reformpaket vorgelegt, in dem sie eine weitere Stabilisierung des Staatshaushaltes verspricht. So will sie unter anderem Steuerflucht und Korruption härter bekämpfen.
swissinfo.ch: Ist die Regierung von Alexis Tsipras damit auf dem richtigen Weg?
Harris DellasExterner Link: Alle mir bekannten griechischen Regierungen wollten jeweils hart gegen Korruption und Steuerbetrug vorgehen. Geschehen ist aber nichts. Natürlich müssen diese Probleme angepackt werden. Wieso aber sollte man der Tsipras-Regierung Glauben schenken? Wieso sollte es ihr gelingen? Hat sie mehr Know-how oder einen grösseren Willen?
Harris Dellas, Jahrgang 1958, ist seit 1998 Professor für Volkswirtschafts-Lehre an der Universität Bern mit Spezialgebiet Makroökonomie. Er ist griechisch-amerikanischer Doppelbürger.
Hauptverantwortlich für Steuerbetrug sind nicht etwa die Reeder und Oligarchen, wie man immer wieder hört, sondern die Kleinbetriebe und Selbständig-Erwerbenden wie Spengler, Elektriker, Ladenbesitzer, Ärzte, Anwälte usw. Und von diesen kleinen Fischen gibt es Millionen, wie man an sie rankommt, ist mir ein Rätsel. Dem Staat entgehen so Steuerbeträge in Milliardenhöhe. Die meisten dieser Leute wählten übrigens Syriza, in der Annahme, dass diese die Steuern nicht erhöhen würde.
swissinfo.ch: Seit Ende Januar hat Griechenland eine neue Regierung. Sind Alexis Tsipras und seine Leute auch korrupt?
H.D.: Sie sind in dem Sinne korrupt, als dass sie von den korruptesten Leuten Griechenlands gewählt wurden, nämlich den Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes. 50 Prozent der Staatsangestellten haben Tsipras gewählt. Er wird das Risiko kaum eingehen, seine Wählerschaft zu erzürnen. Der Grossteil der Leute, die Syriza wählten, taten dies, weil sie ihre Privilegien nicht verlieren wollen.
swissinfo.ch: Der Kampf gegen Korruption, Vetternwirtschaft und Steuerbetrug ist das eine. Was aber braucht Griechenland sonst noch, um aus seiner Misere herauszukommen?
H.D.: Ein weiteres Phänomen ist die enorme Zahl Selbständig-Erwerbender in Griechenland. Dies ist ein Problem. Denn in entwickelten Ländern wie Deutschland oder der Schweiz wird der Grossteil der wirtschaftliche Aktivitäten von grossen Unternehmen getätigt, die leicht zu kontrollieren sind.
Wäre ich verantwortlich, dann würde ich die Steuererhebungen an McKinsey oder die amerikanische oder deutsche Steuerbehörde auslagern, mit dem Auftrag, 20 Milliarden Euro einzutreiben. Auf die griechische Steuerbehörde kann man sich nicht verlassen: Die Beamten sind korrupt, inkompetent und politisch motiviert.
swissinfo.ch: Als weiterer Grund für die «griechische Tragödie» wird immer wieder die Mentalität genannt…
Krise in Griechenland
Das hoch verschuldete Griechenland kann mit weiteren Milliardenhilfen der europäischen Partner rechnen. Deutschland und die anderen Geldgeber stimmten am Dienstag nach Prüfung der von Griechenland vorgelegten Reformvorschläge einer Verlängerung des Hilfsprogrammes bis Ende Juni grundsätzlich zu, wie die EU-Kommission mitteilte.
Zu den von der Regierung Tsipras geplanten Reformen gehören Massnahmen zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung und der Korruption, aber auch zur Entlastung der notleidenden Griechen. Ausserdem soll die Steuer- und Zollverwaltung modernisiert werden. Bereits abgeschlossene Privatisierungen will die Regierung in Athen nicht zurückdrehen. Auch das Rentensystem soll weiter reformiert werden.
Bisher wurde das hoch verschuldete Griechenland mit rund 240 Milliarden Euro an Hilfskrediten vor der Pleite bewahrt.
H.D.: Das Problem ist, dass jeder und jede den Staat als Feind betrachtet und kein Vertrauen in ihn hat, teils mit guten Gründen. Die Griechen sind realitätsfremd und leben in den Wolken. Zudem machen sie immer andere für ihre Misere und für fehlende Fortschritte verantwortlich. Die griechische Mentalität ist anatolisch geprägt, das war schon immer so. Die Griechen wollen keine Verantwortung übernehmen und handeln egoistisch: Sie tun alles, um zu profitieren, auch wenn halb Griechenland dabei bachab geht.
swissinfo.ch: In Ihren Augen ist also die griechische Bevölkerung für die Misere verantwortlich, nicht Deutschland, nicht die EU…
H.D.: Ganz klar. Die Regierung fiel nicht vom Himmel, sie wurde gewählt. Es gab immer wieder Parteien, die Alternativen boten und das Land modernisieren wollten. Die Griechen sollten endlich realisieren, wie schlimm die Lage ist und dafür Verantwortung übernehmen. Das Schlimmste ist, dass in den letzten drei Jahren die besten Köpfe das Land verlassen haben.
swissinfo.ch: Seit der Einführung des Rettungsprogramms haben Armut und Arbeitslosigkeit zugenommen. Alexis Tsipras hat versprochen, den Leuten Hoffnung und Würde zurückzugeben und das Land aus der Krise zu führen – aber nicht auf dem Buckel der armen Leute. Ist es also nicht nachvollziehbar, dass sich die Bevölkerung für einen Wechsel entschieden hat?
H.D.: Was bringt es dem Land, wenn die Leute stolz und hoffnungsvoll sind? Bringt das Arbeitsplätze, Investitionen? Sollte Würde nicht in Zusammenhang mit gutem Lebensstandard stehen? Man muss verstehen, wieso es mit Griechenland so schlimm steht und viele Menschen leiden. Der Lebensstandard in Griechenland ist tief, weil die Produktivität tief ist. Wie will Tsipras den armen Leuten ein Einkommen ermöglichen? Dies geht nur mit Investitionen und der Schaffung von Arbeitsplätzen. Er tut aber das Gegenteil und vertreibt Investoren, durch politische Unsicherheit und Kritik am Privatsektor.
swissinfo.ch: Auch unter Ex-Premier Samaras wurden kaum Arbeitsplätze geschaffen…
H.D.: Das stimmt, auch Samaras ist ein Populist. Der Unterschied zwischen ihm und Tsipras ist gering. Bei den Parteien in Griechenland geht es nicht um links oder rechts, sondern darum, ob sie an moderne Gesellschaften und Ökonomien glauben oder populistisch und im Mittelalter steckengeblieben sind. Leider gibt es nur wenige Leute mit einer modernen europäischen Einstellung. Die meisten von ihnen haben die links-liberale Partei To Potami gewählt. Wäre diese am Ruder, gäbe es Hoffnung im Land.
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Spuren der Krise
swissinfo.ch: Der in Genf wohnhafte griechische Software-Unternehmer George Koukis sagte vor kurzem am deutschen Fernsehen, er würde nie in Griechenland investieren, die Bürokratie sei erdrückend: Was in Genf 5 Minuten daure, nehme in Griechenland mindestens einen Monat in Anspruch. Übertrieben?
H.D.: Nein, das sehe ich auch so. Die bestehenden Bedingungen halten Investoren ab. Geschäftsleute werden wie Kriminelle behandelt. Nicht nur um ein Unternehmen zu starten, sondern auch, um es zu betreiben, braucht es einen langen Atem. Man weiss nicht, was für Steuern auf einen zukommen. Es gibt erfolgreiche griechische Businessleute im Ausland, die investieren würden, wenn das Umfeld günstiger wäre. Aber will man bauen, kommt der archäologische Dienst und untersucht, ob es da allenfalls einen alten Stein gibt. Aber in Griechenland wimmelt es von alten Steinen…
swissinfo.ch: Wenn man ihnen zuhört, scheint ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone nicht ausgeschlossen. Was würde ein «Grexit» bedeuten?
H.D.: Für Griechenland wäre es ein Desaster, für die EU eine Erleichterung. Vor allem Deutschland hat genug von den Griechen. Meiner Ansicht nach haben Frankreich, Spanien und Italien gegen einen Schuldenschnitt für Griechenland gestimmt, damit Deutschland die Eurozone nicht verlässt, denn das Land ist für die anderen EU-Staaten überlebenswichtig.
Für Griechenland aber wäre ein Austritt ein Desaster. Es würde Geld drucken, wie das auch schon geschehen ist, die Inflation würde auf 200% steigen, die armen Leute würden noch ärmer, es gäbe noch weniger Investitionen und keine Reformen, Griechenland würde kollabieren. Ein «failed state», ein gescheiterter Staat.
Appell an Bundesrat
Die Gewerkschaft Unia fordert von der Schweizer Regierung, dass er Griechenland bei der Bewältigung der Schuldenkrise unterstützt. Konkret solle Transparenz über die griechischen Gelder auf Schweizer Konten geschaffen werden, heisst es in einem offenen Brief an Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf.
Steuerflucht sei ein wesentlicher Grund, dass die Schulden in Griechenland so hoch seien, schreibt die Unia. Bei den griechischen Konten der britischen Grossbank HSBC in Genf verlangt sie, dass der Bundesrat Amtshilfe leistet. Zudem soll er mit Griechenland möglichst rasch einen automatischen Informationsaustausch (AIA) in Steuerfragen etablieren.
Der Bund zeigte sich in einer Reaktion offen, mit Griechenland Lösungen zu finden. Mehrere konkrete Vorschläge für eine Regularisierung unversteuerter Gelder und künftigem Übergang zum AIA seien aber von der griechischen Regierung unbeantwortet geblieben, schreibt das Staatssekretariat für internationale Finanzfragen (SIF).
(Quelle: sda)
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