Nicole Anliker: «Korrespondentin sein heisst eine Leidenschaft zu teilen»
In der Schweiz verfügen nur noch wenige Medien über ein eigenes Korrespondentennetz im Ausland. Wer sind diese Menschen, die sich entscheiden, im Ausland zu leben, um ihren Landsleuten über die Welt zu berichten? Und wie ist ihr Verhältnis zur Schweiz als Medienschaffende? SWI swissinfo.ch porträtiert fünf von ihnen. Zweite Station: Brasilien.
Bern, 21 Uhr. Rio de Janeiro, 16 Uhr. Das Telefon klingelt, weit weg. Plötzlich ertönt eine fröhliche Stimme: «Nicole Anliker!». Das gutturale «K» verrät die schweizerdeutsche Herkunft der Gesprächspartnerin. Sie ist Korrespondentin der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ) in Südamerika, und dies ist das zweite Porträt in unserer Serie.
Ein Traum wird wahr
Anliker kommt aus Murten im Kanton Freiburg und hat schon seit ihrer Gymnasialzeit eine grosse Schwäche für Südamerika. So war es nur logisch, dass sie nach ihrer Matura beschloss, nach Mexiko aufzubrechen, um Spanisch zu lernen und um zu reisen.
Nach 18 Monaten kehrte sie zurück und nahm ihr Studium an der Universität Freiburg auf. Dabei befasste sie sich mit wissenschaftlichen Arbeiten über Mexiko und Lateinamerika. Sie reiste regelmässig nach Lateinamerika, allerdings jeweils für eine kürzere Zeit.
Später erwarb sie in Genf einen Master in Internationale Beziehungen und war danach in der deutschsprachigen Redaktion von Radio Fribourg/Radio Freiburg tätig. Es folgte ein Praktikum bei der NZZ und anschliessend eine Festanstellung in der internationalen Redaktion der renommierten Zürcher Tageszeitung.
«Ich habe etwa sechs Jahre lang in Zürich gearbeitet. Man muss sich einarbeiten und das Haus kennen lernen, aber mein Ziel war immer, weg zu gehen.» Ende 2017 wurde die Korrespondentenstelle für Südamerika frei – und der Traum von Nicole Anliker wahr. Anfang 2018 zog sie nach Rio de Janeiro.
«Ich war bereits ausgiebig durch die spanischsprachigen Ländern gereist, und Brasilien ist das wichtigste Land des Kontinents, sowohl wirtschaftlich als auch geografisch. Deshalb beschloss ich, dorthin zu ziehen.»
Noch vor ihrer Abreise hatte sie etwas Unterricht in Portugiesisch genommen, das sie jetzt täglich braucht. Aber sie gibt zu, sich «in Spanisch wohler zu fühlen», einer Sprache, die sie nun schon seit 16 Jahren spricht.
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Schwierige Arbeitsbedingungen
Viele Länder Südamerikas sind geplagt von Korruption, organisierter Kriminalität, Guerilla… geopolitische Bedingungen, die mehr als nur einen westlichen Journalisten oder eine westliche Journalistin abschrecken könnten.
In Mexiko zum Beispiel erschweren kriminelle Netzwerke, die hauptsächlich mit Drogenhändlern in Verbindung stehen, den Zugang zu bestimmten Regionen. «Ich wollte über eine Kleinstadt berichten, die vollständig in den Händen des organisierten Verbrechens liegt», erzählt Anliker.
Dazu hatte sie, wie immer, Kontakt zu einer lokalen Journalistin aufgenommen. Diese riet ihr dringend von dieser Reportage ab. «Die Journalistin erzählte mir, zwei amerikanische Journalisten der New York Times hätten einige Zeit zuvor die gleiche Idee gehabt wie ich. Am Tag vor ihrer Reportage erhielten sie Anrufe, in denen sie und ihre Familien bedroht wurden.»
Der Beruf im Journalismus kann auch in Venezuela gefährlich sein. «Persönlich bin ich noch nie angegriffen worden. Aber einmal wurden, während ich dort war, mehrere Korrespondenten von der Polizei festgenommen und verschwanden für mehrere Tage, bevor sie endlich freigelassen wurden.»
Zum Glück für Anliker helfen sich die Journalisten und Journalistinnen gegenseitig und kümmern sich um diejenigen, die ein Land nur besuchen.
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«Aber in diesen Ländern kann schon das blosse Gespräch mit einem Journalisten Menschen in Gefahr bringen». Deshalb ist es wichtig, dass man seine Reisen gut plant und immer mit jemandem Kontakt hat, der dort lebt.
«Ich habe den Vorteil, dass ich mich ziemlich gut in die Bevölkerung einfüge. Ich bin nur mit einem Notizbuch und meinem Telefon bewaffnet und damit viel unauffälliger als ein Fernsehteam oder ein Fotograf.»
Obwohl sie sich weigert, Personen, die sie interviewt, einer Gefahr auszusetzen, muss sie manchmal dem Drängen von gewissen Leuten nachgeben. Sie erinnert sich zum Beispiel an einen Arzt in Venezuela, der ihr unbedingt zeigen wollte, unter welch beklagenswerten Bedingungen er arbeitete. Journalisten ist der Zutritt zu Spitälern jedoch nicht gestattet.
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«Er zog mich wie ein Arzt an und führte mich durch das Spital. Das Problem ist, dass die Regierung überall Augen und Ohren hat. Und in seinem Team gab es auch Spione, aber er wusste nicht, wer sie waren, und lief Gefahr, in grosse Schwierigkeiten zu geraten.»
Auch Familien von Opfern des organisierten Verbrechens in Mexiko sehen sich oft Repressalien ausgesetzt, wenn sie mit Journalisten sprechen. «Aber sie halten es für wichtig, und ohne sie und ihren Mut würden wir keine Zeugenaussagen haben», sagt Anliker mit Bewunderung.
Um möglichst nicht in gefährliche Situationen zu geraten, lasse sie sich von «Vernunft und Intuition» leiten, sagt sie.
Tägliche Bereicherung
Abgesehen von den Schwierigkeiten, auf die sie gestossen ist, schätzt sich Anliker sehr glücklich, einen Beruf auszuüben, den sie liebt, in einer Region, die sie liebt. Sie betrachtet es als ihr grösstes Privileg, inspirierende Menschen treffen zu können, die darum kämpfen, sich aus schwierigen Situationen zu befreien. Sie hat grossen Respekt vor diesen Männern und Frauen, die bereit sind, Zeugnis abzulegen und über ihr Leben zu sprechen, manchmal unter Gefahr für dieses Leben.
«Die Begegnungen, die herausragen, sind solche, welche die Komplexität des menschlichen Wesens veranschaulichen. Nichts ist je ganz Schwarz oder ganz Weiss, und ich stelle Ereignisse gerne in einen Kontext.»
Sie verweist dabei auf ein Interview mit einem FARC-Kämpfer in Kolumbien. Der 28-Jährige sass eine Gefängnisstrafe für schreckliche Taten ab, die unter der Flagge der FARC begangen wurden. «Er war überzeugt, dass er im Recht war, denn als Kind war seine Familie vor seinen Augen von einer Regierungsmiliz ermordet worden.»
Dass er für die FARC aktiv war, ermöglichte ihm, sein Bedürfnis nach Rache zu befriedigen. «Für mich ist diese Geschichte das perfekte Beispiel dafür, wie Opfer ihrerseits zu Henkern werden. In Südamerika gibt es viele solche Fälle.»
Die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens – Volksarmee (auf Spanisch: Fuerzas Armadas Revolucionarias de Colombia – Ejército del Pueblo), allgemein als FARC bekannt, waren die wichtigste kommunistische Guerillagruppe, die in den bewaffneten Konflikt in Kolumbien verwickelt war.
Die FARC wurden 1964 gegründet und entstanden nachdem die kolumbianische Armee eine autonome Region von Bauern im Westen des Landes angegriffen hatte. Die Regierung versuchte, die Kontrolle über Dutzende von Gebieten wiederzuerlangen, die nach der Militärdiktatur von kommunistischen Sympathisanten gehalten wurden.
Im November 2016, nach 52 Jahren Guerillakrieg und vier Jahren Verhandlungen, unterzeichneten FARC-Vertreter ein Friedensabkommen mit der Regierung. In Übereinstimmung mit diesem Abkommen gründeten die FARC am 31. August 2017 eine legale politische Partei unter demselben Akronym, die Fuerza Alternativa Revolucionaria del Común (FARC).
Anderswo ist das Gras immer grüner
Die Menschen, denen Anliker begegnet, sind oft überrascht, eine Schweizerin in ihrem fernen Land zu sehen. «Sie fragen mich, was ich hier mache, wo doch in meinem Land alles so gut funktioniert.» Dabei sprechen sie mit ihr vor allem über Sicherheit, eines der Hauptprobleme Lateinamerikas.
«Die Schweizer könnten positiver sein», sagt sie. «Sie haben das Privileg, in einem sicheren Land aufzuwachsen, das allen die gleichen Chancen auf Bildung und Erfolg bietet. Das ist hier bei weitem nicht der Fall.»
Als Korrespondentin ist es ihr Ziel, «diese Region zu repräsentieren, die beim Rest der Welt etwas in Vergessenheit geraten ist, eine Leidenschaft zu teilen und zu zeigen, dass das Leben auch dort gut ist».
Ein Beweis: Es gelingt ihr sogar, Toblerone zu einem vernünftigen Preis zu finden. «Abgesehen davon bitte ich meine Gäste aber immer, mir ein paar Tafeln Lindt-Schokolade mitzubringen, denn die ist hier sehr teuer», sagt sie lachend.
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(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
Im Jahr 2019 lebten 13’857 Schweizer Bürgerinnen und Bürger in Brasilien, etwas weniger als 2018. In Lateinamerika insgesamt waren es mehr als 56’000. Brasilien beherbergt nach Argentinien die zweitgrösste Gemeinschaft von Schweizerinnen und Schweizern in Südamerika.
Brasilien ist in dieser Region der wichtigste Handelspartner der Schweiz, mit dem sie Abkommen in den Bereichen Wissenschaft, Justiz, Informationsaustausch in Steuerfragen, Luftverkehr und soziale Sicherheit abgeschlossen hat.
Im Jahr 2014 wurde eine Swissnex-Niederlassung in Rio de Janeiro eröffnet, 2017 eine zweite in Sao Paulo. Die Innovationsplattform des Staatssekretariats für Bildung, Forschung und Innovation (SBFI) bringt Forscherinnen und Forscher, Institutionen und Unternehmen aus beiden Ländern zusammen.
Folgen Sie Nicole Anliker auf Twitter: @nicoleanlikerExterner Link
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