Novartis› nächstes Krebs-Unternehmen
Warum sollte Novartis bis zu 14 Milliarden Franken an GSK bezahlen für das Portfolio von Krebsmedikamenten, die in der Vergangenheit schwer verkäuflich waren? Analysten sind der Meinung, dass der Schweizer Pharmamulti sein Geld nicht zum Fenster hinaus wirft.
Wer meint, dass sich lebensrettende Krebsmedikamente wie von selbst verkaufen lassen, irrt sich. Um Erfolg zu haben, müssen deren Hersteller auch auf eine spezifische Erkrankung fokussierte Absatzfachleute sein.
Ein Beispiel dafür ist die Brustkrebs-Therapie Tykerb, die in Konkurrenz steht zum Roche-Medikament Herceptin und dessen Folgeprodukt Perjeta. Obwohl es bereits seit sieben Jahren existiert und sich als wirksam erwiesen hat, konnte Tykerb – in Europa wird es unter dem Namen Tyverb verkauft – sein Blockbuster-Potential nie erreichen.
GlaxoSmithKline (GSK) war es nicht gelungen, das Potential von Tykerb auszuschöpfen, und die anderen Krebsmedikamente, die GSK an Novartis verkaufte, weil sich das Unternehmen auf Atemwegerkrankungen fokussierte, machten nur 5,4% seines Geschäfts aus. Es habe an Paradeprodukten gefehlt, die den neuen Medikamenten hätten zum Durchbruch verhelfen können. sagt Michael Nawrath, Analyst bei der Zürcher Kantonalbank.
Ein derartiges Szenario wäre in den Händen von Roche oder Novartis, den beiden führenden Pharma-Unternehmen für Krebsmedikamente, wahrscheinlich unvorstellbar gewesen. Beide fokussieren sich auf Forschung und Entwicklung der margenstarken Produkte und haben einen spezialisierten Onkologie-Vertriebsservice.
In den letzten Jahren hat Novartis eine Infrastruktur aufgebaut und es in der Onkologie auf den zweiten Platz geschafft. Dies ermögliche es dem Unternehmen, bereits existierende Verkaufskanäle zu nutzen und die erforderlichen Studien durchzuführen, um das Portfolio-Potential auszuschöpfen, erklärt Nawrath.
Am 22. April 2014 hat Novartis ein Tauschgeschäft im Wert von 28,5 Mrd. Dollar mitgeteilt. Der Pharma-Konzern will sich zu einem kleineren, konzentrierteren und rentableren Unternehmen umstrukturieren. Novartis verkauft vorerst die Sorgenkinder «Impfstoffe» und «Tiermedizin» und übernimmt vom britischen Konkurrenten GlaxoSmithKline (GSK) das Onkologie-Geschäft.
Während der Verkauf der Impfstoffe an GSK zum Preis von 7,1 Mrd. Dollar und der Tiermedizin an Eli Lilly für 5,4 Mrd. Dollar flüssige Mittel in die Kasse spült, kritisieren Analysten, den Betrag von 16 Mrd. Dollar, den Novartis für das Onkologie-Portfolio bezahlen dürfte.
Zu diesem gehören das Nieren-Krebsmedikament Votrient, die Melanom-Behandlungsmedikamente Tafinlar und Mekinist, das Brustkrebs-Medikament Tykerb, das Lymphom-Medikament Arzerra und Promacta, das zur Behandlung mangelnder Blutplättchen eingesetzt wird, sowie weitere Produkte, die sich in der Pipeline befinden.
Dank des GSK-Portfolios erhalte Novartis ein starkes Standbein im 35 Milliarden-Markt der Immunonkologie. In diesem innovativen Forschungsansatz müsse jedes Pharma-Unternehmen aktiv sein, weil kombinierte Therapien das Potential von mehr als dem Doppelten der Medikamenten-Umsätze aufwiesen, sagt Michael Nawrath, Analyst bei der Zürcher Kantonalbank.
Beim Konzept der Immunonkologie-Therapie geht es darum, das körpereigene Abwehrsystem nutzbar zu machen, um die Tumorzellen in Kombination mit den Substanzen effizienter zu bekämpfen.
Mit dieser Phalanx wird die tödliche Krankheit in eine handhabbare chronische Krankheit gewandelt, vergleichbar mit den AIDS-, Diabetes- oder Hypertonie-Therapien.
Hohe Erwartungen
«Wir gehen davon aus, dass das gleiche Portfolio in den Händen eines professionellen Entwicklers und Vermarkters von Onkologie-Produkten einen Umsatz von rund 2,9 Milliarden Dollar hätte generieren können», sagt Nawrath. GSK hat damit im letzten Jahr 1,6 Milliarden erzeugt.
Laut dem Bankanalysten könnte das Portfolio sogar einen Spitzenumsatz von 12 Milliarden Dollar erzielen.
Novartis spielte im Onkologie-Geschäft bisher nicht in der gleichen Liga wie der Stadtrivale Roche. Die Leukämie-Therapie Glivec – die für Novartis 2013 mit 4,7 Milliarden Dollar den vierthöchsten Umsatz hinter den drei bestplatzierten Krebsmedikamenten von Roche erzielte – war als Eintagsfliege bezeichnet worden.
Der Deal mit GSK weckt nun aber höhere Erwartungen. Novartis-Chef Joseph Jimenez sagte gegenüber der Boulevardzeitung Blick, dass er beabsichtige, Roche zu überholen. Produkte, deren Patente erst zwischen 2023 und 2030 ablaufen, sollten es Novartis erlauben, zu wachsen und sogenannte Patent-Klippen leichter zu umschiffen, wenn die Parade-Medikamente den Generika weichen müssen.
Laut Novartis gibt es mindestens drei Produkte, die Blockbuster-Potential mit Umsätzen von über 1 Milliarde Dollar haben: das Nierenkrebs-Medikament Votrient und die beiden neuen Melanom-Arzneimittel Tafinlar und Mekinist, die Novartis laut ihrem Sprecher Satoshi Sugimoto zum führenden Unternehmen für Hautkrebs-Therapien machen würden.
Verkaufsgeheimnis
Novartis wird die Verkaufskanäle seines Krebsmedikaments Afinitor für neu erworbene Produkte wie Tykerb oder Votrient verwenden können, weil diese bei ähnlichen Indikationen eingesetzt werden. Das gleiche gilt für das Melanom-Medikament. Dank seiner Kompetenzen und seines bereits existierenden spezialisierten Vertriebssystems entstünden nur wenige zusätzliche Kosten, sagen die Analysten.
Der Schlüssel zum Pharmamarkt sind die Ärzte. Durch die Analyse des Verkaufspotentials anhand von Patientenstruktur und -beschreibungen können Pharma-Unternehmen die Ärzte identifizieren und jene auswählen, die das Medikament wahrscheinlich verschreiben.
Der traditionelle Weg hatte bisher darin bestanden, alle paar Wochen Vertreter zu schicken, die den Ärzten klinische Informationen, Zeitschriftenartikel und gratis Medikamentenmuster lieferten.
Die Consulting Firma Burson-Marsteller schätzt, dass Novartis allein in den USA bis in die späten 2000er-Jahre rund 6000 Verkaufsmitarbeiter mit einem Marketing-Budget von mehr als 100 Millionen Franken einsetzte, um ein Top-Medikament wie die Hypertonie-Behandlung Diovan zu verkaufen.
IMS Health, ein Anbieter von Gesundheitsinformationen, sagt voraus, dass in den fünf Jahren nach 2016 der Ablauf von Patenten für Markenmedikamente zu Umsatzeinbussen von 106 Mrd. Dollar führen werde.
Das Hypertonie-Medikament Diovan war während mehr als einem Jahrzehnt das Parade-Medikament von Novartis. Als 2011 der Patentschutz ablief, wurde der Markt von Nachahmerprodukten überflutet, die einen Bruchteil des Originalprodukts kosteten.
Das gleiche Schicksal dürfte das Leukämie-Behandlungsmedikament Glivec von Novartis erfahren, dessen Patentschutz in einigen Ländern bereits ausgelaufen ist. Wie Novartis bereits warnte, wird die Aufhebung des Patentschutzes für Glivec erst 2015 oder 2016 seine volle Wirkung haben, wenn der Schutz in den USA und Europa aufgehoben wird. Das Nachfolgeprodukt Tasigna dürfte nur einen Teil der Umsatzeinbusse auffangen können.
Ärzte sind weniger abhängig
Aber die Zeiten haben sich geändert. Die Anzahl Verkaufsmitarbeiter wird kleiner, weil die Ärzte nicht mehr nur von deren Informationen abhängig sind, sondern diese aus dem Internet beziehen, sagt Burson-Marsteller. Anstatt dass sie die Ärzte mit Geschenken und Mustern eindecken, sind die Verkäufer jetzt mit -Tablet-Computern ausgerüstet, um ihre Klientel mit klinischen Daten zu überzeugen.
Die Unternehmen führen kostspielige Vergleichsstudien über Produkte gegen die gleiche Erkrankung durch, um den Beweis zu erbringen, dass ein Medikament die bessere Wirkung oder das bessere Preis-Leistungsverhältnis aufweist. Novartis ist darauf vorbereitet. Im letzten Jahr hat das Pharma-Unternehmen für Forschung und Entwicklung 9,6 Milliarden Dollar ausgegeben.
Die beiden kürzlich zugelassenen GSK-Medikamente Tafinlar und Mekinist stehen in direkter Konkurrenz zum Hautkrebs-Medikament Zelboraf von Roche. Novartis wird versuchen zu beweisen, dass Tafinlar und Mekinist, die beiden Arzneimittel, die als erste für die kombinierte Behandlung bei dieser Indikation zugelassen werden sollen, dem Medikament Zelboraf überlegen sind, zum Beispiel in Bezug auf Resistenz.
Die hohen Marketing-Kosten erhöhen den Druck auf die Rentabilität zu einer Zeit, in der die Unternehmungen gehalten sind, ihre Vergütungen und Geschenke offen zu legen.
Dies könnte mit ein Grund dafür sein, dass – gemäss dem Marketing-Dienstleister ZS Associates – die Anzahl Pharma-Mitarbeiter in den USA 2013 auf 60’000 gesunken ist, gegenüber der Rekordzahl von 107’000 im Jahr 2006. Laut den ZS-Analysten ist der Zugang zu den Ärzten restriktiver geworden. Um die Onkologen zu überzeugen, seien bei komplexen Krebsmedikamenten speziell ausgebildete Mitarbeiter erforderlich, vor allem, wenn sich die Produkte punkto Qualität ähnlich seien.
«In den 1990er-Jahren versuchten Horden von Verkaufsmitarbeitern die Produkte mit Geschenken zu fördern», sagt Nawrath. «Heute braucht man mehr als Verkaufsgeschick; man muss den Nutzen nachweisen können, nicht nur für den Patienten, sondern auch einen ökonomischen Nutzen, der Preise von 50’000 Franken pro Jahr [und Behandlung] rechtfertigt.»
Aus Konkurrenzgründen macht Novartis keine genauen Angaben über die Anzahl Verkaufsmitarbeiter in den verschiedenen Geschäftsbereichen. Peter Deane, Chef von Global Sales Force Effectiveness, schrieb 2013 auf der Pharma-Website eyeforpharma, dass Novartis rund 18’000 Verkaufsvertreter und -manager beschäftige.
(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)
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