«Die EU wird immer mehr zum Sündenbock für alles und jedes»
Ursula Plassnik, die österreichische Botschafterin in der Schweiz, äussert sich zum unterschiedlichen Verständnis von Souveränität in der Schweiz und in Österreich. "Wir Österreicher sind sicher nicht veränderungsfreudiger, aber die Anpassung an EU-Standards hat uns unter dem Strich gutgetan", sagt sie.
*Verena Parzer-Epp ist Leiterin Kommunikation bei Avenir Suisse, einem liberalen Think-Tank, der sich mit der Zukunft der Schweiz auseinandersetzt. Dieser Text wird mit freundlicher Genehmigung von Avenir SuisseExterner Link publiziert.
Frau Botschafterin, wie macht man weiter, wenn in einer Verhandlung plötzlich das Gefühl aufkommt, es gehe gar nichts mehr?
Ursula Plassnik: An Albert Einstein denken: «Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.» Dazu – gleichsam als Sofortmassnahme im Krisenfall – noch der alte amerikanische Slogan: «When you are in a ditch, stop digging.» Also raus aus dem Käfig der Erfahrungen! Und aufhören, mit Vollgas noch tiefer in die Sackgasse zu brausen.
Es gibt überall Haarrisse und Mauselöcher, auch in Betonwänden. Man muss nur exakt hinschauen, manchmal mit der Lupe. Ganz genaues Hinhören und das Eingehen auf die Anliegen des Verhandlungspartners zahlen sich aus, so öffnen sich oft neue Wege zur Verständigung.
Haben Sie in all den Jahren zwischen den Nationalitäten oder Geschlechtern Unterschiede im Umgang mit Grenzen und Sackgassen festgestellt?
U.P.: Geübte Verhandler können gut umgehen mit kulturellen Unterschieden. Ein lebhafter Mittelmeermensch argumentiert in der Regel anders als ein schweigsamer Nordfinne, ein Japaner anders als ein Türke. Aber letztlich hängt es vom Individuum ab, von der Beharrlichkeit, Flexibilität, Phantasie und Geschicklichkeit des Gegenübers.
Manchmal braucht man einfach auch den Mut, über emotionales Beiwerk stillschweigend hinwegzugehen. Etwa den Anteil an männlichem Ego in einer Verhandlung. Da tun sich Frauen meist leichter, aber auch Männer, die einen sachlicheren Stil einbringen.
In Ihrer Karriere bekleiden Sie schon zum zweiten Mal den Posten der österreichischen Botschafterin in der Schweiz: Was hat sich seit Ihrem letzten Einsatz in unserem Land Ihrer Ansicht nach geändert?
U.P.: Ich war zuletzt als Botschafterin 2004 in Bern. Seitdem hat sich die Bankenlandschaft stark verändert, die Auseinandersetzung mit den USA hat deutliche Spuren hinterlassen. Und in der Öffentlichkeit hat sich eine nationalkonservative Grundstimmung auch in der Medienlandschaft stärker ausgebreitet, Stichworte «Weltwoche» und «Basler Zeitung». Die Schweiz ist ein weltoffenes Land, aber die EU wird immer mehr zum Sündenbock für alles und jedes. Das war nicht immer so. Es hätte 1992 beim EWR-Referendum auch anders kommen können, die Abstimmung war ja doch recht knapp.
«Man setzt auf die Ängste einer alternden und sehr wohlhabenden Gesellschaft und bläst historische Mythen zu Identitätsstiftern auf.»
Hier wird aus meiner Sicht die öffentliche Meinung gezielt bewirtschaftet. Man setzt auf die Ängste einer alternden und sehr wohlhabenden Gesellschaft und bläst historische Mythen zu Identitätsstiftern auf. Das gibt es zwar auch anderswo in Europa, aber in einem so erfolgreichen und weltverbundenen Exportland wie der Schweiz finde ich es auffallend. Das trägt natürlich auch dazu bei, dass die innere Distanz zu den Nachbarn, die mit Ausnahme Liechtensteins alle EU-Partner sind, zunimmt.
Österreich ist im Unterschied zur Schweiz EU-Mitglied. Brauchte die Annäherung an Brüssel viel Überwindung in Wien?
U.P.: Warum Überwindung? Es war viel eher kühles Kalkül. Was dient der Gesamtheit österreichischer Anliegen besser – draussen bleiben oder drinnen mitmachen? Es war für die meisten Österreicher weniger eine emotionale Entscheidung als wohldurchdachtes Eigeninteresse.
Meinungsumfragen zeigen auch, dass das Bild in den 23 Jahren seit unserem EU-Beitritt recht stabil geblieben ist: zwei Drittel sind pro EU, ein Drittel eher dagegen. Einigkeit herrscht darüber, dass sich die EU um die grossen Dinge kümmern soll, nicht um Angelegenheiten, die besser auf kommunaler oder regionaler Ebene gelöst werden können.
Vielleicht haben die Schweiz und Österreich auch ein anderes Verständnis von Souveränität: Nicht «alles im Alleingang» regeln oder «Nein-Sagerei im Notfall», sondern vielmehr Mitgestalten und Mitverantworten als Teilhabe an einem breiteren europäischen Projekt. Solotanz überlässt man lieber den Künstlern, in der Politik sollte Teamarbeit gelten.
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Auf der praktisch-politischen Ebene war der EU-Beitritt für Österreich übrigens ein Werkzeug dafür, veraltete Strukturen zu beseitigen und schlechte Angewohnheiten über Bord zu werfen, beispielsweise Monopole und das anonyme Sparbuch. Und unsere Landwirtschaft ist dank der EU eindeutig wettbewerbsstärker geworden. Viele sagen sogar, ohne EU gäbe es heute keine alpine Landwirtschaft mehr in Österreich. Kein Zufall, dass der Erfinder der modernen EU-Politik des ländlichen Raumes ein Österreicher war, Franz Fischler.
Wir Österreicher sind sicher nicht veränderungsfreudiger als die Schweizer, aber die Anpassung an EU-Standards hat uns unter dem Strich gutgetan. Jammern und Meckern, gern auch gegen die EU oder «Brüssel», gehört bei uns ohnehin zur politischen Kultur. Aber die EU oder den Euro verlassen – dafür gibt es keine Mehrheit.
«Wir Österreicher sind sicher nicht veränderungsfreudiger als die Schweizer, aber die Anpassung an EU-Standards hat uns unter dem Strich gutgetan.»
Die beiden Alpenrepubliken betonen immer ihr gutes gegenseitiges Verhältnis. Auf welchen Gebieten gibt es noch Ausbaupotenzial?
U.P.: Eigentlich überall. Wie in jeder gut funktionierenden, respektvollen Partnerschaft. Manchmal könnten wir allerdings aus meiner Sicht die bisherigen Trampelpfade verlassen und Neuland erkunden. Nehmen wir die Neutralität: Welche Gründe sprechen eigentlich dagegen, den Schutz unseres Luftraumes gemeinsam zu organisieren?
Oder unseren aussenpolitischen Einsatz für den Multilateralismus gemeinsam zu optimieren, wo wir doch sowohl in Genf wie auch in Wien UNO-Hauptquartiere haben? Oder in der Forschung und Lehre, da könnten wir uns noch viel enger vernetzen.
Vielfalt, Demokratie und Institutionen – auch das wäre ein spannendes Gebiet für gemeinsame Formate. Wie auch neue Perspektiven und Kooperationen für den Service public und das öffentlich-rechtliche Fernsehen. Oder ganz praktisch: die Zukunft der Alpen…
Wo sehen Sie die Grenzen der Kooperation?
U.P.: Nirgends. Nicht einmal im Sport. Obwohl manche Österreicher besser Ski fahren und manche Schweizer besser Tennis spielen. Wettbewerb ist kein Hindernis, er kann auch Ansporn sein. Warum machen wir nicht gemeinsam die weltweit beste Sportuniversität?
Wir brauchen einander nur wirklich Aufmerksamkeit zu schenken, dann lernen wir automatisch voneinander. Der Österreicher Adi Hütter hat die Berner Young Boys wieder zum Landesmeister gemacht, der Schweizer Marcel Koller hat die österreichische Nationalmannschaft entscheidend nach vorne gebracht.
Gibt es Politikbereiche, in denen die Zusammenarbeit mit der Schweiz durch den EU-Beitritt Österreichs schwieriger geworden ist?
U.P.: Nicht durch den EU-Beitritt Österreichs, sondern durch den Nichtbeitritt der Schweiz zum EWR: Unsere europäischen Wege sind in der Folge sehr unterschiedlich geworden. Vor 1995 waren wir beide Teil der Freihandelszone EFTA, jetzt ist nur Österreich Teil des EU-Binnenmarktes, einschliesslich Zollunion. Die gemeinsame Währung Euro verbindet uns mittlerweile mit 18 EU-Partnern.
Naturgemäss ist grenzüberschreitendes Wirtschaften zwischen zwei EU/Euro-Staaten leichter, da gibt es keinen Zoll, keine Umrechnung und identische Regeln. Also auch viel weniger Bürokratie und Aufwand. Versuchen Sie nur, eine Schachtel Schokoladentruffes von Bern nach Italien zu verschicken, da brauchen Sie allein Stunden, um die Zollvorgaben zu erforschen.
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Aber mir geht es um Grundsätzlicheres, um das Gesamtgefühl: Österreich erlebt sich täglich als vollverantwortlicher Teilhaber des europäischen Integrationsprojekts. Das ist nicht immer und nicht für jeden bequem, aber es ist auch ein permanenter Lernprozess für alle. In fast jedem Bereich arbeiten wir engstens mit unseren 27 EU-Partnern zusammen. Was bei unseren Nachbarn, auch den geografisch entfernteren, vorgeht, betrifft auch uns unmittelbar.
Es gibt häufig ein Familienmitglied, das ausschert, nicht so schnell mitkommt, ein neues Problem hat. Da hilft nur Zusammenhalten, nicht die Geduld verlieren, verstehen lernen. Das nationale Schneckenhaus ist kein zukunftsfester Aufenthaltsort mehr. EU-Sein zwingt zum täglichen Lernen.
Die Schweiz hingegen erweckt gelegentlich den Eindruck, sie habe ihr Interesse an den anderen Europäern eingeschränkt auf primär wirtschaftliche Gesichtspunkte. Es geht darum, wie die Schweiz einen Vorteil wahren oder erringen kann, der Rest interessiert kaum. Siehe die unselige Debatte um den sogenannten Kohäsionsbeitrag.
«Die Schweiz hat den Sonderfall zum Dogma erhoben.»
Die Schweiz hat den Sonderfall zum Dogma erhoben, niemand ist in ihren Augen so friedlich, so demokratisch, so föderal wie die Schweiz. Wem es schwerfällt, anzuerkennen, dass auch die Nachbarn jeweils ganz brauchbare politische Systeme haben, der hat auch weniger Motivation, an den grossen europäischen Zukunftsthemen mitzuwirken. Es geht heute schliesslich um die Sicherung des Wirtschaftsstandortes Europa, des Lebensmodells eines ganzen Kontinents im globalen Wettbewerb und nicht um einzelstaatliche Selbstbehauptung.
Gibt es Grenzüberschreitungen in der Politik, die in einer Demokratie wie der österreichischen nicht tolerierbar sind?
U.P.: Es gibt sogar sehr klare Grenzen, die werden von der Verfassung und den Gesetzen gezogen. So hat Österreich beispielsweise sehr strenge Regeln gegen jede Form von Nazi-Wiederbetätigung. Das ist kein totes Recht, sondern gelebte Wirklichkeit, wie aktuelle Verfahren im Rahmen des Verbotsgesetzes zeigen. Persönlich finde ich spannend, wie sich die Mitte einer Gesellschaft laufend neu auspendelt. Auch hier werden Grenzen verschoben. Die Mitte im Sinne von gemeinsamen Werten und Überzeugungen wird immer wieder neu festgelegt.
Jetzt geht es zum Beispiel um den richtigen Umgang mit Migrationswellen und Flucht. Früher war es der Umgang mit Homosexuellen, die Gleichstellung von Männern und Frauen, das Umweltbewusstsein, die soziale Absicherung. Man redet heute viel vom «Rechtsruck». Ich sehe das anders. Der Kontinent Europa hat die weltweit höchsten Standards bei Menschenrechten, Umwelt, Wohlstand, sozialer Ausgewogenheit und Demokratie. Und wir leben seit Jahrzehnten in Frieden.
Heute gibt es neue Herausforderungen, auf die wir Antworten erarbeiten müssen, der Migrations- und Flüchtlingsdruck gehört dazu. Das hat mit rechts und links nichts zu tun. Klar, dass Sicherheit für alte, wohlhabende Leute im Vordergrund steht. Aber das europäische Lebensmodell kann im weltweiten Wettbewerb nur bestehen, wenn wir es auch wertschätzen, schützen und verteidigen; wenn wir innovativer, selbstbewusster, standfester unsere eigenen Standards weiterentwickeln, im Austausch mit dem Weltdorf.
Mark Zuckerberg hat etwa im amerikanischen Kongress die neuen EU-Datenschutzregeln als vorbildlich gelobt. Facebook will diese Regeln weltweit anwenden. Das sollte uns Europäern Mut geben.
Stichwort Föderalismus: In der Schweiz sind die Kantonsgrenzen auch deshalb wichtig, weil traditionell viel Macht bei den Kantonen liegt. Wäre ein stärkerer Föderalismus in Österreich hilfreich für einen umfangreicheren Austausch zwischen den Gebietskörperschaften der beiden Länder?
U.P.: Das glaube ich eher nicht. Die Erfahrung zeigt, dass in der Praxis eher die regionale Komponente ausschlaggebend ist. Es gibt so etwas wie eine grenzüberschreitende Identität des Raumes. Denken Sie an Vorarlberg und Tirol, St. Gallen und Graubünden. Hier spürt man Gemeinsamkeit deutlich stärker als zwischen dem Burgenland und dem Waadtland.
In Österreich wie in der Schweiz ist der Föderalismus historisch gewachsen. Bei uns waren Bundesländer wie Kärnten und Tirol Jahrhunderte vor der Republik Österreich schon feste politische Einheiten. Identität hat also offenbar weniger mit Kompetenzzuteilung zu tun als mit dem Gefühl des Zusammengehörens.
Die – im Verhältnis zur Schweiz – relativ starke Konzentration von Kompetenzen auf Bundesebene in Österreich verhindert also keine nutzbringenden Kooperationen zwischen den Bundesländern und benachbarten Schweizer Kantonen? Haben die österreichischen Bundesländer genügend Autonomie und Ressourcen, um selbständig Kooperationen einzugehen?
U.P.: An mangelnden rechtlichen Möglichkeiten oder Kompetenzen liegt es nicht, eher an mangelndem Interesse oder mangelndem Wissen. Artikel 16 der österreichischen Bundesverfassung räumt den Bundesländern sogar ausdrücklich das Recht ein, mit den Nachbarn Staatsverträge abzuschliessen.
Föderalismus ist ein buntes und breites Thema, es gibt viele Ansätze und Lösungen. Natürlich gibt es auch in Österreich laufend Verbesserungsbedarf und politische Diskussionen über die guten Grenzen des Föderalismus. Wie in der Schweiz. Aber im Grossen und Ganzen sind die Bundesländer bei uns nicht unzufrieden mit der aktuellen Verfassungslage.
Welche Hindernisse haben die Österreicher in der Vergangenheit mit Erfolg überwunden? Und woran sind sie gescheitert? Haben Sie diesbezüglich auch eine Meinung zur Schweiz?
U.P.: Im 20. Jahrhundert ist unsere österreichische Welt zweimal buchstäblich eingestürzt, durch die beiden Weltkriege. Der Erste Weltkrieg war ein gewaltiger Zeitenbruch, nicht nur politisch, auch wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell. Eigentlich wurde damals vor 100 Jahren unsere Idee von unserem Gemeinwesen zerstört. Es hat sich herausgestellt, dass der Wille zum Gemeinsamen bei einigen Familienmitgliedern zu schwach geworden war, er war nicht mehr haltbar.
So ist das «alte Österreich» untergegangen, mitsamt der Gesellschaftsordnung der Monarchie. Der Zweite Weltkrieg war nicht nur Völkermord, Massenmord und Judenvernichtung, er war für Österreich auch eine grauenvolle Selbstverstümmelung. Wir haben die jüdische Faser aus dem Gewebe unserer Gesellschaft, Kultur und unseres Geisteslebens entfernt. Davon hat sich Österreich nie erholt. Das moderne Österreich hat im 20. Jahrhundert den Glauben an sich selbst erst finden müssen.
«Was ich an der Schweiz bewundere, ist ihre Kompetenz beim Umgang mit Vielfalt im Alltag.»
Was ich an der Schweiz bewundere, ist ihre Kompetenz beim Umgang mit Vielfalt im Alltag. Die vielen Sprachen und Mentalitäten, Herkünfte und Zugehörigkeiten sind bereichernd, wenn sie weitherzig akzeptiert und unaufgeregt geordnet werden. Die Schweiz hat eine lange und komplizierte Integrationsgeschichte. Nicht immer waren eine gemeinsame Währung und die Personenfreizügigkeit innerhalb der Schweiz selbstverständlich. Und Steuerwettbewerb gibt es heute noch zwischen den Kantonen. Hat die Schweiz einen echten Binnenmarkt?
Ja, die Schweiz hat seit Mitte der 1990er Jahre einen echten Binnenmarkt, mit Ausnahme einiger Branchen, wie z.B. des Notariatswesens. Den Steuerwettbewerb sehen wir nicht als Zeichen fehlender Integration, sondern als wertvolles Instrument, das die Kantone zum finanziellen Masshalten anhält. Würde Steuerwettbewerb zwischen den Bundesländern, verbunden mit echter Steuerautonomie, nicht auch Österreich guttun?
U.P.: Auch andere Länder haben für sie gut passende Systeme. In Österreich gibt es beispielsweise durchaus unterschiedliche Meinungen zu einem forcierten Steuerwettbewerb zwischen den Bundesländern, kürzlich debattierten im ORF-Äquivalent zur «Arena» Landeshauptleute darüber.
Warum soll es unbedingt schlecht sein, wenn jedes Unternehmen in einem mittelgrossen Land wie der Schweiz oder Österreich flächendeckend die gleichen steuerlichen Bedingungen hat? Ist das nicht gerechter und transparenter als Steuerwettbewerb? Es gibt ja durchaus unterschiedliche Wege zum finanziellen Masshalten. Und zu einem Binnenmarkt gehört für uns in der EU beispielsweise auch, dass man staatliche Beihilfen regelt. Hier steckt viel Wettbewerbsverzerrendes.
Was gefällt der Wirtschaft am österreichischen System besser?
U.P.: Die volle Einbettung im homogenen EU-Wirtschaftsraum ist ein wesentlicher Vorteil für Unternehmen. Ohne Zoll-, Grenz- und sonstige Hemmnisse öffnet sich selbst dem Kleinstunternehmer der grösste Binnenmarkt der Welt als Exportmarkt. Mein Bruder verkaufte und lieferte beispielsweise teure Luxusmotorräder überall in die EU, von seinem Einmannbetrieb in Steindorf am Ossiachersee aus. Dank Internet und EU-Binnenmarkt. Es ist auch deutlich leichter, nach Österreich hineinzuarbeiten, also etwa Leistungen für österreichische Unternehmen aus dem Ausland zuzukaufen, zuliefern zu lassen oder vorübergehende Spitzen durch flexible Zuarbeit auszugleichen.
Die Flexibilität ist in Österreich höher, als man in der Schweiz vermutet. Die Wertschöpfungsketten können in Österreich unkomplizierter geknüpft werden – weil man eben Teil eines grossen, einheitlichen Wirtschaftsraumes ist. Österreichs Exportbranche ist extrem diversifiziert, es gibt kaum eine Warengruppe, die – wie die Pharmaindustrie in der Schweiz – einen wesentlichen Anteil an den Gesamtexporten einnimmt. Wir haben zwar keine grossen Global Players wie die Schweiz, dafür haben wir mehr KMU, die dynamisch im Export unterwegs sind.
Kann die Schweiz etwas von Österreich lernen?
U.P.: Ski fahren? Nein, Spass beiseite: wir können immer voneinander lernen. Wir Österreicher haben ein ausgeprägtes Gespür für Musik. Vielfalt braucht eine Partitur und einen Dirigenten, um Wohlklang zu werden. Jedes Instrument zählt. Ein Orchester nur aus Pauken oder Alphörnern kommt nicht weit. Musik zwingt zum besseren Zuhören, zu mehr Aufmerksamkeit füreinander.
Vielleicht haben wir auch etwas weniger Sturheit in unserem Erbgut, dafür mehr Humor. Das macht uns noch lange nicht unseriös, es ist nur ein Lebenserleichterer, wie Schmieröl in der Mechanik. Improvisationstalent wird bei uns grösser geschrieben, es gibt ja immer Unvorhergesehenes. In der Schweiz erschrickt man leicht, wenn etwas nicht Regelkonformes passiert. Wir halten uns an die jüdische Weisheit: «Der Rabbiner kennt die Regeln, der Oberrabbiner kennt die Ausnahme.»
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Insgesamt meine ich, dass bei uns der menschliche Faktor höher bewertet wird. Daher sind wir wohl auch im Tourismus deutlich erfolgreicher als die Schweiz, da steht es rund 144 Millionen Nächtigungen gegen knapp 40 Millionen. Man kommt gern nach Österreich, als privater Tourist, als Kongressteilnehmer oder Geschäftsreisender.
Aber wir können auch modernere Disziplinen, beispielsweise ist die Wiener Startup-Szene sehr bunt, und es gibt auch reizvolle Biotope, um sich dort niederzulassen. Wien wird bekanntlich immer wieder zur lebenswertesten Stadt der Welt gekürt. Und in Kapfenberg wird derzeit das modernste Stahlwerk Europas gebaut.
Wie nehmen Sie das emotionale Verhältnis der Schweizer zu ihren Landesgrenzen im Vergleich zu ihren Nachbarn wahr?
U.P.: Ambivalent. Einerseits gibt es viele Grenzen im Inneren des Landes, etwa den Röstigraben oder die Grenze zwischen Stadt und Land, Katholiken und Protestanten, Nord- und Südseite der Alpen. Die nehme ich vergleichsweise akzentuiert wahr. Andererseits erleben die Schweizer als Mitglied von Schengen – wie alle Nachbarn – ihre Landesgrenzen im Alltag nicht mehr als störend oder trennend. Schengen ist einfach eine modernere Konzeption, gerade für ein kulturell so vielgesichtiges, geografisch eher kleines Land wie die Schweiz.
Gibt es etwas in der Schweiz, das Ihnen gar nicht gefällt? Etwas, das Sie, wenn Sie könnten, sofort ändern würden?
U.P.: Die Schweizer legen grössten Wert auf ihre Einzigartigkeit. Die darf man ihnen als Freund keinesfalls verweigern, nicht einmal ansatzweise. Aber ich gebe zu, der ständige Verweis auf den Sonderfall nervt gelegentlich schon. Einzigartigkeit ist kein Schweizer Monopol. Von den 193 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen hält sich jeder völlig zu Recht für einzigartig. Für einen Sonderfall eben. Von Afghanistan bis Zimbabwe.
Ursula Plassnik ist österreichische Diplomatin und Politikerin der ÖVP. Derzeit ist sie österreichische Botschafterin in der Schweiz, davor war sie in Paris. Sie ist zudem Mitglied im Executive Committee der Trilateralen Kommission.
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