Online-Werbung für Junk-Food richtet sich schon an vierjährige Kinder
Ein Schweizer Pilotprojekt mit einem WHO-Monitoringtool zeigt auf, wie und wie wirksam Junk-Food online an kleine Kinder vermarktet wird.
Fast jedes dritte Kind (29% der Jungen und 27% der Mädchen) in der WHO-Region Europa ist laut dem jüngsten WHO-BerichtExterner Link vom Mai 2022 übergewichtig oder fettleibig. Dieses Gesundheitsproblem betrifft 23% der Schweizer Kinder im Alter von 5 bis 9 Jahren und 21% der Kinder im Alter von 10 bis 19 Jahren.
Eine der vier politischen Empfehlungen zur Bekämpfung schlechter Ernährungsgewohnheiten in der Bevölkerung, welche die in Genf ansässige Organisation abgibt, ist das «Verbot von Online-Werbung für ungesunde Lebensmittel für Kinder» (die anderen drei sind die Besteuerung von zuckerhaltigen Lebensmitteln und Getränken, die Einschränkung von prominenter Platzierung und Werbung für ungesunde Lebensmittel und die Beschränkung von Imbissbuden in einkommensschwachen Vierteln). In der Schweiz werden diese Produkte nicht besteuert, in einigen anderen Ländern hingegen schon.
In einigen Ländern wie Chile, Mexiko, Taiwan und Korea gibt es Beschränkungen für die Werbung für Junk-Food bei Kindern, aber diese beschränken sich auf Kindersendungen im Fernsehen und Produktplatzierung in Schulen.
In der Schweiz ist die an Kinder gerichtete Werbung für ungesunde Lebensmittel derzeit nicht gesetzlich beschränkt. Vielmehr beruht sie auf einer freiwilligen Selbstregulierungsinitiative der Lebensmittelbranche, die 2010 unter dem Namen Swiss Pledge lanciert wurde. Demnach darf bei Kindern nur für Produkte geworben werden, die bestimmte ernährungsphysiologische Kriterien erfüllen. Eine Überprüfung durch Dritte im Jahr 2022 ergab, dass 99,1% der TV-Werbung von Swiss Pledge-Mitgliedern konform waren, bei Social-Media-Werbung waren es 96,8%.
Eine vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen in Auftrag gegebene Studie kam jedoch zu dem Schluss, dass die Nährwertkriterien für Lebensmittelwerbung, die sich an Kinder richtet, auf den Standards der WHO basieren sollten und nicht auf den von den Unternehmen festgelegten Kriterien.
Im März dieses Jahres wurde das Europäische Nährstoffprofil-Modell (NPM) der WHO veröffentlicht, das die Länder bei der Festlegung von Werbestandards unterstützen soll.
Das Durchschnittsalter, in dem ein Kind in der Schweiz ein Smartphone kauft, liegt bei neun Jahren und elf Monaten. Dies hat zur Folge, dass Kinder bereits in jungen Jahren mit Online-Werbung konfrontiert werden. Aus diesem Grund hat die WHO ein Monitoring anhand der sogenannten CLICK-Methode entwickelt, mit dem die Länder die Auswirkungen von Online-Werbung für ungesunde Lebensmittel auf das Verhalten von Kindern untersuchen können.
Dazu wird auf den Mobiltelefonen der Kinder eine App installiert, die aufzeichnet, wie sie von den grossen Lebensmittelmarken angesprochen werden. Die Schweiz ist eines von nur drei Ländern (neben Norwegen und Portugal), die das CLICK-Monitoring-System testen. Im Juli hat das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) einen Bericht mit den Ergebnissen veröffentlicht.
Das Schweizer CLICK-Monitoring-Pilotprojekt Externer Linkhat gezeigt, dass fast 12% der 6543 Online-Anzeigen, die 77 Schweizer Kinder im Alter von 4 bis 16 Jahren innerhalb von drei Wochen gesehen haben, Lebensmittel und Getränke verkauften. Die Kinder, die an der Studie teilnahmen, verbrachten im Durchschnitt 7,79 Sekunden mit solchen Anzeigen (hauptsächlich auf YouTube), wobei Schokolade und Süssigkeiten den grössten Anteil der Anzeigen in dieser Kategorie ausmachten.
Besorgniserregend ist, dass gerade die jüngste Altersgruppe (vier bis neun Jahre) dieser Art von Werbung am stärksten ausgesetzt ist.
«Im Rahmen der geplanten Revision des Lebensmittelgesetzes prüft das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen die Möglichkeit, die an Kinder gerichtete Werbung für zu süsse, zu fette, zu salzige oder zu energiereiche Produkte zu reglementieren. Dies ist das Ergebnis jahrelanger erfolgloser Verhandlungen mit der Lebensmittelindustrie über eine freiwillige Reduktion der an Kinder gerichteten Werbung», erklärte eine Sprecherin des Bundesamtes für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen gegenüber SWI swissinfo.ch per E-Mail.
Die Schweizer Studie, zu der auch das Pilotprojekt CLICK gehört, analysierte auch die Art und Weise, wie Lebensmittelunternehmen Kinder ansprechen, und warnte, dass sich die Online-Werbung von der Fernsehwerbung unterscheide.
Online-Werbung verwischt Grenzen
Kinder erkennen Fernsehwerbung bereits im Alter von fünf Jahren. Mit etwa acht Jahren sind sie in der Lage zu erkennen, dass Werbung dazu dient, Produkte zu verkaufen, und mit elf Jahren werden sie sich bewusst, dass sie überredet werden, etwas zu kaufen.
Online-Werbung ist subtiler und daher für Kinder schwerer zu erkennen als Fernsehwerbung. Sechsjährige erkennen nur ein Drittel der Werbung im Internet, Achtjährige etwa die Hälfte und Zehn- bis Zwölfjährige drei Viertel. Einer der Gründe, die im Schweizer Bericht genannt werden, ist das Fehlen von Werbejingles in der Online-Werbung. Im Fernsehen haben Werbespots, die sich an Kinder richten, in der Regel am Anfang und am Ende einen Jingle, der den Kindern hilft, die Werbung vom Inhalt zu unterscheiden.
Werbehinweise sind für Kinder schwer zu erkennen
Unternehmen und Influencer:innen sind oft dazu verpflichtet, auf Markenpartnerschaften oder Gesundheitswarnungen hinzuweisen, wenn sie online für ein Produkt werben. Damit Kinder diese jedoch verarbeiten können, ist das Timing solcher Warnhinweise und Haftungsausschüsse in einer Werbung entscheidend. Werden sie einzeln vor Beginn des Videos eingeblendet, sehen Kinder die Hinweise etwa zweieinhalb Mal länger, als wenn sie als Teil der Werbung gezeigt werden.
Gesundheitswarnungen und Werbehinweise sind wirksamer, wenn sie ohne gleichzeitige Einblendung anderer Inhalte gezeigt werden. Grundsätzlich wird Werbung besser als solche erkannt, wenn sie vor dem Video als solche gekennzeichnet ist und nicht während des Videos.
«Heutzutage bieten die Online-Plattformen diese Art von Einstellungen nicht an. Warnungen und Hinweise werden immer gleichzeitig mit dem Inhalt angezeigt», heisst es im Schweizer Bericht.
Peer-to-Peer wirkt besser als Direktmarketing
Bereits 2013 haben Studien gezeigt, dass visuelle Hinweise auf sogenannte HFSS-Lebensmittel (mit hohem Fett-, Zucker- und Salzgehalt), die von Influencer:innen in sozialen Netzwerken präsentiert werden, das Essverhalten von Kindern im Alter von neun bis elf Jahren beeinflussen. Dies gilt insbesondere dann, wenn es sich bei den Influencer:innen um Kinder handelt. Eine solche Peer-to-Peer-Online-Werbetechnik, die von Markenartiklern eingesetzt wird, sind «Kids-Unboxing-Videos» auf YouTube.
Laut dem Schweizer Bericht hat die Werbung für Lebensmittel und Snacks durch Gleichaltrige in den sozialen Netzwerken eine grössere Wirkung auf Kinder als Direktmarketing. Dies liegt daran, dass Kinder die persuasive Wirkung von Botschaften weniger gut einschätzen können und daher den Empfehlungen zum Kauf ungesunder Lebensmittelprodukte mehr Vertrauen schenken.
2020 hat YouTube Lebensmittelwerbung auf seinen «Made for Kids»-Kanälen verboten. Eine Studie der University of ConnecticutExterner Link, die die Wirkung von 400 YouTube-Videos von 13 beliebten amerikanischen Kinder-Influencer:innen-Kanälen untersuchte, ergab jedoch, dass 65% der Videos mindestens eine Form von Lebensmittelwerbung enthielten. Von den beworbenen Markenlebensmitteln konzentrierten sich 47% der Auftritte von Kinder-Influencer:innen im Jahr 2020 auf Süssigkeiten.
«Im Juni 2020 lag die Gesamtzahl der Videoaufrufe für die in dieser Studie analysierten Kanäle bei über 155 Milliarden», so die Autoren der Studie.
Nutzergenerierte Inhalte
Studien zeigen, dass nutzergenerierte Inhalte 18% der Gesamtexposition von Kindern mit Lebensmittel- und Getränkewerbung in sozialen Netzwerken ausmachen. Ein Beispiel für den Erfolg einer solchen Strategie ist die Coca-Cola-Kampagne von 2014, bei der die Namen von Menschen auf Flaschenetiketten gedruckt wurden. Mit dem Hashtag «#ShareaCoke» wurden Internetnutzer aufgefordert, ein Foto von sich zu machen, auf dem sie eine Flasche Cola mit ihrem Namen auf der Verpackung trinken, und es in den sozialen Medien zu teilen.
Infolge dieser Kampagne stieg der Coca-Cola-Konsum bei Jugendlichen im Vergleich zum vorangegangenen Sommer um mehr als 1,25 Millionen Flaschen, was zu einem Umsatzwachstum von 11% beitrug.
«In Bezug auf nutzergenerierte Inhalte (User Generated Content, UGC) ist es schwierig, Vorschriften zur Beschränkung von HFSS-Werbung in sozialen Netzwerken zu erlassen, da zuerst festgestellt werden muss, ob der Inhalt kommerzieller Natur ist oder von einer Einzelperson ohne kommerzielle Absicht erstellt wurde», heisst es im Schweizer Bericht.
Dieser Artikel ist Teil unserer Berichterstattung über die Entwicklungen in der Lebensmittelindustrie aus Sicht der Konsument:innen. Trotz ihrer geringen Grösse ist die Schweiz bedeutend im globalen Lebensmittelmarkt. Sie beherbergt Lebensmittel- und Agrargiganten wie Nestlé und Syngenta sowie wichtige Akteure in den Bereichen Schokolade und Milchprodukte.
Das Land positioniert sich auch als Food-Tech-Hub mit vielen Start-ups und einem eigenen Inkubator in Form des Swiss Food and Nutrition Valley im Kanton Waadt.
Die Schweiz ist auch eine europäische Drehscheibe für viele Rohstoffunternehmen, die mit Lebensmitteln wie Soja, Kakao, Kaffee und Palmöl handeln.
Übertragen aus dem Englischen von Michael Heger.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch