Opfer von Menschenhandel sollen besser geschützt werden
Wer im Ausland ausgebeutet worden ist, wird in der Schweiz von der Opferhilfe ausgeschlossen – dieser Umstand sorgt schon lange für Kritik. Nun könnte sich die Situation ändern.
Eine Frau irrt in der Nacht entlang einer unbeleuchteten Strasse – irgendwo in der Schweiz. Ein vorbeifahrender Autofahrer hält an. Die weinende Frau bittet ihn, die Polizei zu benachrichtigen.
Als diese erscheint, erzählt sie ihnen ihre Geschichte: Sie sei von Zuhältern zur Prostitution gezwungen worden und wurde gemeinsam mit weiteren Frauen in einem Van nach Deutschland transportiert, als ihr auf einer Raststätte bei einer WC-Pause die Flucht gelang.
Der Fall ereignete sich Anfang Februar und ist beispielhaft für viele. Die Betroffene, die gemäss eigenen Angaben aus dem Kongo stammt, trug nichts bei sich, konnte sich nicht ausweisen und war behördlich nicht registriert.
Die Polizei stufte ihre Aussagen aber als glaubwürdig ein und leitete Ermittlungen ein. Die Frau wurde nach einem kurzen Spitalaufenthalt in eine Schutzeinrichtung untergebracht.
Gemäss Polizei wurde sie zuvor sexuell ausgebeutet, in einschlägigen Etablissements in der Westschweiz. Dass dies in der Schweiz geschah, ist ihr Glück im Unglück.
«Wäre sie beispielsweise in Italien ausgebeutet worden, hätte sie bei ihrer Flucht in der Schweiz keinen Anspruch auf den gleichen Schutz», sagt Géraldine Merz von der Fachstelle Frauenhandel und FrauenmigrationExterner Link (FIZ). Denn: Wer Opfer von Menschenhandel im Ausland wurde und keinen Schweizer Wohnsitz hat, ist von den Leistungen der Opferhilfe ausgeschlossen.
Konkret heisst das: Ihr wären eine spezialisierte Unterbringung und fachgerechte Beratung nicht finanziert worden, auch nicht die dafür nötigen Übersetzungskosten. Und ohne Aufenthaltsberechtigung könnte ihr auch die Ausweisung drohen.
Das seien keine Lappalien, sagt Merz: «Fälle von Menschenhandel sind ohnehin aufwendig und kompliziert. Wenn sie in einem anderen Land stattgefunden haben, wird das Ganze nochmals schwieriger.» Umso wichtiger sei es darum, den Opferschutz in der Schweiz entsprechend auszubauen.
Dieser ist in solchen Fällen zentral: Denn die internationale Kriminalitätsbekämpfung ist im Bereich Menschenhandel auf Aussagen der Betroffenen besonders angewiesen.
Für diese ist es aber sehr schwierig, für ein Gerichtsverfahren zur Verfügung zu stehen, wenn sie erstens gar keinen Zugang zu einer spezialisierten Beratung und Unterbringung haben, und zweitens fürchten müssen, danach trotzdem abgeschoben zu werden.
Denn sie befinden sich nicht nur in einer emotional schwierigen und finanziell prekären Lage – sondern sie müssen konkret auch um ihre Sicherheit fürchten: Eine Ausweisung könnte sie direkt wieder ihren Peinigern in die Arme treiben.
Die Schweiz wird vom Expertengremium Greta des Europarats schon länger dafür kritisiertExterner Link, Opfer von Menschenhandel je nach Tatort unterschiedlich zu behandeln – damit verstösst sie gegen die KonventionExterner Link des Europarats gegen Menschenhandel und gegen die Istanbul-Konvention.
Unübersichtliche Situation
Die Schweiz liegt geografisch im Herzen Europas, ist ein Verkehrsknoten und hat – als Schengen-Mitglied – keine systematischen Grenzkontrollen. Sie ist somit nicht nur Zieldestination für Opfer von Menschenhandel, sondern auch Transitland.
Sich einen Überblick über das Ausmass zu verschaffen ist jedoch schwierig. Die spezialisierten FachstellenExterner Link der Plateforme Traite, zu der auch die FIZ gehört, haben im Jahr 2021 insgesamt 492 Betroffene betreut. Verurteilungen wegen Menschenhandel gab es jedoch nur in 13 Fällen. Insgesamt werden also weit mehr Opfer verzeichnetExterner Link, als Urteile gefällt oder Straftaten überhaupt polizeilich erfasst werden.
Dass es professionelle Menschenhändler-Ringe und eine hohe Dunkelziffer solcher Verbrechen gibt, bestätigtExterner Link auch die Polizei. Doch dass Opfer – wie im eingangs erwähnten Fall – ihren Peinigern entfliehen und die Polizei alarmieren, kommt selten vor. » Menschenhandel spielt sich im Verborgenen ab, die Opfer fürchten zudem um ihre Sicherheit oder der ihrer Verwandten», erklärt Merz.
Ein Teil des Problems ist aber auch der schweizerische Föderalismus. Selbst das Bundesamt für Polizei stellt in einem BerichtExterner Link fest, dass es grosse kantonale Unterschiede gibt. Nicht alle Kantone priorisieren die Bekämpfung des Menschenhandels gleich – und nicht überall ist das nötige Fachwissen bei den Behörden vorhanden. Nicht selten bleiben Betroffene deshalb unerkannt und erhalten dementsprechend auch keinen Schutz.
Wie kann man Menschenhandel und Zwangsarbeit erkennen? Ein Gespräch aus dem SRF-Archiv:
Vorstoss im Parlament
Nachdem zivilgesellschaftliche Organisationen seit Jahren auf den Missstand hinweisen, könnte sich nun etwas ändern. Die Rechtskommission des Nationalrats behandelt eine parlamentarische InitiativeExterner Link, die eine Anpassung im Opferschutzgesetz vorsieht. Betroffene von Menschenhandel und sexualisierter Gewalt mit Tatort im Ausland würden damit die gleiche Hilfe erhalten, wie diejenigen, die in der Schweiz ausgebeutet wurden.
Zudem hat der Bundesrat kürzlich einen neun nationalen Aktionsplan gegen MenschenhandelExterner Link verabschiedet. Auch dieser sieht vor, dass «Personen, die sich in der Schweiz aufhalten und im Ausland Opfer von Menschenhandel wurden, den erforderlichen Schutz und die erforderliche Hilfe» erhalten.
Das begrüsst auch Merz: «Denn der vorliegende Fall zeigt exemplarisch auf, dass Menschenhandel in der Regel grenzüberschreitend funktioniert.» Und transnationale Kriminalitätsbekämpfung hinkt den kriminellen Netzwerken in der Regel einen Schritt hinterher. Ein griffigerer Opferschutz würde in solchen Fällen nicht nur den Betroffenen helfen, sondern auch die Justiz stärken.
Wer würde davon profitieren?
Im InitiativtextExterner Link wird eine nicht abschliessende Liste von Betroffenen genannt, die von der Änderung profitieren könnten: Opfer häuslicher Gewalt, Opfer weiblicher Genitalverstümmelung, Opfer sexualisierter Gewalt, Opfer von Zwangsheirat, Opfer von Menschenhandel und Opfer aller anderen geschlechtsspezifischer Gewalt.
Zur Veranschaulichung wird auch ein Beispiel mit Bezug zum Ukraine-Krieg genannt: «Beispielsweise würde eine Frau, die in der Ukraine aufgrund des Konflikts sexualisierte Gewalt von russischen Soldaten erlebt hat oder auf dem Fluchtweg aus der Ukraine Opfer von Menschenhandel oder einer Vergewaltigung wurde, aktuell in der Schweiz keine Unterstützungsleistungen (Zugang zu Beratung bei Fachstellen, psychologische Unterstützung, Rechtsberatung) basierend auf dem Opferhilfegesetz erhalten.»
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