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Mafiöse Unterwanderung: Graubünden schlägt zurück

Briefkasten mit vielen Firmennamen
Geschäftshaus in Zug: Eine Adresse für Dutzende von Unternehmen. © Keystone / Alexandra Wey

Die Behörden des Kantons Graubünden scheinen die Gefahr von mafiöser Unterwanderung ernst zu nehmen. Nach jahrelanger Untätigkeit schärft der Kanton seine Instrumente, um das Phänomen der so genannten Briefkastenfirmen zu bekämpfen.

Den Ausschlag gab ein Brief, den die Bündner Parlamentarierin und Bürgermeisterin von San VittoreExterner Link, Nicoletta Noi-Togni, nach Bern geschickt hatte. In der Folge will sich der Kanton Graubünden nun am Anti-Mafia-Aktionsplan beteiligen, der in der Strategie KriminalitätsbekämpfungExterner Link des Bundes vorgesehen ist.

«Von den italienischen Mafien geht aktuell in der Schweiz eine erhebliche Gefährdung aus. Ihre Mitglieder sind in der Schweiz zum Teil schon über mehrere Generationen hinweg aktiv und das in verschiedenen Deliktbereichen», ist dort zu lesen.

Die Vorsteherin des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements, Karin Keller-Sutter, erachtete das Anliegen der Bündner Grossrätin am 13. Dezember als prüfenswert. Sie leitete es weiter an die Vorsteherin der Bundespolizei (Fedpol), Nicoletta Della Valle.

Antimafia-Aktionsplan

Della Valle ihrerseits machte deutlich, dass sie «die Bedrohung durch die italienische Mafia sehr ernst nimmt» und dass der Operationsplan gegen kriminelle Organisationen «mehrere Massnahmen umfasst, die nicht auf den Kanton Tessin beschränkt sind».

Der italienischsprachige Südschweizer Kanton nimmt unter anderem durch seine geografische Lage eine zentrale Rolle in den Kriminalitätsbekämpfungs-Programmen des Bundes ein. Della Valle begrüsste aber auch die bevorstehende Teilnahme des angrenzenden Kantons Graubünden, die «einen Mehrwert im Kampf gegen die italienische Mafia» bringen würde.

Briefkastenfirmen sind kommerzielle Unternehmen, die nur über eine Postadresse verfügen, aber keine wirkliche Zentrale oder Verwaltung haben (oder überhaupt Personal).

Solche werden hauptsächlich aus steuertechnischen Gründen gebildet. Sie sind nach Bundesrecht nicht per se illegal, obwohl sie in einigen Fällen kriminelle Aktivitäten (Geldwäsche, Steuerbetrug) verschleiern können.

In der Zwischenzeit bestätigte der Vorsteher des Bündner Justiz- und Sicherheitsdepartements, Peter Peyer, die Teilnahme des Kantons auf Bundesebene. Nach Jahren des Stillstands scheint es, dass die Bundes- und Kantonsbehörden ihre Haltung nun entscheidend geändert haben.

Darüber hinaus wird mittlerweile täglich die massive Präsenz kalabrischer Clans in der Lombardei – südlich der Tessiner Grenze – festgestellt. Über lokale Unternehmen verwalten diese eine Vielzahl von Aktivitäten in den Bereichen Gastronomie, Bauwesen und Abfallentsorgung. Die Erlöse aus ihren kriminellen Tätigkeiten können so in die legale Wirtschaft reinvestiert werden.

Die italienischen Ermittler berichten ihren Eidgenössischen Kollegen regelmässig über mögliche, mehr oder weniger diskrete Grenzübertritte von Personen, die mit Mafiaorganisationen in Verbindung stehen.

Die Mafia in der Eidgenossenschaft

Seit mehr als 40 Jahren haben verschiedene Untersuchungen die Präsenz von Mafiaorganisationen in der Eidgenossenschaft festgestellt. Diese sind besonders ausgeprägt im Kanton Tessin.

1994 wurden nach dem Geständnis eines reuigen Mafioso vom Clan der Corleonesi in einem Bauernhaus in der Region Lugano 2 Millionen Dollar gefunden. Ein erster Beweis für die Infiltration der Cosa Nostra auf Schweizer Boden. Der Mafioso war bereits in der internationalen Untersuchung der Pizza Connection involviert.

Später wurden Tätigkeiten von Familienzweigen der kalabrischen ‹Ndrangheta festgestellt. Die Schweiz diente vor allem als logistisches Rückgrat, wo Flüchtige und Kapital Zuflucht finden.

Mit der Inkraftsetzung des Schweizer Geldwäscherei-Gesetzes (Art. 305 bis StGB) 1990 und der Bestrafung bei Mitgliedschaft in einer kriminellen Organisation (260 ter StGB) 1994 drehte sich der Wind.

Doch vor allem die Aufhebung des Bankgeheimnisses (für ausländische Staatsangehörige) machte den Banden das Leben in der Schweiz schwerer.

Neue Regeln für mehr Transparenz im Finanzwesen haben kriminelle Organisationen nun gezwungen, neue Systeme zu entwickeln, um Gelder zu legalisieren: Sie setzen mehr auf Bargeld und Briefkastenfirmen.

«Als ich 2017 das Bürgermeisteramt in San Vittore übernommen habe, gab es in der Bündner Gemeinde mehr als 200 Unternehmen. Heute sind es 107», sagt Noi-Togni. «Wir haben darum gebeten, dass vielen von diesen . die Bewilligung entzogen wird, auch weil wir im Industriegebiet nur 22 Unternehmen zählen.»

Fantasiefirmen

Die Bündner Parlamentarierin stellt ein Fragezeichen hinter diese Fantasiegebilde. Für sie verfügt die Stadtverwaltung nicht über genügend Mittel, um der Verbreitung von Scheinfirmen entgegenzuwirken, hinter denen sich unklare Interessen verbergen können.

«Sie sind legal, weil die Gesetze sie nicht verbieten. Aber welche Ziele verfolgen sie wirklich? Dienen sie dazu, den Steuerbehörden fremder Länder Gelder zu entziehen oder für Schlimmeres?», fragt sich die Bürgermeisterin von San Vittore.

«Darüber hinaus wurden 19 von diesen Firmen derselben Person zugeschrieben. Gegen diese wurde wegen verschiedener Verbrechen in Italien ermittelt. Uns als Behörden sind die Hände gebunden: Sollten wir gerichtlich gegen deren Ansiedlung vorgehen, würden wir sicherlich verlieren.»

Der Kanton Tessin habe um das Jahr 2014 herum die Kontrollen verstärkt, betont Noi-Togni. Das habe zu einer regelrechten Migration ins benachbarte Graubünden geführt, besonders in Gemeinden der angrenzenden Region MoësanoExterner Link, die aus den Tälern Misox und Calanca besteht.

Gemäss mehreren Quellen haben sich zwischen 2013 und 2017 in Bündner Gemeinden 333 Firmen angesiedelt. 277 davon haben sich entlang des Flusses Moësa niedergelassen, der vom San-Bernardino-Pass herunter schliesslich in den Kanton Tessin weiterfliesst.

Insgesamt sind aus dieser Region 1600 Unternehmen im kantonalen Handelsregister eingetragen. Bei einer Bevölkerung von 8300 Personen bedeutet dies: eine Firma pro fünf Einwohnerinnen und Einwohner.

Befremdlich allerdings ist die Tatsache, dass viele dieser Unternehmen – offiziell im Treuhand-, Bau- und Gastronomiebereich tätig – falsche Adressen oder bestenfalls solche in völlig unbewohnten Gemeinschaftsbüros angeben.

Mechanismus zum Nachteil von Sozialversicherungen

Diese Verbreitung von Firmen bringe der Region keine Vorteile, sondern nur Kosten, sagt Noi-Togni. Oft sei ein immer gleicher Mechanismus festzustellen: «Eine ausländische Person gründet eine Firma, lässt sich von dieser als Arbeitnehmer mit einem regulären Arbeitsvertrag einstellen und erhält eine Aufenthaltsgenehmigung», so die Parlamentarierin.

«Nach einigen Monaten geht das Unternehmen in Konkurs, und die betreffende Person erhält Arbeitslosengelder. In der Zwischenzeit hat sie vielleicht eine zweite oder dritte Firma gegründet. Warum erlauben die Beamten des Handelsregisters diesen Personen, all dies zu machen?»

Im Kanton Tessin ist dieses Vorgehen (rasche Aufenthaltsgenehmigung, Gründung von Fantasiefirmen) angesichts der strengen Kontrollen durch die Aufsichtsbehörden gegenwärtig nicht mehr so einfach.

Zu diesem Thema reichte der Bündner Parlamentarier Peter Hans Wellig 2017 eine Interpellation an die Adresse der Regierung in ChurExterner Link ein. Er beklagte, dass die Region Moësano zu einem Eldorado für nutzlose Briefkastenfirmen geworden sei.

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SRF Tagesschau vom 15.11.2019: Die Mafia ist auch in der Schweiz aktiv

Bündner Regierung reagiert

Laut Sicherheitsdirektor Peyer hat die Kantonsregierung kürzlich festgehalten, sie habe ihre Kontrollen intensiviert und seit Januar 2018 rund hundert Unternehmen und mehr als 30 Personen, die mit diesen Unternehmen verbunden seien, die entsprechenden Genehmigungen verweigert.

Sein Regierungskollege Marcus Caduff, Vorsteher des Departements für Volkswirtschaft und Soziales, betonte, Chur verfolge die Entwicklung im Moësano «mit grösster Aufmerksamkeit», um betrügerische Konkurse zu verhindern.

2017 hat das Bündner Amt für Industrie, Gewerbe und Arbeit (KIGA) «in den südlichen Tälern» des Kantons 859 Briefkastenfirmen kontrolliert. In 85 Fällen wurden die angegebenen Personen nicht als Arbeitgebende anerkannt. Doch auch die Gemeinden seien gefordert, ihren Teil beizutragen, sagt Caduff. Sie sollten die Richtigkeit der angegebenen Adressen kontrollieren und überprüfen, ob überhaupt Geschäftsräume für die Durchführung der genannten Tätigkeiten vorhanden seien.

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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