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Beansprucht die Schweiz Organe von Touristinnen und Touristen?

Organentnahme
Die Schweiz hat zu wenig Spendenorgane. Ein neues, vom Volk gutgeheissenes Gesetz soll dies ändern. Das hat auch Konsequenzen für Touristinnen und Touristen. Keystone

Wer nicht widerspricht, hat in der Schweiz in die Organspende eingewilligt. Diese neue Regel soll auch für Ausländer:innen und Touristen gelten. Antworten auf die wichtigsten Fragen.

Mit über 60% Ja-Stimmen hat die Schweizer Stimmbevölkerung am 15. Mai einem neuen Transplantationsgesetz zugestimmt und damit den Weg für die Widerspruchslösung bereitet. Personen ab 16 Jahren, die sich nicht explizit dagegen verwahrt haben, sollen nach Inkrafttreten des Gesetzes als Organspender:innen gelten.

Der Systemwechsel von der Zustimmung zum Widerspruch hat in der Schweiz eine heftige ethische Debatte ausgelöst – und er weckt nun international Misstrauen und Ängste, wie Reaktionen der Leserschaft von SWI swissinfo.ch, dem internationalen Ast der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft SRG, zeigen. Was bedeutet das neue Gesetz für Geschäftsreisende und Tourist:innen? Die Antworten auf die fünf wichtigsten Fragen.

Für wen gilt das neue Transplantationsgesetz und insbesondere die Widerspruchslösung?

Die Widerspruchslösung soll nach Inkrafttreten für alle Personen gelten, die sich in der Schweiz aufhalten, unabhängig von Staatsbürgerschaft und Wohnort. Einzige Einschränkung sind das Alter und die Urteilsunfähigkeit: Sie gilt nicht für Jugendliche und Kinder unter 16 Jahren sowie für Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen, die eine gesetzliche Vertretung haben. In Europa ist die Widerspruchslösung in verschiedenen Ausgestaltungen weit verbreitet, wobei auch die anderen Länder ihre Regeln territorial anwenden.

Kann die Schweiz im Falle eines Hirntodes gegen den Willen die Organe von Verstorbenen entnehmen?

Dieser Fall ist praktisch ausgeschlossen. In der Schweiz wird die sogenannte erweiterte Widerspruchslösung eingeführt. Das bedeutet, die durch das Fehlen des Widerspruchs vermutete Zustimmung muss von Angehörigen bestätigt werden. Sind keine Angehörigen erreichbar, ist die Organentnahme nicht zulässig. Zu einer Entnahme wider Willen kann es nur kommen, wenn die Angehörigen über den Wunsch der Verstorbenen gar nicht oder falsch informiert sind.

Geht die Schweiz in der Organspende jetzt weiter als andere europäische Staaten?

Die erweiterte Widerspruchslösung ist im europäischen Vergleich eher moderat. Zwar besteht mit Deutschland ein prominentes EU-Mitglied auf die Entscheidungslösung (bei der die Zustimmung abgefragt wird), und Dänemark, Irland, Island, Litauen und Rumänien kennen wie bisher die Schweiz die Zustimmungslösung.

Überall sonst hat sich die Widerspruchslösung aber durchgesetzt. Frankreich, Finnland, Griechenland, Italien, Kroatien, Norwegen, Russland und Schweden räumen den Hinterbliebenen ebenfalls das Recht ein, gegen die Organentnahme zu stimmen. In Belgien, Luxemburg, Lettland, Malta, Österreich, Polen, Portugal, Spanien, Tschechien, Ungarn und der Slowakei gilt die Widerspruchslösung ohne Einschränkung.

In der Praxis kann das Nein der Angehörigen allerdings akzeptiert werden. In Österreich sei das der Normalfall, sagte kürzlich Stephan Eschertzhuber, Transplantationsreferent für Organspenden in den österreichischen Bundesländern Salzburg, Tirol, Vorarlberg sowie Südtirol, gegenüber den Tamedia-Zeitungen.

Am weitesten in Europa geht Bulgarien. Hier ist eine Organentnahme sogar gegen die ausdrückliche Erklärung eines Verstorbenen erlaubt, aber nur im Falle eines Notstandes.

Werden in der Schweiz heute schon ausländische Organe transplantiert?

Die Schweiz hat eine der tiefsten Organspendequoten in Europa und ist deshalb schon lange auf Spendenorgane aus dem Ausland angewiesen. Die Situation hat sich über die letzten Jahre zugespitzt, der Anteil der transplantierten Organe, die aus dem Auslands stammen, ist kontinuierlich gestiegen, hat sich etwa von 2014 bis 2019 mehr als verdoppelt. Auch der Export von Spendenorganen ist in dieser Zeit markant gewachsen, aber auf tieferem Niveau.

Eine andere Sache sind Organe von Ausländer:innen, die in der Schweiz entnommen werden. Swisstransplant schätzt die Zahl solcher Spender:innen auf 10 bis 15 pro Jahr, bei aktuell 165 Organentnahmen. Allerdings handelt es sich in den seltensten Fällen um die Organe von Reisenden.

Häufiger ist der Fall, dass im Ausland verunglückte Personen in eines der grossen grenznahen Spitäler gebracht werden und dort versterben. So übernimmt zum Beispiel Genf oft schwierige Fälle aus der Region Grenoble, wie Franz Immer von der Organisation Swisstransplant sagt. Im Gegenzug hätten ausländische Touristen in der Schweiz in akuten Fällen das Recht auf eine Organspende – etwa bei einem plötzlichen Versagen der Leber.

Wenn man eine Organentnahme im Todesfall ablehnt, wie lässt sie sich verhindern?

In der Schweiz wird es auch in Zukunft reichen, die Angehörigen über seine Wünsche im Todesfall zu informieren. Ob die Schweiz ihr Widerspruchsregister auch für Ausländer:innen öffnen wird, wenn das Gesetz in Kraft tritt, ist noch unklar. In Österreich ist das heute schon möglich, aber nur bedingt bekannt. 9000 Einträge aus Deutschland und 400 aus der Schweiz zählt das dortige Register.

Das österreichische Gesundheitsministerium empfiehlt Tourist:innen, eine schriftlicher Erklärung zur Organspende bei den Ausweispapieren mitzuführen, etwa einen Organspende-Ausweis, wie ihn viele Organspende-Organisationen zur Verfügung stellen. In der Schweiz kann eine Organspende-Karte im Kreditkartenformat bei Swisstransplant bezogen werden.

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