Parlament will mehr Kontrolle über Schweizer Aussenpolitik
Aussenpolitik ist Strategie, von Natur aus langsam. Das gilt für die vernetzte, neutrale Schweiz besonders. Kommt eine Krise, wirkt der Alpenstaat aber träge. Bei der laufenden Session zeigt das Parlament deutliche Ambitionen einzugreifen.
Als Russland die Ukraine angriff, wirkte die Schweizer Regierung überrascht und überfordert. Tagelang rang sie nach einer klaren, lesbaren Position. Das tat sie auch, als Ende 2022 auf den Strassen des Iran Aufstände ausbrachen.
Die Situation ist delikat, denn die Schweiz vertritt den Iran in den USA – und umgekehrt. Soll sie als Schutzmacht die Brutalitäten öffentlich benennen und verurteilen? Noch hadert sie damit. Lieber betont man die Effekte des diskreten Dialogs.
Vollends unlesbar hatte die Schweiz 2021 auch gegenüber der Europäischen Union agiert. Sie verhandelte mit Brüssel erst freundlich über Jahre, kniete sich rein mit an Detailversessenheit grenzender Sorgfalt. Dann warf sie alles hin, beendete die Verhandlungen über ein Rahmenabkommen einseitig. Brüssel verstand die Schweiz nicht mehr.
Mehr Mitsprache gefordert
Und in der Schweiz rieb man sich die Augen, speziell in den Aussenpolitischen Kommissionen des Parlaments. Die international gut vernetzten Politiker:innen dort sahen im abrupten Verhandlungsabbruch einen erratischen Akt des siebenköpfigen Bundesrats, der an Volk und Volksvertreter:innen vorbei irreversible Tatsachen geschaffen hatte.
Ist das noch demokratisch?
Der Verhandlungsabbruch erfolgte während der Covid19-Pandemie. Kurz zuvor hatte der Bundesrat ein Notrecht-Regime installiert, um schnelle Krisenerlasse produzieren zu können. Aussenpolitik aber, das stand für die meisten Parlamentarier:innen fest, sollte anders sein. Konsolidiert, besser noch: gesteuert.
In der laufenden Frühlingssession hat das Parlament das Unbehagen nun aufgearbeitet. Auf dem Tisch lagen vier Vorstösse, allen gemein der Grundton: Die Regierung müsse sich enger mit den Volksvertreter:innen absprechen.
Spiegel der Schweizer Seelenlage
«Die Aussenpolitische Kommission fühlte sich übergangen», sagte Kommissionssprecherin Christa Markwalder und verlangte, dass die Europastrategie des Bundesrates dem Parlament künftig nicht mehr nur zur Kenntnis gegeben werde. Dieses solle künftig auch formell seinen Segen dazu gebenExterner Link – oder eben: verweigern – können.
Es war der Auftakt zu einer Grundsatz-Debatte über Nutzen und Schaden von mehr oder weniger Annäherung an Europa. «Uns läuft im Europadossier die Zeit davon», argumentierte Markwalder.
Die Abstimmung verlief mit 96 Ja zu 94 Nein äusserst knapp, die Bestätigung einer Diagnose von Politgeograf Michael Herrmann: «Die Europadebatte spiegelt die Seelenlage der Schweiz. Es ist immer etwa 50:50.»
Die Europadebatte ging weiter mit dem zweiten Vorstoss der Aussenpolitischen Kommission. Dieser verlangt, dass die Schweiz sofort mit der EU Verhandlungen aufnimmtExterner Link. «Die schockartigen Auswirkungen des Brexits zeigen, was in der Schweiz in Zeitlupentempo passiert», warnte Kommissionssprecher Roland Fischer (Grünliberale).
Vielen geht es zu langsam
Derzeit führt die Schweiz mit der EU nur Sondierungsgespräche. Sie will herausfinden, worüber überhaupt verhandelt werden könnte. Vielen geht das zu langsam.
Hauptsächlich die Rechte aber mahnt zur Geduld: «Die Aussenpolitische Kommission versucht immer selber die Verhandlungen zu führen, anstatt den Bundesrat machen zu lassen», eilte Christian Wasserfallen, FDP, seinem FDP-Bundesrat Cassis zu Hilfe. «Die Langsamkeit ist ein Trumpf unseres Landes», ergänzte Roger Köppel, SVP. Wieder fiel ein knapper Entscheid: 90 Ja zu 98 Nein bei 8 Enthaltungen.
Dann die nächste Speerspitze des Parlaments: Die Aussenpolitische Kommission forderte grundsätzlich mehr MitspracheExterner Link. Die Kompetenzverteilung zwischen Parlament und Bundesrat in der Aussenpolitik sei «seit vielen Jahren Gegenstand von Diskussionen», sagte Fabian Molina, SP. «Der Bundesrat wehrte sich in der Regel erfolgreich gegen eine engere Begleitung durch die Bundesversammlung», fügte er an.
Inhaltlich war der Bundesrat im Vorfeld dieser Session dem Anliegen bereits entgegengekommen. Das führte zu einer diskussionslosen Annahme der Motion.
Härtere Gangart gegen Irans Regime?
Schliesslich wies das Parlament den Bundesrat noch richtig in die Schranken. Die Regierung solle die iranische Zivilgesellschaft aktiv unterstützen und auch die Sanktionen gegen den Iran übernehmenExterner Link, welche die EU wegen der Menschenrechtsverletzungen dort beschlossen hat.
Aussenminister Ignazio Cassis schrieb der Schweiz in der Debatte vergeblich die «Sonderrolle einer konstruktiven Drittpartei» zu. «Wir nutzen bewusst unsere aussenpolitischen Spielräume zur eigenständigen Positionierung im Sinne dieser Sonderrolle, auch in Bezug auf die Übernahme von Sanktionen», sagte Cassis.
Mit 105 zu 65 Stimmen und 8 Enthaltungen wurde der Willen des Bundesrates übersteuert.
Die drei angenommenen Motionen gehen zur weiteren Beratung in den Ständerat. Gesetz ist noch nichts, aber therapeutische Aufarbeitung ist erfolgt.
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