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Wird Frankreich unter Macron etwas «schweizerischer»?

Die konsensorientierte Seite von Emmanuel Macron ist etwas sehr Helvetisches. AP

Im neuen französischen Parlament wird eine stattliche Anzahl Abgeordneter sitzen, die nicht etablierte Berufspolitiker sind. Und in der Regierung verfolgt der neue Präsident Emmanuel Macron einen parteiübergreifenden Ansatz. Eine Revolution "nach Schweizer Art"?


Jean-Marie Fievet, von Beruf Feuerwehrmann, liegt nach der ersten Runde der Parlamentswahlen im Departement Deux-Sèvres mit klarem Vorsprung auf dem ersten Platz. Kommt es nicht noch zu einer Überraschung, wird er Einsitz nehmen im Palais Bourbon, im «Allerheiligsten» der Republik. Wie Aude Amadou, eine ehemalige Profi-Handballspielerin, Michel Delpon, ein Weinhändler aus der Dordogne oder Cédric Villani, ein Mathematiker. Und möglicherweise auch die frühere Stierkämpferin Marie Sara, wenn sie als Siegerin aus dem zweiten Wahlgang hervorgeht.  

«Die Politik sollte kein Beruf mehr sein. Fünf oder zehn Jahre im Verlauf eines Lebens vielleicht, aber nicht vierzig Jahre lang.»
Aurore Bergé, Kandidatin von «La République en Marche»

Die «Zivilgesellschaft» dürfte in der Nationalversammlung zu einem fulminanten Einstieg kommen, in einem Ausmass, wie man es in der Vergangenheit noch nie gesehen hat. Die nicht etablierten Polit-Neulinge machen etwa 35% der Kandidaten und Kandidatinnen von «La République en Marche» aus, der von Emmanuel Macron gegründeten Bewegung. In der Nationalversammlung werden ohne Zweifel zwischen 150 und 200 (von 577) Abgeordnete sitzen, die noch nie ein politisches Amt ausgeübt haben.  

«Die Politik sollte kein Beruf mehr sein», erklärte die 30 Jahre alte Aurore Bergé, Kandidatin für «La République en Marche» in der Region Paris, in einem Beitrag von Radio France Inter. «Fünf oder zehn Jahre im Verlauf eines Lebens vielleicht, aber nicht vierzig Jahre lang.»

Kann man deswegen mit Blick auf die künftige Nationalversammlung von einem «Milizparlament» nach Schweizer Art sprechen (obschon auch dieses immer professionalisierter wird)? Nicht wirklich, die künftigen Abgeordneten von «En Marche» haben sich verpflichtet, sich ganz ihrem neuen Leben als «gewählte Vertreter der Nation» zu widmen. 

Der Wandel ist aber bedeutend. Die Nationalversammlung wird nicht nur grundlegend erneuert, sie wird auch diversifizierter sein. Im Parlament wird es viel mehr unterschiedliche Profile geben als bisher, die repräsentativer für die französische Gesellschaft sein werden. Auch «La France Insoumise» (Unbeugsames Frankreich), die Linkspartei von Jean-Luc Mélenchon, wird Abgeordnete im Parlament stellen, die nicht Berufspolitiker sind.

Eine parteiübergreifende Regierung?

Am Sonntagabend, nach dem zweiten Wahldurchgang, könnte Emmanuel Macron versucht sein, eine Regierung zu bilden, die nur ihm untersteht, 100% «En Marche». Mit der sehr klaren «Macron»-Mehrheit, die sich für das Parlament abzeichnet, ist er nicht darauf angewiesen, eine Regierung zu bilden, an der auch die Rechte oder Linke beteiligt ist. Er muss keine Unterstützung bei den Republikanern oder Sozialisten suchen: Erstere sind nach den Wahlen angeschlagen, die zweiten platt gewalzt.

Dennoch werden Macron und sein Premierminister Edouard Philippe die Regierung wohl kaum grundlegend umbauen. Die Mitte Mai gebildete Equipe ist eine Kombination aus Zentrum, Rechter und Linker: Einige sozialistische Schwergewichte, junge Figuren der Republikaner-Partei (klassische Rechte) und Mitglieder der Mittepartei «MoDem» von François Bayrou.

«Zauberformel» à la Macron

Es sei ein «fundamentaler Bruch» meinte der französisch-schweizerische Journalist François Hauter im Mai in einem Artikel der Westschweizer Zeitung Le Temps. Mit den alten Wechseln zwischen der Rechten und Linken sei es vorbei. Macron verfolge ein «Vorgehen ‹à la Suisse›, wo die Verantwortlichen aller Parteien lernen müssen, miteinander auszukommen und Konzessionen zu machen, um Projekten von nationalem Interesse zum Durchbruch zu verhelfen», schrieb der ehemalige Reporter des Figaro. 

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«Vergessen wir nicht, dass diese Politik des Zusammenbringens ganz allein vom Willen des französischen Präsidenten abhängt, des ‹republikanischen Monarchen›.»
François Nordmann, ehemaliger Schweizer Botschafter in Paris

Macron, Apostel des Schweizer Konsenses, oder gar der «Zauberformel»? «Vergessen wir nicht, dass diese Politik des Zusammenbringens ganz allein vom Willen des französischen Präsidenten abhängt, des ‹republikanischen Monarchen'», erklärt François Nordmann, ehemaliger Schweizer Botschafter in Paris. «In der Schweiz hingegen spiegelt das Regieren im Konsens das Kräfteverhältnis im Parlament.»

Der Diplomat ruft zudem in Erinnerung, dass diese französische Erfahrung mit einer parteiübergreifenden Regierung nicht völlig neu sei: 1945, 1958 und sogar 1988 bei der Wiederwahl von François Mitterrand und 2007 bei der Wahl von Nicolas Sarkozy sei die Regierungszusammensetzung jeweils mehr oder weniger auf das Gegenlager ausgedehnt worden.

Macron, der «Girondist»

«Ich bin ein Girondist», verkündete Emmanuel Macron. Ein Girondist wie jene, die sich im Verlauf der französischen Revolution den Jakobinern widersetzten, die ein stark zentralistisches Frankreich wollten. Mehr als zweihundert Jahre später ist der Begriff zu einem Allerweltswort geworden. Er kann sowohl «moderat» bedeuten, als auch dafür stehen, dass jemand an der französischen Vielfalt hängt.

«Emmanuel Macron akzeptiert klar die Idee einer differenzierten Dezentralisierung, oder anders gesagt, dass man nicht zwangsläufig die gleiche Organisation für alle Territorien haben muss», fasste der Grüne François de Rugy in der Huffington Post zusammen.

Was zum Beispiel die Regelung der Schulzeiten angeht, möchte der Präsident es den Gemeinden überlassen, ob sie die betreffende Reform, welche die sozialistische Regierung eingeführt hatte, umsetzen wollen oder nicht. Eine im jakobinischen Frankreich ziemlich seltene Freiheit.

Was die Organisation Frankreichs angeht, schlägt Macron vor, einen Viertel der heutigen Departemente abzuschaffen, und zwar jene, in denen es auch eine als Metropole bezeichnete Körperschaft gibt, um die beiden Strukturen zu verschmelzen. Macron bezeichnet diesen Vorschlag als «Girondisten-Pakt zwischen dem Staat und den Körperschaften (collectivités)».

Dies ist jedoch weit entfernt von einer Idee der Girondisten, die der Philosoph Michel Onfray in seinem letzten Werk «Décoloniser les provinces» (Provinzen dekolonisieren) wiederbelebt hat. Indem er den Jakobinismus an den Pranger stellt und die «sehr alte kommunalistische Tradition» der Schweiz rühmt, schlägt Onfray eine Girondisten-Revolution vor: «Die Provinzen in einem Girondisten-Staat zusammenschliessen, der den  bundesstaatlichen Charakter von Volksabstimmungen garantiert; mit Hilfe von politischen Zellen von der Gemeinde bis zur Region eine Gegenmacht schaffen», usw.

Wenn Emmanuel Macron ein Girondist ist, dann auf begrenzte Art und Weise. 

Die «En Marche»-Welle

Die Partei «La République en Marche» (LREM) von Emmanuel Macron hat den ersten Durchgang der Parlamentswahlen mit 32,32% der abgegebenen Stimmen klar gewonnen, vor den Republikanern (21,56%) und dem «Front National» (13,2%). Die Linkspartei «La France insoumise» kam auf 11% der Stimmen, die Sozialistische Partei auf nur noch 9,5%. Die Wahlabstinenz betrug 51,29%.

Laut Wahlprognosen sollten «La République en Marche» und die mit ihr verbündete «MoDem»-Partei nach dem zweiten Wahlgang in der neuen Nationalversammlung auf 400 bis 440 Sitze kommen (von insgesamt 577). Die Rechte kann laut Prognosen mit etwa 100 Mandaten rechnen, die Sozialistische Partei mit 15 bis 25, ebenso «France Insoumise», und der rechtspopulistische «Front national» mit 2 bis 5 Sitzen.

Joachim Son-Forget, der LREM-Kandidat, hat den ersten Durchgang für den Parlamentssitz der französischen Staatsangehörigen in der Schweiz und in Liechtenstein gewonnen. Der 34 Jahre alte Arzt kam auf 64,93% der abgegebenen Stimmen. Er lag damit weit vor der bisherigen Abgeordneten, Claudine Schmid von den Republikanern (Les Républicains), die 15,93% der Stimmen erhielt. Auf dem dritten Platz landete mit 7,74% der Stimmen Jean Rossiaud, der Kandidat der Grünen (d’Europe Ecologie Les Verts). 

(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)

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