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Vom Schweizer Dilemma im Kampf um Covid-19-Patentrechte

Eine Frau in einem Labor.
Sollte sich ein Impfstoff oder eine andere Behandlung im Kampf gegen Covid-19 als wirksam erweisen, könnte es zu einem Verteilungskampf kommen. Denn es ist unwahrscheinlich, dass anfangs genug davon vorhanden sein wird. © Keystone / Gaetan Bally

Soll der Patentschutz bei der technologischen Entwicklung von Mitteln gegen Covid-19 gelockert werden? Die Schweiz steht zwischen etablierter Praxis und globaler Solidarität, wenn es um die Finanzierung von einträglichen medizinischen Innovationen geht.

Sowohl die Wirtschaft als auch die selbsterklärte Identität der Schweiz als Innovationsmotor hängen stark von Patentrechten und den damit verbundenen Erträgen ab. Das Land hat die meisten europäischen Patentanmeldungen pro Kopf und schneidet in Rankings der Patentqualität gut ab. Ein Grossteil dieser Patente ist im biomedizinischen Bereich angesiedelt.

Kein Wunder also, haben die jüngsten Aufrufe globaler Gesundheitsbefürworter und einiger Regierungen in der Schweiz für Unruhe gesorgt: Der Patentschutz sei während der Covid-19-Krise zu lockern, um Medikamente und Impfstoffe auf breiter Basis verfügbar zu machen, lautet die Forderung. Dies bringt die Schweiz in eine unbequeme Lage zwischen Wirtschaftsinteressen und globaler Solidarität.

An der Generalsversammlung der WeltgesundheitsorganisationExterner Link (WHO) in Genf vor ein paar Wochen unterstützte die Schweiz eine Resolution, welche eine Lizenzierung von Patenten zur Bekämpfung von Covid-19 auf freiwilliger Basis forderte. Vorschläge, Patente durch Zwangslizenzen, offene Lizenzvergaben oder einen sogenannten «Volksimpfstoff» aufzuheben, stiessen auf wenig Wohlwollen.

«Die Schweiz nimmt die Rechte an geistigem Eigentum sehr ernst und wird das Regime nicht so leicht untergraben», sagt Gaétan de RassenfosseExterner Link gegenüber swissinfo.ch. Er ist Professor für Innovation und Politik des geistigen Eigentums an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Lausanne (EPFL).

Ein Bruch mit fest verankerten Ansichten und Gesetzen zum Patentschutz könnte die Tür öffnen zu einer Debatte über Patente in anderen Bereichen. Denn Medikamente gegen Krebs und seltene Krankheiten sind für einige öffentliche Gesundheitssysteme bereits heute unerschwinglich.

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Wir erinnern uns: Präzedenzfall HIV

Viele im öffentlichen Gesundheitswesen betrachten es als Präzedenzfall, was vor ein paar Jahrzehnten geschah, als HIV-Medikamente auf den Markt kamen: Die Marktexklusivität hielt die Preise so hoch, dass weniger wohlhabende Länder mit dem grössten Bedarf an diesen Medikamenten faktisch ausgeschlossen wurden.

Im Jahr 2001 senkte die in Basel ansässige Firma Roche den Preis ihres HIV-Medikaments Nelfinavir um 40%. Brasiliens Regierung hatte zuvor damit gedroht, Zwangslizenzen zu verwenden. Denn eine Klausel im Gesetz über geistiges Eigentum erlaubt es Ländern unter gewissen Bedingungen, ohne Zustimmung des Patentinhabers Lizenzen an öffentliche Gesundheitsbehörden oder Generikahersteller zu vergeben.

Staaten zahlen und stellen Ansprüche

Covid-19 rückt dieses Thema wieder in den Vordergrund. Mit zusätzlicher Dringlichkeit, weil Milliarden an Steuergeldern – auch aus der Schweiz – in die Impfstoffforschung und in klinische Studien fliessen. Dies hat zu einem nationalistischen Dominoeffekt geführt, weil eine wachsende Zahl von Ländern Ansprüche auf Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen erhebt.

Der in Paris ansässige Pharmakonzern Sanofi geriet unter Druck Frankreichs, nachdem sein CEO erklärt hatte, die US-Regierung habe das Recht auf die grösste Vorbestellung eines möglichen Covid-19-Impfstoffs, weil die USA durch Investitionen ein Risiko eingegangen seien.

In der Schweiz kam die Frage auf, ob das Land als erstes Zugriff auf Diagnostika, Behandlungen oder Impfstoffe haben werde, die auf Schweizer Territorium von Firmen wie Roche oder Lonza entdeckt oder hergestellt werden. Der Bundesrat kündigte letzte Woche an, dass er mit Herstellern verhandle und 300 Millionen Franken zur Verfügung stelle, um der Bevölkerung den Zugang zu einem Impfstoff zu sichern.

Firmen versprechen Zusammenarbeit

Während die Regierungen um einen Sonderzugang zu vielversprechenden Lösungen buhlen, versuchen die meisten grossen Pharmaunternehmen, die an Covid-19-Produkten arbeiten, sich aus dem Fadenkreuz zu halten – zumindest öffentlich. Sie preisen die «beispiellose Zusammenarbeit» der Industrie und die Notwendigkeit der Solidarität.

«Ich spüre eine echte Verantwortung unter den Branchenführern», sagt Thomas Cueni, Generaldirektor des in Genf ansässigen Dachverbands der Pharmaindustrie (IFPMA). «Wir wollen keine Lotterien darüber veranstalten, wer unsere Medikamente und Impfstoffe bekommt.»

Schweizer Pharmaunternehmen seien sich bewusst, dass die Nachfrage nach neuen Behandlungen und Impfstoffen das Angebot übersteigen könnte, so Cueni. Aber sie würden sich energisch gegen eine Patentschutz-Lockerung wehren.

Als Teil des «Arsenals an Optionen, um alle Covid-19-Produkte zugänglich zu machen», zögen die Firmen stattdessen freiwillige Lizenzen und bereits bestehende Mechanismen in Betracht, die sich auf den Medikamenten-Zugang für ärmere Länder konzentrierten, sagt Cueni.

Die Pharmariesen hoffen auch, Patentfragen durch ein verstärktes Angebot abzuwehren. Roche werde die Produktion des Arthritis-Medikaments Actemra hochfahren, das derzeit in klinischen Studien gegen Covid-19 getestet wird, sagte ein Sprecher gegenüber swissinfo.ch. Bis Ende Jahr will Roche zudem die Produktion seines neuen Coronavirus-Antikörpertests auf mehr als 100 Millionen Tests pro Monat mehr als verdoppeln.

Dennoch räumt das Unternehmen ein, dass die Nachfrage nach Tests «auf absehbare Zeit das Angebot übersteigen wird». Roche ermutigt deshalb Länder, die Tests für diejenigen zu priorisieren, die deutliche Symptome aufweisen.

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Ohne Patente kein Druckmittel

Patrick Durisch, Gesundheitsexperte bei der Nichtregierungsorganisation Public Eye, hält wenig davon, auf freiwilliges Handeln der Industrie zu setzen. Dies könne eine globale Antwort auf die Pandemie behindern. «Es liegt im öffentlichen und globalen Interesse, so viele Produzenten wie möglich zu haben und Covid-19-Lösungen dort verfügbar zu machen, wo sie benötigt werden», sagt er.

«Die Unternehmen versuchen, mit Arzneimittelspenden und der gemeinsamen Nutzung ihrer Molekülbibliotheken guten Willen zu zeigen», so Durisch. Die Kontrolle über die Herstellung und die Patente wollten sie aber nicht aufgeben.

Public Eye ist eine von mehr als 70 Organisationen und Einzelpersonen, die Regierungen, darunter auch jene der Schweiz, auffordern, die Bündelung von Rechten und die offene Lizenzvergabe für alle TechnologienExterner Link zu unterstützen, die für die Prävention, Erkennung und Behandlung von Covid-19 notwendig sind.

Dazu gehören nicht nur die Rezepte für Medikamente, sondern auch «Geschäftsgeheimnisse», einschliesslich Technologie und Herstellungsverfahren, wie Durisch sagt.

Innovationsexperte de Rassenfosse hält es für unwahrscheinlich, dass Unternehmen diese Kontrolle aufgeben. «Vermutlich werden sie [die Unternehmen] Patente als Druckmittel bei Verhandlungen mit einzelnen Regierungen oder zum Erhalt einer gewissen Entschädigung nutzen. Wenn sie nicht patentieren, haben sie nichts mehr zum Tauschen», sagt er.

Einige Firmen haben bereits Verträge mit Herstellern in Asien für patentierte Medikamente abgeschlossen und sind damit eine offene Lizenzvergabe umgangen.

Das Eidgenössische Institut für Geistiges EigentumExterner Link (IGE) habe seit Beginn der Krise bereits mehr als ein Dutzend Patentanmeldungen im Zusammenhang mit Covid-19 erhalten, sagt ein Sprecher gegenüber swissinfo.ch. Wie viele davon aus dem biomedizinischen Sektor stammen, könne er nicht sagen.

Das Europäische PatentamtExterner Link wollte bisher gar keine Informationen über Patentanmeldungen im Zusammenhang mit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie öffentlich machen. Dazu sei es zu früh, lautet die Begründung. Patentanmeldungen blieben jeweils 18 Monate lang vertraulich.

Staaten könnten in Patentrecht eingreifen

In einigen anderen Ländern bleibt den Unternehmen möglicherweise keine andere Wahl, als ihre Ergebnisse zu veröffentlichen. So änderten Deutschland und Kanada Gesetze, um die Zwangslizenzierung während der Coronavirus-Krise zu erleichtern. Und Israel erteilte eine Zulassung für den Import eines Generikums von AbbVie’s Kaletra aus Indien für Coronavirus-Patienten.

Solche Massnahmen seien zwar legal, für die Schweiz aber mit Risiken verbunden, sagt de Rassenfosse. Jedes Land, das Unternehmen «in aggressiver Weise» dazu zwinge, Patentrechte aufzugeben, müsse damit rechnen, dass die Begeisterung der Unternehmen für diesen Markt abnehme.

Cueni nennt Zwangslizenzierung eine «ausserordentliche Massnahme». Sie solle nicht als Drohung oder routinemässiges politisches Instrument eingesetzt werden, da sie eine «abschreckende Wirkung auf die Innovation» habe. Ein Sprecher des Bundesamts für Gesundheit sagt auf Anfrage von swissinfo.ch, eine solche Massnahme sei als «letztes Mittel» zu betrachten.

Vor der Pandemie waren Impfstoffe und Antibiotika für viele Unternehmen ohne Interesse: Forschung und Entwicklung versprachen kaum Aussicht auf Gewinne.

Felix AddorExterner Link, Stellvertretender Direktor und Rechtskonsulent des IGE, sagt, dass private Unternehmen sich aus ihren Forschungs- und Entwicklungs-Aktivitäten für Impfstoffe oder Behandlungen gegen Covid-19 zurückziehen oder diese reduzieren könnten, «wenn Länder Zwangslizenzen erteilen oder sogar damit drohen. Dies ist definitiv nicht das, was die Schweiz anstrebt».

Die Zusammenarbeit mit Patentinhabern sei ein vielversprechenderer und effizienterer Weg, um wirksame Medikamente zu finden, ist Addor überzeugt. Durch die Vergabe von Lizenzen für die Herstellung an andere könne der Preis gesenkt werden, ohne das Patentrecht zu schwächen.

Negativer Einfluss auf Innovation?

Die Debatte wirft eine grundlegendere Frage auf: Sind Patente gut oder schlecht für die Innovation?

Die Firma Roche äussert sich nicht zu einer möglichen Beteiligung an einem globalen Technologiepool. Ein Sprecher sagt aber, dass der Schutz des geistigen Eigentums für medizinische Innovationen «unerlässlich» sei. Dies gelte auch mit Blick auf die Bewältigung der heutigen Herausforderungen im Gesundheitswesen.

Unternehmen stecken Milliarden in die Forschung, manchmal über Jahrzehnte hinweg. Dabei beträgt die Erfolgschance gemäss ihren eigenen Schätzungen in einigen Fällen gerade mal 1%.

«Das ganze System ist auf der Grundlage aufgebaut, dass Innovation durch ein begrenztes Exklusivrecht für den Markt belohnt wird», sagt Christian Moser, ein Patentexperte am IGE. «Dass also Erfinder in der Lage sein sollten, von Innovationen zu profitieren und andere, die nicht innovativ, sondern einfach Nachahmer sind, daran gehindert werden». Er räumt ein, dass die Beziehung zwischen Patenten und Innovation nicht schwarz-weiss sei.

Lösung «alle Optionen offenhalten»?

Für Befürworter der öffentlichen Gesundheit wie Katy Athersuch, Politikberaterin bei Ärzte ohne Grenzen in Genf, sind Patente Teil eines proprietären Ansatzes. Nötig sei nun aber globale Solidarität.

Alles, was zu einer Produktionssteigerung und einer Verbesserung der Forschung und Entwicklung beitragen könnte, müsse geteilt und gemeinsam genutzt werden, so Athersuch. Es dürften keine Informationen zurückgehalten werden, «die für eine globale Antwort auf Covid-19 hilfreich sind».

Esteban Burrone vom Medicines Patent PoolExterner Link findet, angesichts der Bandbreite der laufenden Forschungsaktivitäten zu patentierten und patentfreien sowie neuen und alten Medikamenten sei es sinnvoll, sich alle Optionen offen zu halten. «Wir alle versuchen herauszufinden, wie wir Therapien schnell und für so viele Menschen wie möglich verfügbar machen können, sobald deren Wirksamkeit nachgewiesen ist», sagt er.

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