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Die unbezahlten Held:innen der Schweiz

Simonetta Sommaruga im Nationalratssaal
Der plötzliche Rücktritt von Bundesrätin Simonetta Sommaruga hat die pflegenden Angehörigen ins Blickfeld gerückt. Keystone / Anthony Anex

Pflegende Angehörige haben es in der Schweiz schwer, da nur wenige Kantone ihnen direkte finanzielle Unterstützung bieten. Allerdings zeichnen sich Ansätze ab, um ihre wichtige Arbeit besser zu regeln.

Im vergangenen November rückten pflegende Angehörige in der Schweiz ins Blickfeld, als ein Regierungsmitglied überraschend den Rücktritt erklärte. SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga trat zurück, weil ihr Mann einen Schlaganfall erlitten hatte und sie sich um seine Betreuung kümmern wollte.

Während die Presse von «Aufopferung» sprach, beschrieb die Ministerin die Situation als einen «Schock» und eine «Veränderung» in ihrem Leben. «Es ist mir unmöglich, unter diesen Umständen wie zuvor zu arbeiten», sagte Sommaruga. Doch nicht jede:r hat die Möglichkeit, den Job aufzugeben, um sich um Angehörige zu kümmern.

+ Bundesrätin Simonetta Sommaruga tritt zurückExterner Link

Ungeklärter Status

In der Schweiz betreuen knapp 15% der Bevölkerung, vor allem Frauen, pflegebedürftige Angehörige. Ihre Arbeit entlastet Krankenhäuser und Pflegeheime, wo oft Personalnotstand herrscht, doch sie belastet die Pflegenden selbst. Denn, so lautet eine verbreitete Feststellung, ihre Tätigkeit wird nicht ausreichend anerkannt oder gefördert.

Eine gemeinsame Studie der Gewerkschaftsorganisation Travail.Suisse und der Berner Fachhochschule zeigt, dass fast jede fünfte erwerbstätige Person einen erwachsenen Angehörigen unterstützt, aber nur ein Drittel dieser 860’000 Personen Unterstützung von ihrem Arbeitgeber erhält. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) schätzt ihre Zahl über alle Altersgruppen hinweg auf bis zu 1,4 Millionen.

Seit 2021 hat sich ihr Schicksal etwas verbessert, da in der Gesetzgebung ein Kurzurlaub von drei bezahlten Tagen für Angehörige und ein bezahlter Betreuungsurlaub von bis zu 14 Wochen für Eltern von schwer kranken oder verunfallten Kindern eingeführt wurden. Im April wird das BAG auch über die Notwendigkeit eines nationalen Statuts diskutieren.

Gesundheit und Sozialleben leiden  

«Wir haben noch einen weiten Weg vor uns, bis wir eine nationale oder sogar kantonale Rechtsgrundlage haben, die diese Arbeit finanziell anerkennt», sagt Rémy Pingoud, Präsident der Vereinigung pflegender Angehöriger des Kantons Waadt. Sein Vorstand besucht Unternehmen, um den Privatsektor für die Probleme des Lohnausfalls und der beruflichen Vorsorge zu sensibilisieren.

«Für erwerbstätige Personen ist es vorrangig, mit ihrem Arbeitgeber eine Anpassung der Arbeitszeiten zu vereinbaren, um zu vermeiden, dass sie ihr Pensum reduzieren müssen und es zu Lücken bei den Rentenbeiträgen kommt», sagt er.

Pingoud bestätigt, dass von den 86’000 pflegenden Angehörigen im Kanton Waadt etwa 60% einer beruflichen Tätigkeit nachgehen. Neben anderen Hilfsangeboten hat sein Kanton ein System zur moralischen Unterstützung eingeführt. Die eingerichtete Telefonhotline erhält jährlich rund 1500 Anrufe, eine Zahl, die sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt hat. Die regionalen psychologischen Anlaufstellen verzeichnen mehr als 1700 Beratungen pro Jahr.

2019 wurden in der Waadt mehr als sieben Millionen Franken für kantonale finanzielle Leistungen und ebenso viele für die Subventionierung von Unterstützungsleistungen bereitgestellt. Ein Zehntel der Beiträge ist für den Erwerbsausfall bestimmt, es wird jedoch keine direkte Entschädigung gewährt.

Die Reportage des Westschweizer Fernsehens RTS über die schwierige Arbeit der pflegenden Angehörigen (auf Französisch):

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Babyboomer-Effekt

Seit 2019 setzt sich auch die Interessengemeinschaft Angehörigenbetreuung (IGAB) als Lobby dafür ein, ihre Anliegen auf nationaler Ebene zu vertreten. Sie setzt sich aus Vereinen, Akteuren des Gesundheitswesens wie Pro Infirmis und der Krebsliga sowie Dienstleistungsanbietern zusammen.

Die IGAB geht davon aus, dass in der Schweiz, einem Land mit einer der höchsten Lebenserwartungen der Welt (81,6 Jahre für Männer und 85,7 Jahre für Frauen), immer mehr auf pflegende Angehörige zurückgegriffen werden wird.

Mit dem Eintritt der Babyboomer in den Ruhestand wird auch die häusliche Pflege zunehmen. Die CIPA betont, dass bereits drei Viertel der Menschen, die Pflege benötigen, auf diese Weise betreut werden. Hinzu kommt, dass die Gesundheitskosten in den letzten 20 Jahren stark angestiegen sind, mit über 83 Milliarden Franken im Jahr 2020, was einem Wachstum von 50% im Vergleich zu 2000 entspricht.

Nun werden Wege geprüft, um diese Schattenarbeit besser zu berücksichtigen. Valérie Borioli Sandoz, Direktorin der IGAB, erklärt: «Wir möchten, dass der Staat mindestens den Arbeitgeberanteil des reduzierten Pensums übernimmt, wenn eine Person eine:n Angehörige:n pflegt und dafür ihre Arbeitszeit reduzieren muss.»

Ein bezahlter Einsatz könnte auch dem Gesundheitspersonal etwas Luft verschaffen. «Ihre Leistungen ermöglichen es dem Gesundheitssystem, Kosten zu sparen», betont sie. Basierend auf der Schätzung von Travail.Suisse über die Anzahl pflegender Angehöriger in der Schweiz könnten diese Einsparungen mit mehr als 15 Milliarden Franken pro Jahr zu veranschlagen sein.

Frauen am stärksten betroffen

Sandoz fordert, dass Frauen, welche die Mehrheit dieser Pflegeaufgaben übernehmen, «Bonifikationen» erhalten sollten, um ihnen zumindest eine angemessene Rente zu sichern. «Eine offizielle Anerkennung ihres Status, die auf einer einheitlichen Definition beruht, würde ihre tägliche Arbeit erleichtern.»

Die Expertin, welche von der Eidgenössischen Kommission für Familienfragen konsultiert wurde, ist besorgt über die sogenannte «Sandwich-Generation». Es handelt sich dabei um Frauen zwischen 45 und 65 Jahren, welche Beruf, Haushalt und Familie bewältigen müssen und zusätzlich kranke ältere Angehörige unterstützen.

Auch in Frankreich, wo es mehr als acht Millionen pflegende Angehörige geben soll, wird versucht, diese Arbeit aufzuwerten. Seit 2020 kann ein Pflege-Urlaub entschädigt werden, allerdings nur für einen Zeitraum von 66 Tagen innerhalb einer Karriere.

Das Phänomen betrifft auch Deutschland, wo seit einigen Jahren eine deutliche Alterung der Bevölkerung zu beobachten ist. Laut Eurocarers, dem repräsentativen europäischen Netzwerk für pflegende Angehörige, gibt es in Deutschland offiziell 5 Millionen pflegende Angehörige. Andere Quellen sprechen jedoch von bis zu 18 Millionen bei 84 Millionen Einwohner:innen. In Italien wurden über sieben Millionen «informal carers» gezählt, in Spanien ebenfalls.

Kaum direkte öffentliche Hilfe

Heute zahlen in der Schweiz – neben den üblichen indirekten Hilfen – nur wenige Kantone Tagessätze in bar aus. Ein Beispiel ist der Kanton Freiburg, der bereits 1990 damit begonnen hat, pflegende Angehörige zu entschädigen und ihnen eine Pauschale zwischen 15 und 25 Franken pro Tag zahlt.

Im Kanton Basel-Stadt werden sie je nach Situation mit 7,80 bis 31 Franken unterstützt. Das Thema ist aber auch in anderen Regionen der Schweiz, insbesondere in den Westschweizer Kantonen sowie Luzern und Graubünden auf der Tagesordnung.

Im Kanton Freiburg sind es die Gemeinden, welche die Gewährung dieser Entschädigungen nach regionalspezifischen Kriterien und nach Beratung durch einen Arzt oder eine Hilfsorganisation selbst verwalten. Im Jahr 2021 erhielten mehr als 2000 Personen diese Leistungen, doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Die Folge: Die Mittel für diese Direkthilfe sind von sieben Millionen Franken im Jahr 2011 auf über 13 Millionen Franken für den gesamten Kanton gestiegen.

Editiert von Samuel Jaberg, aus dem Französischen übertragen von Christoph Kummer.

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