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«Pharma-Juwel» für Alinghi-Segelabenteuer geopfert

Der Sitz von Merck Serono in Genf soll aufgehoben werden. Keystone

Merck Serono will die Zentrale in Genf schliessen und die Forschung ins Ausland verlagern. Die Presse hält nicht mit Kritik am deutschen Pharmakonzern zurück. Und Milliardär Ernesto Bertarelli habe das Werk seiner Familie geopfert, so der Tenor.

«Merck macht Kahlschlag bei Serono», «über dem Genfersee ziehen schwarze Gewitterwolken auf», «Merck kehrt Genf den Rücken», «Deutsche schliessen Genfer Pharma-Juwel», «Tsunami am Ufer des Genfersees», «das brutale Ende einer Union, die ein Fiasko verursacht hat». So titeln die Schweizer Zeitungen am Mittwochmorgen.

«Für den Genfer Wirtschaftsstandort ist der Schritt ein herber Verlust und ein Anzeichen dafür, dass in den Westschweizer Kantonen die fetten Jahre vorüber sein könnten», kommentiert die Neue Zürcher Zeitung.

Der «Arc lémanique» habe in den letzten zehn Jahren einen regelrechten Boom erlebt, der «neben guten durchaus auch problematische Seiten hat». Nach dem Zuzug von jungen und aktiven «Promis» wehe in den eleganten Vororten Genfs und an der Côte zwischen Nyon und Morges «ein Hauch von Beverly Hills».

Doch auch britische und russische Yuppies hätten das Genferseeufer entdeckt und pflegten «einen geräuschvollen und auf Show-off angelegten Lebensstil». «Nicht aristokratisches Understatement, sondern lautes und protziges Nouveau-Riche-Gehabe dominiert mittlerweile in gewissen Villenquartieren.»

Dies habe zu rasant ansteigenden Boden- und Immobilienpreisen geführt, Familien hätten wegziehen müssen. «Es sieht nun aber ganz so aus, als ob sich am Arc lémanique eine Zeitenwende anbahnt», so die NZZ.

Für die Region dürfte nach der angekündigten Schliessung des Genfer Sitzes der Gruppe Merck Serono feststehen: «Die Zeiten, da sich die Politiker darüber den Kopf zerbrachen, wie sich die Westschweiz neue Unternehmen vom Hals halten könne, dürften bald der Vergangenheit angehören.»

Aus der Traum vom «Silicon Valley»?

Man sei in der Region auf schlechte Nachrichten betreffend Merck Serono vorbereitet gewesen, weiss die Basler Zeitung. «Mit einem Schliessungsentscheid allerdings hatte niemand gerechnet.» Beobachter schätzen aber laut der BAZ, dass Merck beim Kauf von Serono vor sechs Jahren viel zu tief in die Tasche gegriffen habe. Doch die Firma habe dringend den Einstieg ins Biotech-Geschäft gesucht.

«Ist der Traum, den viele hegten, in der Romandie ein ‹Silicon Valley› der Life-Sciences zu schaffen, bereits vorbei?», fragt die Tribune de Genève. Pharmariesen wie Novartis und Sandoz würden «von neuen Akteuren aus Schwellenmärkten angegriffen» und «könnten daher teilweise zu Kolossen auf kleinen Füssen werden».

Die Tribune schlägt daher für die Region Genfersee «eine Politik der kleinen Schritte» vor. «Kleinere Strukturen bieten weniger Arbeitsplätze an, dafür erlauben sie vielen Forschenden, rasch grosse Kenntnisse zu erwerben.»

Laut Le Temps mangelte es in diesem Unternehmen an Innovation. Nun gelte es, Schadensbegrenzung zu betreiben und die Life-Sciences in der Region mit eigenen Projekten von Forschenden voranzubringen. Schliesslich offeriere Merck im Sozialplan 30 Millionen Euro, um Jungunternehmen zu gründen.

«Belegschaft zahlt die Zeche»

«Starsegler Ernesto Bertarelli löste 10 Milliarden (Euro), als er Serono 2006 an die deutsche Merck verkaufte. Die Zeche zahlt nun die Belegschaft: Merck streicht im Raum Genf 580 Arbeitsplätze, gibt den Firmensitz auf und verschiebt 620 Forschungsjobs ins Ausland», schreibt der Tages-Anzeiger.

«Ein zweiter Sieg im America’s Cup war Ernesto Bertarelli anscheinend wichtiger als die Zukunft der Genfer Biotechfirma Serono, die er zehn Jahre geleitet hatte», so die Zeitung aus Zürich.

Frage der Verantwortung

«Macht Geld glücklich, Herr Bertarelli», fragt der Blick. «An seinem letzten Tag als Vierzigjähriger hat sich Ernesto Bertarelli entschieden. Für das Geld und gegen Serono. Er verkaufte das Lebenswerk seiner Familie.»

Natürlich habe er die Firma damals verkaufen dürfen, so der Kommentator. «Aber wer so viel Geld hat, bleibt in der Verantwortung. Man muss etwas tun damit. Selbst eine Firma gründen oder in ein Unternehmen investieren. Damit aus dem Geld wieder Jobs entstehen.»

Politik gefragt

Hinter den Glasfassaden in Genf seien gestern vermutlich viele Tränen geflossen, schätzt die Aargauer Zeitung. Viele Angestellte ärgerten sich über ihren einstigen Vorzeige-Manager Bertarelli: «Der hat ihnen gewiss manche Alinghi-Kappe geschenkt und einen schönen Glaspalast gebaut, bevor er das Unternehmen 2006 verkaufte – bloss eine nachhaltige Unternehmensstrategie hat er nicht hinterlassen.»

Es sei nun an der Politik, Hand zu bieten: «Echte Innovation im Tausch gegen Standortsicherheit und gute Rahmenbedingungen. Für einen solchen Deal ist es jetzt höchste Zeit: In den nächsten Jahren entscheidet sich, wie es mit der Pharmaindustrie weitergeht – weltweit. Wichtige Patente laufen ab, wichtige Umsätze fallen weg.»

Auch für den Corriere del Ticino ist klar, dass beim Schliessungsentscheid nicht nur strukturelle Faktoren wie geringere Margen eine Rolle spielten, sondern dass Merck mit Serono anscheinend Managementfehler gemacht habe. Daher sei es falsch, anzunehmen, die Schweiz sei für Pharma-Unternehmen kein relevanter Sitz mehr.

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