Mit Hightech gegen die Kostenspirale bei Medikamenten
Das in Basel ansässige Startup Lyfegen möchte das Gesundheitswesen mit einer komplexen Berechnungssoftware revolutionieren. Das Ziel: Patient:innen und Versicherer sollen weniger für Medikamente bezahlen müssen.
Girisha Fernando nimmt kein Blatt vor den Mund, wenn er über Lyfegen spricht: «Wir wollen das Gesundheitssystem verändern, denn heute geht es um Leben und Tod: Patienten und Patientinnen erhalten keine Behandlung, weil die Versicherer die Kosten nicht tragen wollen.»
Die Gentherapie Zolgensma veranschauliche das Problem, sagt der CEO des Basler Start-ups: 2019 wurde die Therapie gegen spinale Muskelatrophie von Novartis auf den Markt gebracht. Die Behandlung, die einmalig erfolgt, kostet satte 1,9 Millionen Franken.
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Wie kann ein Medikament 2,1 Mio. Franken kosten?
Nach Ansicht des Pharmariesen liegt dieser Preis weit unter den Kosten für bestehende Therapien und die Pflege. Doch selbst in reichen Ländern wie der Schweiz müssen Familien von Erkrankten Spenden sammeln, um die Kosten tragen zu können. Auf die Versicherer können sie sich nicht verlassen.
Das Problem der unbezahlbaren Medizin weitet sich aus. Grosse Pharmaunternehmen stecken ihr Geld zunehmend in die personalisierte Medizin, die auf die individuelle Genetik abzielt.
Wie Zolgensma können viele dieser Therapien, die oft nur aus einer einzigen Infusion bestehen, Betroffene komplett heilen. Aber sie sind mit horrenden Kosten verbunden, die sowohl die Versicherungen als auch die Regierungen abschrecken.
Als Unternehmer sah Fernando seine Chance. 2018 machte er sich gemeinsam mit seinen beiden Geschäftspartnern daran, eine Software zu entwickeln, die Tausende von Verträgen zwischen Kostenträger:innen und Pharmaunternehmen analysiert.
Das Ziel: Sicherstellen, dass sich Kosten und Nutzen eines Medikaments die Waage halten und der Preis niemals der Rettung eines Menschenlebens im Wege steht. Fünf Jahre will sein Unternehmen den grössten Pharmamarkt der Welt erobern – die USA.
Wortgewandt und risikofreudig
Fernandos kühne Reden und seine schon fast unverschämt wirkenden Ambitionen stehen im Gegensatz zu seinem bescheidenen, freundlichen Auftreten. «Das Gesundheitswesen ist eine harte Nuss, die es zu knacken gilt», sagt der Chef von über 20 Mitarbeitenden. «Es gibt so viele Fragen und Probleme. Man muss schon ein bisschen verrückt sein, um diese lösen zu wollen», findet der 33-Jährige.
Fernando trägt trendige weisse Turnschuhe und eine Sportjacke mit einem Taschentuch in der Brusttasche. Wir sitzen in seinem engen Büro in einem unscheinbaren Gebäude im Basler Stadtzentrum.
Seine Eltern hätten ihn gelehrt, Risiken einzugehen und den Status quo in Frage zu stellen, sagt er. Mit drei Jahren kam er in die Schweiz. Seine Familie war vor dem Krieg in Sri Lanka geflohen. Zuerst lebten sie in einem Asylzentrum, danach fanden seine Eltern Arbeit in Basel – seine Mutter als Lehrerin und sein Vater in einem kleinen Biotech-Unternehmen. «Meine Eltern mussten alles hinter sich lassen und hier ein neues Leben aufbauen», erzählt er.
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Das Ende der bezahlbaren Medizin
Fernando besuchte sowohl lokale als auch internationale Schulen, befreundete sich mit Nachbarskindern und solchen von ausländischen Pharmamanager:innen. Mal sprach er Deutsch, mal Englisch, dann wieder Basler Dialekt und Französisch.
Nach einem Praktikum bei Syngenta und einem Studentenjob bei Roche war Fernando auf dem besten Weg, einer der jüngsten Direktoren von Roche zu werden. Doch mit 29 Jahren entschied er sich, den bequemen Job in einem der grössten Pharmakonzerne der Welt gegen das prekäre Leben eines Start-up-Gründers einzutauschen.
Neue Erstattungsmodelle
Bei Roche habe er ein Aha-Erlebnis gehabt, erzählt Fernando. Er arbeitete damals in der IT-Abteilung, die für die Preisgestaltung und den Marktzugang zuständig war, als das Unternehmen begann, stark in die personalisierte Medizin zu investieren.
Er bemerkte, dass der Erstattungsprozess für Medikamente sehr ineffizient war und es Probleme mit der Flut von Gesundheitsdaten gab, die sich nur noch verschlimmern würden, wenn mehr individuelle Behandlungen auf den Markt kämen.
«Ich kam zur Überzeugung, dass Veränderungen nötig sind und dies nur mit neuer Technologie geht.» Mit der Anschubfinanzierung einer wohlhabenden Basler Familie und ihren eigenen Ersparnissen kombinierten Fernando und seine Mitstreiter Nicko Mros und Michel Mohler ihr Wissen in den Bereichen Gesundheitswesen, Finanzen und Technologie, um Lyfegen 2018 zu gründen.
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Big Pharma will mit Krebsmedikamenten den afrikanischen Markt erobern
Zu Beginn konzentrierte sich das Unternehmen auf Kosteneinsparungen bei herkömmlichen Finanztransaktionen zwischen Kostenträger und Pharmaunternehmen. Doch die eigentliche Chance war die Schaffung neuer Zahlungsmodelle, die das integrieren, was Fernando als «Wert» bezeichnet.
Traditionell bezahlte eine Versicherungsgesellschaft oder ein Spital einen Arzneimittelhersteller auf der Grundlage der verabreichten Dosen, unabhängig davon, ob das Medikament wirksam war. Doch da die Preise für Therapien mittlerweile in die Millionen gehen, achten die Kostenträger:innen immer stärker darauf, ob ein Medikament seinen Preis wert ist.
Eine weitere Herausforderung sei, dass die Kostenträger:innen statt einer monatlichen Rechnung für ein Krebsmedikament, das über Monate hinweg verabreicht wird, auf einen Schlag 2,1 Millionen zahlen sollen, ohne dass eine Garantie besteht, dass das Medikament auch langfristig wirkt.
«Das Geschäftsmodell der Pharmaindustrie ist bei diesen einmaligen Behandlungen völlig anders – aber das bisherige Erstattungssystem wird diesem Umstand nicht gerecht», sagt Fernando.
Plattform analysiert Millionen von Verträgen
Zurzeit befinden sich über 1000 Zell- und Gentherapien in der klinischen Phase. Wenn nur ein Bruchteil auf den Markt gelangt, werden sie die Gesundheitskosten allein in den USA in den nächsten zehn Jahren um schätzungsweise 300 Milliarden Franken erhöhen.
Die Patient:innen sind die Verlierer:innen, da die Regierungen sich weigern, die Kosten übernehmen, und die Pharmaunternehmen als Reaktion die Medikamente aus dem Sortiment nehmen.
Vor zwei Jahren zog etwa das in Boston ansässige Unternehmen Bluebird Bio seine Gentherapie Zynteglo gegen die Blutkrankheit Beta-Thalassämie vom europäischen Markt zurück, nachdem es die deutsche Regierung nicht davon überzeugen konnte, die Kosten in Höhe von 1,8 Millionen Dollar zu übernehmen.
Die Krankenversicherer sprechen schon seit Jahren über die Einführung wertorientierter Verträge, bei denen Massnahmen wie Tage mit höherer Lebensqualität, Einsparungen durch weniger Krankenhausaufenthalte und andere Faktoren in das Preis- und Erstattungssystem integriert werden, aber es gab bisher keine praktische Möglichkeit, dies zu tun.
«Warum sollte ein Medikament nicht 3,5 Millionen Dollar kosten, wenn es einen Patienten heilt, der das Gesundheitssystem 10 Millionen Dollar gekostet hat», sagt Fernando. «Das System spart 6,5 Millionen Dollar, aber wenn es keine Möglichkeit gibt, das zu berechnen, ist es schwer, den Preis zu rechtfertigen.»
Die Software von Lyfegen geht dieses Problem an, indem sie Verträge digitalisiert, reale Daten aus Krankenhäusern integriert und mittels Algorithmen ermittelt, wie gut ein Medikament abgeschnitten hat und wie hoch daher sein Preis in der jeweiligen Situation sein sollte.
Die Plattform kann Tausende, möglicherweise Millionen von Verträgen analysieren, um zu ermitteln, welche Art von Zahlungsmodellen für ein bestimmtes Medikament oder einen bestimmten Kostenträger sinnvoll wäre.
So könnte sich ein Arzneimittelhersteller beispielsweise zu einer vollständigen Erstattung verpflichten, wenn die Patientin nicht innerhalb von 30 Tagen auf ein Medikament anspricht.
Die Zahl der verschiedenen Bedingungen in einem Vertrag sei endlos, sagt Fernando. Laut ihm verfügt Lyfegen über die weltweit grösste Bibliothek öffentlicher Preisvereinbarungen für Arzneimittel und Medizinprodukte, die rund 2000 verschiedene Modelle umfasst.
In der Vermittlerrolle
Das Basler Start-up befindet sich momentan in einer kritischen Phase. Es hat bereits über 400 Verträge für rund 15 Kostenträger in Staaten wie Portugal, Spanien, Saudi-Arabien und Kanada umgesetzt. Etwa 8 der 10 grössten Pharmaunternehmen zahlen ausserdem eine Jahresgebühr für den Zugang zur Plattform.
Das grosse Ziel ist der US-Markt, da die staatliche Gesundheitsversorgung in der Lage sein wird, die Preise direkt mit den Arzneimittelherstellern auszuhandeln, um einen so genannten «maximalen fairen Preis» für bestimmte Arzneimittel festzulegen. Es wird erwartet, dass die wertorientierte Preisgestaltung dabei eine grosse Rolle spielen wird.
Durch die «Eroberung der USA» glaubt Fernando, der jetzt zwischen Basel und New York pendelt, dass Lyfegen in 3 bis 5 Jahren einen Gewinn ausweisen kann. Eine wichtige Hürde ist die Sicherung ausreichender Finanzmittel für den Aufbau des Vertriebsteams.
Das Unternehmen hat rund zehn Millionen Dollar aufgebracht, einen grossen Teil davon von aMoon, einem Risikofonds aus Tel Aviv. Das Start-up muss sich mit Risikokapitalgebern auseinandersetzen, die Biotechs eher misstrauisch gegenüberstehen, nachdem viele von ihnen nach dem Pandemie-Investitionsboom ins Straucheln geraten waren.
Fernando muss auch die konkurrierenden Interessen von überlasteten Gesundheitssystemen und profitorientierten Unternehmen ausgleichen. «In dieser Branche hat jeder gegensätzliche Interessen. Wir sind die Mittelsmänner, die dazu beitragen, die Erschwinglichkeit zu verbessern und den Zugang für Patient:innen zu erleichtern», sagt Fernando. «Wir übernehmen sozusagen die Rolle der Schweiz in diesem System.»
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Editiert von Virginie Mangin. Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer
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