Besserer Zugang zu teuren Medikamenten
Der Pharmakonzern Novartis will seine Arzneimittel vermehrt auch Menschen in ärmeren Regionen zugänglich machen, inklusive millionenschwere Gentherapien. Kann das gelingen?
Vor fünf Jahren beschritt der Schweizer Pharmakonzern Novartis neue Wege, um seine Produkte auch in ärmeren Weltregionen verfügbar und erschwinglich zu machen: In einem Testversuch offerierte er der Regierung Kenias eine Reihe von Medikamenten gegen Krankheiten wie Diabetes oder Bluthochdruck zum Preis von knapp einem Franken pro Behandlung und Monat.
Nach einem Jahr stellten Forschende Externer Linkder Boston University jedoch fest, dass das Programm kaum Wirkung hatte: Viele der Novartis-Medikamente waren immer noch teurer als die vor Ort verfügbaren Alternativen.
«Unternehmen denken, dass solche Zugangsprogramme zwangsläufig gut sind. Dem aber ist nicht so», sagt die Apothekerin und Professorin Veronika Wirtz, welche die Studie mit ihrem Team erarbeitet hatte.
Die Ergebnisse waren ernüchternd für den Konzern, der im Access-to-Medicine-IndexExterner Link stets in Spitzenpositionen rangiert. Das Ranking-System misst, wie gut die 20 weltgrössten Pharmaunternehmen bei der Bereitstellung und Erschwinglichkeit von Gesundheitsprodukten über sozioökonomische Unterschiede hinweg abschneiden.
Experten sagten zwar, dass die Ergebnisse der Studie womöglich besser ausgefallen wären, wenn die Erhebung zu einem späteren Zeitpunkt stattgefunden hätte, doch das ändere nichts an ihrer Aussagekraft: Medikamente, von denen einige selbst in wohlhabenden Ländern unerschwinglich sind, können mit den bestehenden Geschäftsmodellen kaum für Menschen in ärmeren Regionen zugänglich gemacht werden.
Arme Staaten gehen leer aus
Die meisten Diskussionen über den Zugang zu Medikamenten betrafen bislang vor allem Infektionskrankheiten wie Tuberkulose, Malaria und HIV.
In den letzten Jahren hat sich die Diskussion jedoch auf andere Krankheiten und auch neue Regionen verlagert. Die Bedrohung durch nicht-übertragbare Krankheiten (NCDs) wird immer deutlicher: Während die Welt von der Covid-19-Pandemie beherrscht wird, werden etwa 70 Prozent aller weltweiten Todesfälle durch Krebs, Diabetes und andere NCDs verursacht.
Sowohl arme als auch reiche Länder sind davon betroffen. Seltene, genetisch bedingte Krankheiten wie Mukoviszidose und spinale Muskelatrophie fordern ebenfalls einen hohen Tribut sowohl vom Gesundheitssystem als auch von den Betroffenen und ihren Familien.
Die Behandlung dieser Krankheiten bietet Unternehmen wie Novartis und Roche grosse Chancen, stellt sie aber auch vor neue Herausforderungen bei der Bereitstellung.
Bei der Entwicklung von Therapien konzentrieren sich Pharmaunternehmen oft auf reiche Märkte wie die USA, um ihre Investitionen schnell wieder hereinzuholen. Danach bestehen für die Konzerne kaum Anreize, die Medikamente auch in anderen Märkten zu vertreiben.
Eine Analyse des Datenanalyseunternehmens IQVIA von 2017 bestätigte das: Neue Arzneimittel erreichen fünf Jahre nach der Markteinführung weniger als 1 bis 5 Prozent der Patienten in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen.
Jenseits der 10 Prozent
Diese Zahlen könnten sich in Zukunft ändern. «Immer mehr Unternehmen erkennen, dass es keinen Sinn macht, so viel Geld in die Entwicklung von innovativen Therapien zu investieren, um sie danach bloss 10 Prozent der Weltbevölkerung zugänglich zu machen», sagt Jayasree Iyer, Geschäftsführerin der Access to Medicine Foundation.
Die Unternehmen erkennen, dass in Märkten mit niedrigem Einkommen grosse Umsätze gemacht werden können. «Sie sehen, dass neue, innovative Produkte nur dann produziert werden sollten, wenn sie eine globale Reichweite haben», ergänzt Iyer.
Genau das will Novartis nach eigenen Angaben tun. Novartis-CEO Vas Narasimhan kündigte vor einigen Jahren an, dass bei jedem neuen Medikament von vornherein den Faktor Zugänglichkeit berücksichtigt werden müsse. Im vergangenen September setzte sich der Konzern mit Hauptsitz in Basel das Ziel, die Zahl der erreichten Patienten in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen bis 2025 um 200 Prozent zu steigern.
Dieses Versprechen wurde jüngst an der Börse untermauert: Novartis gab die erste Anleihe der Gesundheitsbranche heraus, welche an Ziele betreffend Zugänglichkeit gebunden ist. Erreicht das Unternehmen diese Ziele nicht, muss es den Investoren mehr Zins bezahlen.
Jenna Denyes, Healthcare-Analystin bei GAM Asset Management, hält die Strategie aus geschäftlicher Sicht für sinnvoll. «Je mehr Patienten sie erreichen, desto mehr verkaufen sie, was natürlich gut fürs Geschäft ist.»
Preiswerte Alternativen
Der Konzern steht nun vor der Herausforderung, zum Beispiel Krebsmedikamente oder Immuntherapien auch für arme Haushalte in der ganzen Welt zugänglich zu machen. Doch wie soll das gehen? Kann eine 2,1 Millionen Dollar teure Therapie vernünftig an sämtliche Menschen verteilt werden, die sie benötigen?
Sowohl Befürworter der öffentlichen Gesundheitsversorgung als auch Verantwortliche bei Novartis erklären, dass das Ziel nicht sein könne, Medikamente zu verschenken. Das sei nicht nachhaltig, sagt Veronika Wirtz von der Boston University. «Spenden sind bloss eine kurzfristige Lösung in Notsituationen.»
Lutz Hegemann, Leiter des Bereichs Global Health bei Novartis, erklärt, dass es keine Patentlösung gäbe und stattdessen eine Kombination aus verschiedenen Ansätzen gewählt werden müsse, also «Philanthropie-, Null-Profit- und Share-Value-Geschäftsmodelle, die nachhaltig sind».
Eine Möglichkeit, den Zugang zu bestimmten Medikamenten zu erleichtern, ist die Entwicklung einer preiswerten Alternative, einer Art Budgetvariante. Diese «Emerging Market Brands» sind keine Generika oder Biosimilars, sondern dieselben Medikamente mit anderen Markennamen und Preisen. Ein Novartis-Sprecher sagte gegenüber swissinfo.ch, dass bereits rund 118 solcher Emerging Market Brands in 50 Schwellenländern zugelassen seien.
Eine davon ist Omalizumab, das für die Behandlung von Asthma Externer Linkeingesetzt wird. Parallel zur Einführung der Originalmarke brachte Novartis in Indien eine Budgetvariante für 10 Prozent des Originalpreises auf den Markt. Ebenfalls in Indien wurde vor der europäischen Zulassung eine günstigere Variante des Brustkrebsmedikaments Piqray eingeführt.
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt das Unternehmen beim Vertrieb des Migränemittels Aimovig in Mexiko. Aimovig ist eine selbst injizierbare Behandlung mit einem Listenpreis von 575 US-Dollar (519 Franken) pro Monat. Anhand einer sozioökonomischen Bewertung der Patienten ermittelt das Unternehmen, wie viele Dosen Aimovig sich eine Person im Laufe eines Jahres leisten kann. Novartis zahlt dann den Restbetrag, um die gesamte Behandlung abzudecken. Die Patienten nutzen ausserdem eine App, um ein Migränetagebuch zu führen und den Ärzten so bei der Überwachung der Behandlungsergebnisse zu helfen. Novartis schätzt, dass mit diesem Ansatz weitere 24 Millionen Menschen Zugang zu dem Medikament erhalten könnten.
Einige dieser Ansätze funktionieren jedoch nicht bei den Gen- und Immuntherapien, die mit einem Preisschild von mehreren Millionen Dollar versehen sind.
Als Novartis seine Gentherapie Zolgensma gegen spinale Muskelatrophie auf den Markt brachte, scheuten die Kostenträger den Preis von 2,1 Millionen Dollar (1,9 Millionen Franken). Die einmalige Infusion kann die seltene tödliche Krankheit heilen, aber einige Versicherungen und Gesundheitssysteme – selbst solche in wohlhabenden Ländern – weigern sich, die Kosten dafür zu übernehmen.
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Wie kann ein Medikament 2,1 Mio. Franken kosten?
Das Unternehmen bietet die Möglichkeit, die Rechnung über einen längeren Zeitraum zu begleichen, und stellt die Behandlung für Kleinkinder (bis zweijährig) in Ländern, in denen die Therapie nicht durchgeführt werden kann, kostenlos zur Verfügung.
Novartis räumt ein, dass dieser Ansatz nicht überall möglich sei und das Unternehmen nach «nachhaltigeren Lösungen» suche.
Kein Erfolg im Verborgenen
Jayasree Iyer von der Access to Medicine Foundation sagt, dass andere Pharmafirmen die Experimente von Novartis genau beobachteten.
Wie auch andere Konzerne ist Novartis in der Covid-19-Krise in den Fokus gerückt. Obwohl das Unternehmen kein Impfstoffgeschäft hat und nur begrenzt an Therapien beteiligt ist, belegte es kürzlich den zweiten Platz im Access-to-Medicine-Index, weil es den Faktor Zugang über sein gesamtes Portfolio hinweg anstrebt und versucht, Menschen in den ärmsten Ländern zu erreichen. Im Rahmen seiner Reaktion auf die Pandemie unterstützte Novartis die Produktion von Impfstoffen, welche durch andere Unternehmen entwickelt worden waren.
Laut Gesundheitsexperten handelt es sich dabei grösstenteils um PR-Massnahmen, welche das eigentliche Problem des Zugangs zu Impfstoffen nicht lösten. «Das Problem der überhöhten Preise wird nicht verschwinden wird, solange es keine Transparenz bei Produktionskosten und Preisvereinbarungen mit den Regierungen gibt», sagt Yannis Natsis von der European Public Health Alliance gegenüber swissinfo.ch.
«Pharma ist Teil der Lösung, aber Geheimhaltung untergräbt den Einfluss der Regierungen», sagte Natsis und verweist auf die geheimen Impfstoff-Deals während der Pandemie. «Diese sorgen dafür, dass die Macht in den Händen der Konzerne verbleibt.» Dies wiederum verhindere, dass Regierungen die Impfstoffe an die gefährdetsten Personengruppen verteilen kann.
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Drängen auf Preistransparenz irritiert die Pharmabranche
Novartis erklärte gegenüber swissinfo.ch, dass man aus Wettbewerbsgründen keine Informationen über Preise geben könne. Die Pharmaindustrie wehrt sich immer wieder gegen Forderungen nach mehr Transparenz. Das Argument: Die Preise sollen durch den Wert und nicht durch die Produktionskosten bestimmt werden.
Was Gesundheitsforscherin Veronika Wirtz bei all den Bemühungen um den Zugang zu Medikamenten beunruhigt, ist die fehlende rigorose Evaluation. Nur mit Erhebungen könne gesagt werden, ob Versuche etwas Gutes bewirken oder sogar Schaden anrichten.
Novartis arbeitet nicht mehr mit Wirtz’ Team zusammen, um das Kenia-Programm zu bewerten. Gegenüber swissinfo.ch erklärte Novartis, dass das Unternehmen mehrere Schritte unternommen habe, um es zu «verbessern». Dazu gehört auch die Abkehr vom Warenkorb-Ansatz, der zwar kommerziell attraktiv war, aber Hürden für die lokale Beschaffung von Medikamenten schuf. Der Hauptindikator für die Bewertung des Fortschritts ist derzeit die Anzahl der erreichten Patienten.
«Das Ziel von Untersuchungen ist es nicht, grossartige Ergebnisse zu zeigen. Daraus kann man meistens wenig lernen», so Wirtz. «Nur wenn Schwächen aufgedeckt werden, können bessere Programme aufgebaut werden.»
(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)
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