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Geheime Preisabsprachen gehen zu Lasten der Patienten

Labortechnikerinnen
Über 60% aller Medikamente, die eine Art von Rabatt erhielten, waren Krebsmedikamente. Keystone / Laurent Gillieron

Vertrauliche Preisabschläge führen bei Medikamenten nicht zu höheren Verfügbarkeit oder zu tieferen Preisen. Zu diesem Ergebnis kommt eine neue Studie – während in der Schweiz diskutiert wird, mehr Medikamentenpreise zur Geheimsache zu machen.

Bis anhin galt die Schweiz als mustergültiges Land in Bezug auf die Transparenz bei Medikamentenpreisen. 2019 sagte Nora Kronig, Vizedirektorin des Bundesamts für Gesundheit, gegenüber swissinfo.ch: «Wir sind eines der wenigen Länder, die bei den Preisen völlig transparent sind. Es gibt keine geheimen Verhandlungen.»

Das scheint sich zu ändern, wie eine soeben in der medizinischen Fachzeitschrift «The Lancet» veröffentlichte StudieExterner Link aufzeigt. Demnach wurde ab 2012 immer öfter von Medikamentenrabatten Gebrauch gemacht. Und besonders pikant: Ab 2019 wurden einige Abschläge auf Medikamente geheim gehalten.

Öffentlich zugängliche Dokumente belegen, dass die Zahl preisreduzierter Medikamente angestiegen ist: Von einem einzigen Medikament im Jahr 2012 stieg die Zahl auf 51 Medikamente im Oktober 2020. Zu mindestens 14 dieser Arzneien waren keine Informationen erhältlich über die Höhe des Rabatts beziehungsweise zum effektiven Preis, der Pharmaproduzenten bezahlt worden war. Bei den meisten dieser Medikamente handelt es sich um Krebsmedikamente.

«Auf Grund dieser Rabatte wissen wir nicht, auf welcher Grundlage der effektive Preis ausgehandelt wurde, und das ist gefährlich», sagt Kerstin VokingerExterner Link, Professorin für Gesundheitsrecht an der Universität Zürich und Co-Autorin der erwähnten Studie. «Ärzte und Patienten kennen die aktuellen Preise der Medikamente nicht. Die Patienten haben aber ein Recht zu wissen, was ihre Therapie kostet.»

Die Studie ist soeben erschienen – und kommt zu einem Zeitpunkt, an dem die Schweiz und viele andere Länder vertrauliche Covid-19-Impfstoff-Deals mit Pharmaherstellern unterzeichnen. Diese Deals werfen die Frage auf, ob die begrenzten Impfstoffvorräte unter den Höchstbietenden aufgeteilt werden. In der Zwischenzeit belasten extrem teure Behandlungen wie beispielsweise Gentherapien die Gesundheitssysteme. Deren Kosten gehen in die Millionen. Viele Länder suchen daher nach neuen Lösungen zur Kostensenkung von Medikamenten.

Ein Teufelskreis

Die Preisfestsetzung für Arzneimittel basiert auf dem Auslandpreisvergleich (APV) mit neun Referenzländern, die wirtschaftlich vergleichbare Strukturen im Pharmabereich aufweisen, sowie dem therapeutischen Quervergleich (TQV) mit patentgeschützten Arzneimitteln zur Behandlung derselben Erkrankung. Damit soll sichergestellt werden, dass ein Preis bezahlt wird, der mit dem Preis anderer Länder vergleichbar ist.

In den letzten Jahren haben viele europäische Länder aber begonnen, mit den Arzneimittelherstellern Rabatte oder Preisnachlässe für bestimmte Medikamente zu vereinbaren – eine Praxis, die in den USA schon seit Jahrzehnten besteht. Das bedeutet, dass der externe Referenz- oder Listenpreis nicht dem tatsächlich gezahlten Preis entspricht. Diese Praxis wird in Europa von Grossbritannien, Frankreich und Deutschland gehandhabt.

«Diese Praxis führt zu einem Teufelskreis», sagt Vokinger, «denn das System des Auslandspreisvergleichs funktioniert nur, wenn alle Länder mitmachen.» Wenn aber immer mehr Länder Rabatte einführten, hätten die anderen kaum eine andere Wahl, als diesem Beispiel zu folgen, so Vokinger.

Fragwürdige Argumente

Regierungen behaupten, dass ausgehandelte Abschläge auf Medikamente helfen, die Kosten im Gesundheitswesen zu senken und Medikamente schneller verfügbar zu machen. René Buholzer, Geschäftsführer von Interpharma, dem Dachverband der Pharmaindustrie in der Schweiz, verteidigte diese Praxis im öffentlich-rechtlichen Schweizer Fernsehen SRF.

«Diese Modelle werden überall dort eingesetzt, wo wir komplexe Probleme haben, die wir mit dem aktuellen Preissystem nicht lösen können. Es muss das Ziel sein, einen schnelleren Zugang zu Medikamenten zu ermöglichen», sagte Buholzer.

Diese Haltung bestätigte auch ein Sprecher des Basler Pharmaunternehmens Roche gegenüber swissinfo.ch: «Das Unternehmen setzt auf `massgeschneiderte Preise`, um möglichst vielen Patienten den Zugang zu unseren Innovationen zu ermöglichen.»

Die Studie der Universität Zürich widerspricht jedoch dieser Argumentation. Die Verfasser fanden heraus, dass das Aushandeln von Preiserlassen in der Regel dazu führt, dass die doppelte Zeit benötigt wird, bis ein Medikament auf die Spezialitätenliste gelangt und somit die Erstattung durch die Krankenkassen möglich ist. Bei Medikamenten mit Rabatten betrug die durchschnittliche Anzahl der Tage bis zur Preisfestsetzung 302 Tage. Bei Medikamenten ohne Rabatte waren es 106 Tage.

Die Studie nennt keine konkreten Gründe für diese längere Zeitspanne. Laut Vokinger könnte es daran liegen, dass die es keine Vorschriften gibt, wie Preisabschläge zu bestimmen sind. Das führe wohl zu komplizierten Verhandlungen.

Die Studie deutet auch an, dass Rabatte möglicherweise nicht zu niedrigeren Preisen führen. Aber das ist schwer herauszufinden, solange nicht transparent ist, was für ein bestimmtes Medikament im Vergleich zu anderen Ländern bezahlt wird. Die Studie zeigt zudem auf, dass die Preisabschläge nicht auf die teuersten und wirksamsten Medikamente beschränkt waren.

Lose-Lose-Situation

Die Studie der Universität Zürich weist schliesslich darauf hin, dass unterschiedliche Preise aufgrund von Angebot, Nachfrage, Erstattungspolitik sowie anderen länderspezifischen Faktoren gerechtfertigt sein können. Sowohl Roche als auch Novartis passen die Preise jeweils an das Durchschnittseinkommen eines Landes und dessen Preisniveau an.

Wie viele Länder erhalten beispielsweise einen Abschlag auf das Krebsmittel Cotellic? Das Pharmaunternehmen Roche erklärt, dass keine Details über Preise auf Länderebene offengelegt werden. Roche teilte in einer Mitteilung mit, dass es mehr Transparenz im System begrüssen würde: «Allerdings sind wir besorgt, dass dies unsere Möglichkeiten untergraben könnte, differenzierte Preise anzubieten, insbesondere in Ländern mit geringen Einkommen.»

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat dringend von vertraulichen Preisabsprachen mit den Pharmaherstellern abgeraten. Die Organisation warnt, dass diese Praxis zu einer Verzerrung der Medikamentenpreise führen kann und den zügigen Zugang zu Medikamenten eher behindert als begünstigt.

Bei der WHO-Jahresversammlung 2019 traf eine von der italienischen Regierung vorgeschlagene Resolution zur Förderung von mehr Transparenz bei der Preisgestaltung den Nerv der Pharmaindustrie. Regierungen von Standortländern grosser Pharmaunternehmen reagierten nervös. Eine abgeschwächte Version der Resolution wurde schliesslich angenommen. Seitdem hat es jedoch kaum Fortschritte gegeben und die Situation hat sich durch Covid-19 verkompliziert, wo geheime Absprachen zu den Impfstoffpreisen zur Norm geworden sind.

Eine gesetzliche Grundlage?

Die Schweiz erwägt derzeit, ihr Bundesgesetz über die Krankenversicherung (KVG) zu überarbeiten, um vertrauliche Preise für Medikamente offiziell im Gesetz zu verankern. Es schlägt vor, solche Preismodelle zu verwenden, «um einen schnellen und kostengünstigen Zugang zu innovativen, hochpreisigen Arzneimitteln zu gewährleisten.» Es wird vorgeschlagen, dass in einigen Fällen die Höhe der Rückerstattungsbeträge nicht veröffentlicht wird. Dies betrifft Fälle, in denen die Rabatte so hoch sind, dass die Pharmaunternehmen diese nicht öffentlich machen wollen.

In einem Interview auf SRF verriet Ryan Tandjung vom Bundesamt für Gesundheit (BAG), in welche Lage sich die Regierung befindet: «Wenn die Schweiz bei diesem Preismodell nicht mitmacht, kann es sein, dass sie entweder keinen Zugang mehr zu Medikamenten erhält oder zu viel für diese bezahlen muss. Es ist wichtig, dass wir diese Option [die Geheimhaltung der Preise] in Ausnahmesituationen haben.»

Die Schweizer Nichtregierungsorganisation Public Eye hat den Gesetzesentwurf scharf kritisiert. Sie ist der Auffassung, dass geheime Absprachen «nur die Macht- und Informationsasymmetrie zwischen Pharmaunternehmen und dem Bundesamt für Gesundheit bei der Aushandlung von Medikamentenpreisen verschärfen würden.»

Für Patrick Durisch, Experte für Gesundheitspolitik bei Public Eye, ist Transparenz einerseits wichtig, um gegenüber Steuerzahlern Rechenschaft ablegen zu können. Andererseits gehe es für Regierungen auch darum, ein Druckmittel auf die Pharmaunternehmen in der Hand zu haben.

«Pharmaunternehmen vertreten im Grunde die Haltung, dass sie Medikamente zu einem günstigeren Preis abgeben, aber gleichzeitig wollen sie nicht, dass diese Preisabschläge publiziert und mit anderen Ländern ausgetauscht werden», kritisiert Durisch.

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