Grosser Hype um kleinste Teilchen
Durchbrüche in der Quantenphysik sorgen für neue Tools und revolutionäre Anwendungen. Auch die Schweiz will mitmischen, läuft aber Gefahr, aussen vor zu bleiben.
Die USA, China und die EU investieren gigantische Geldsummen in Produkte, die sich die Wissenschaft des unendlich Kleinen zunutze machen. Und auch die Schweiz mischt mit: In den letzten 20 Jahren haben der Nationalfonds (SNF) und die Universitäten sowie Unternehmen rund 330 Millionen Franken in drei Nationale Forschungsschwerpunkte (NFS) investiert, von denen der Jüngste 2020 lanciert worden ist.
In den Mitteilungen des Nationalfonds heisst es, dass Schweizer Forschende zum Nachweis des «superfluiden Zustands von Polaritonkondensaten» beigetragen und die Technologie der «Quantenkaskadenlaser» vorangetrieben hätten und an der Entwicklung von «zuverlässigen, schnellen, kompakten und skalierbaren Silizium-Spin-Qubits» arbeiteten. Doch was heisst das überhaupt?
Obwohl sie allgegenwärtig erscheint, ist die Quantenphysik für Normalsterbliche noch immer eine verschlossene Welt. Selbst Professor:innen, die ihre Karriere diesem Forschungszweig gewidmet haben, sagen nicht ohne Ernst, dass sich nur Menschen mit masochistischen Zügen in dieses Gebiet vorwagen.
Die Welt der Kleinstteilchen und Atome lässt sich nur mit Gleichungen erfassen, die sogar den Verstand der meisten Mathematiker:innen überfordern. Es gibt keine Möglichkeit, sich ein echtes Bild davon zu machen. Es ist unmöglich, Quantenphysik mit einem 2D-Schema zu erklären, und selbst 3D würde nicht ausreichen.
Dennoch ist sie alles andere als ein abstraktes Konstrukt. Es ist die Natur, die seltsam ist, nicht die Theorie, die sie beschreibt. Eine Theorie im Übrigen, die auch in 120 Jahren Forschung nicht widerlegt werden konnte.
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Siegeszug einer verrückten Theorie
Innovative Anwendungen
Nun verlässt die Theorie die Labors und generiert neue Erfolge in der Industrie. In Genf leisten Professor Nicolas Gisin und seine Mitstreiter:innen Pionierarbeit auf dem Gebiet der Quantenkryptografie. Ihr Unternehmen ID Quantique stellt seit 20 Jahren Verschlüsselungssysteme her, die als unangreifbar gelten.
Inzwischen produziert es auch Zufallszahlengeneratoren, wie sie bereits in einigen Samsung-Handys zu finden sind, und Quantensensoren, die Licht pixel- oder photonengenau messen können.
Auch die Quantensensoren von Qnami in Basel sind «Swiss made» und weisen eine bis zu hundertmal höhere Genauigkeit als herkömmliche Sensoren auf. Sie werden zur Charakterisierung von Materialien oder zur Erkennung von Fehlern in Computerchips verwendet, sind aber auch für die Forschung in der Medizin, Biologie und Chemie von unschätzbarem Wert.
Zu den Unternehmen, die aus der Schweizer Quantenforschung hervorgegangen sind, gehört auch Alpes Lasers mit seinen oben erwähnten Quantenkaskadenlasern. Diese Art von hochpräzisem Infrarotlaser erkennt und analysiert Gase und andere Chemikalien und wird in der Forschung, der Industrie oder der Medizin eingesetzt.
Mehr Förderung gefordert
Die Quantentechnologie ist beliebt. Laut der US-amerikanischen Boston Consulting Group (BCG) hat die Branche in den Jahren 2020 und 2021 über zwei Milliarden US-Dollar an Investitionen generiert, doppelt so viel wie im gesamten vorangegangenen Jahrzehnt.
Hinzu kommt die staatliche Unterstützung, die im Falle Chinas besonders hoch ist, auch wenn die Regierung nicht verrät, wie viel tatsächlich ausgegeben wird. Jedenfalls schätzen die Expert:innen der BCG die zukünftigen Märkte, die sich für solche Produkte öffnen, auf 450 bis 850 Milliarden Euro in den nächsten 15 bis 30 Jahren.
Es ist also nur logisch, dass auch die Schweiz ihre Quanteninitiative startet, mit dem Ziel, die «einzigartige Position des Landes» zu sichern und die «internationale Vernetzung zu fördern». So formulierte es der Bund. Der Betrag, den die Schweiz für das Projekt bereitstellt – 10 Millionen Franken über die nächsten zwei Jahre – scheint jedoch sehr bescheiden.
Dies gibt auch Nicolas Gisin zu, der als Präsident der Schweizerischen Quanten-Kommission der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz amtet.
«Das Ziel muss sein, diesen Betrag zu vervierfachen, um 20 Millionen pro Jahr zu erreichen», sagt der Physiker. Das Geld soll für Bereiche ausgegeben werden, in denen «die Schweiz bereits stark ist», aber auch für die Ausbildung von Forscher:innen, Ingenieur:innen und Lehrlingen. Und auch Start-ups müssten gezielt gefördert werden, findet Gisin.
Suche nach dem heiligen Gral
Und dann ist da noch der berühmte Quantencomputer von Google, der in aller Munde ist und oft mit Superlativen umschrieben wird. Gisin dämpft aber die Euphorie: «Ich würde eher von einem Quantenprozessor sprechen, einer Maschine, die in einem Labor bleibt und die man aus der Ferne über das Internet konsultieren kann». Er ist der Meinung, dass sich auch die Schweiz in diesem Bereich engagieren und nicht einfach alles den USA, der EU oder China überlassen sollte.
Aber wofür wird dieser als phänomenal angekündigter Rechner von Google überhaupt verwendet? Der Techkonzern behauptet, dass er mit seinem Sycamore-Prozessor bereits im Jahr 2019 die Vorherrschaft im Quantencomputing erreicht habe. Die Maschine soll in 200 Sekunden eine Aufgabe erledigt haben, für die ein herkömmlicher Supercomputer 10’000 Jahre benötigen würde.
Konkurrent IBM bestreitet dies aber: Nicht 200 Sekunden, sondern zweieinhalb Tage habe der Prozessor gebraucht. Die Berechnung hatte im Übrigen keinen praktischen Nutzen und diene bloss dazu, die technologische Überlegenheit von Google zu demonstrieren.
Gisin räumt ein, dass einige Quantenleistungen übertrieben angepriesen werden. «Ich bezweifle auch, dass solche Computer in fünf bis zehn Jahren, wie viele behaupten, alltagstauglich seien werden.» Der Physiker findet es dennoch «beeindruckend», dass Google zeigen konnte, dass es Aufgaben gibt, die auf Quantenbasis viel effizienter gelöst werden können als auf klassische Art und Weise.
Letztendlich könnten Quantenprozessoren sehr nützlich sein, um neue Moleküle zu entwerfen. Nicht, um sie zu erschaffen, was das Vorrecht der Chemiker:innen bleiben wird, sondern um sie zu entwerfen und ihr Verhalten und ihre Eigenschaften zu simulieren, bevor sie «in echt» synthetisiert werden. Hier sind die Anwendungsbereiche immens und reichen von Medikamenten über Solarzellen bis hin zur gesamten Palette neuer Materialien, unabhängig von ihrer Verwendung.
Einschliesslich bösartiger Anwendungen? Gisin ist sich auch den potenziellen Risiken bewusst: «Ich kann Ihnen nicht sagen, dass die Quanteninformatik nur Gutes bewirken wird. Es ist wie bei allen Technologien. Die Quantenkryptographie kann beispielsweise Krankenhäuser vor Cyberangriffen schützen, sie kann aber auch Terroristen helfen, im Verborgenen zu bleiben».
Zur Frage, ob Quantencomputer zur Verbesserung von Vorhersagemodellen in der Finanzbranche verwendet werden könnten, reagiert Gisin mit einem Schulterzucken und einem Scherz: «Man kann auch die Börse als Gesamtes als Zufallsgenerator betrachten.»
Eine isolierte Schweiz
Das Schweizer Stimmvolk nahm 2014 die Initiative «gegen Masseneinwanderung» an und zog sich danach aus den Verhandlungen über das Rahmenabkommen mit Brüssel zurück. Eine der Folgen: Der Ausschluss vom Programm Horizon Europe, das die Forschung und Innovation in der EU definiert und finanziert und bis 2027 über 95 Milliarden Euro zur Verfügung stellt.
Und es geht nicht nur um das Geld, sondern auch um Netzwerke, Zusammenarbeit und Absatzmärkte für Schweizer Unternehmen, die Quantenprodukte verkaufen. Es sei eine «dramatische» Situation, findet Gisin. «Denn Ideen entstehen nicht, wenn man alleine im Büro sitzt. Man muss mit Menschen sprechen, sich gegenseitig herausfordern. Und unsere Partner sind in erster Linie die Europäer:innen.»
In Zürich sieht sein Kollege Klaus Ensslin, der zwölf Jahre lang den Nationalen Forschungsschwerpunkte Quantenwissenschaft und -technologie geleitet hat, eine «schmerzhafte Situation, einen Fall, in dem die Wissenschaft von der Politik als Geisel genommen wird».
Wie er im Dezember 2022 in einer Publikation der Eidgenössischen Technischen Hochschule sagte: «Die Schweiz hat mit der Quantenforschung eine Perle, die geopfert wird. Die Konsequenzen werden wir in einigen Jahren spüren.» Gerade für junge Forscher:innen seien die Folgen schlimm.
Lesetipp: Der unbegreifliche Zufall: Nichtlokalität, Teleportation und weitere Seltsamkeiten der Quantenphysik, von Nicolas Gisin, Springer Spektrum, 2014, 248 Seiten
Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer
Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer
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