Pilatus – die Bahn, die den verbotenen Berg bezwang
Die rote Pilatusbahn gehört zu den Hauptattraktionen der Region Luzern sowie der Schweiz. Zum 125-Jahr-Jubiläum sind wir in die steilste Zahnradbahn der Welt eingestiegen, um ihre Geheimnisse zu erkunden. Eine Reise zwischen Legenden und revolutionären Ideen.
Die Türen des Zugs sind bereits geschlossen, als eine chinesische Familie auf dem Perron erscheint. Stephan Sigrist, der Lokomotivführer, scheint über deren Verspätung überhaupt nicht verdrossen und lässt die Passagiere zuhinterst im Wagen Platz nehmen.
«An diesen Regentagen kommen vor allem ausländische Touristen auf den Pilatus. Die Schweizer warten lieber auf besseres Wetter», sagt der Lokführer und nimmt seinen Platz im engen Führerstand ein.
Vom Bahnhof AlpnachstadExterner Link am Vierwaldstättersee, nur wenige Kilometer von Luzern gelegen, beginnt der Zug seine Fahrt in Richtung Pilatus. Eine steile und kühne Fahrt auf einen der spektakulärsten und mysteriösesten Berge der Zentralschweiz.
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Ein Gipfel zwischen Mythen und Legenden
Über Jahrhunderte hinweg war das Pilatusmassiv der Sitz von Geistern, Gnomen und Drachen. So laute die Legende, die noch heute den Kindern erzählt werde, sagt Sigrist. «Unsere Drachen sind allerdings nicht böse. Es gibt zahlreiche Sagen von Wanderern, die von fliegenden Kreaturen aus einer Notlage gerettet wurden. Wer weiss, vielleicht begegnet uns eine…»
Die verrückte Idee des Eduard Locher
Unzugänglich war der Berg aber auch wegen einer anderen Präsenz, nämlich jener von Pontius Pilatus. Eine Sage erzählt, dass der Geist des römischen Präfekten, der Jesus zum Tod am Kreuz verurteilt hat, Zuflucht in einem der dortigen Seen gefunden hat. 1387 führte die Angst vor diesem Gespenst, das für gewaltige Unwetter verantwortlich gemacht wurde, dazu, dass die damalige Luzerner Regierung die Besteigung des Berges verbot. Ein Verbot, das erst ein paar Jahrhunderte später aufgehoben wurde.
Ende 19. Jahrhundert war es die Vision eines Zürcher Industriellen, welche den Pilatus schliesslich für den Massentourismus erschloss. Es war die Epoche der ersten BergbahnenExterner Link, und Eduard Locher hatte die Idee, die für viele «verrückt» klang, eine Bahn bis zum Gipfel hinauf zu bauen. Der Ingenieur entwarf ein System, das eigentlich einfach war: zwei horizontal drehende Zahnräder. Seine Konstruktion entpuppte sich aber als dermassen genial und revolutionär, dass sie sogar 1889 an der Weltausstellung in Paris gezeigt wurde.
Bei einer Zahnradbahn drehten die Räder in der Regel vertikal, sagt Werner Kramer von der Pilatusbahn. «Wir sind weltweit die einzigen mit einer Bahn, deren Räder horizontal laufen. Dies garantiert Antrieb und Kuppelung auf der Schiene. Das System bietet höchste Stabilität und ermöglicht, sehr steile Hänge zu überwinden.»
Am Bau der 4,6 km-langen Strecke, die Steigungen bis zu 48% erreicht, waren rund 600 Arbeiter beteiligt, darunter viele Italiener, die bereits am Bau der Eisenbahnlinie durch den Gotthard gearbeitet hatten. Das Werk war nach 400 Arbeitstagen fertig, so dass am 4. Juni 1889 die Pilatusbahn ihre erste Fahrt mit Passagieren durchführen konnte.
Der Erfolg kam umgehend. Trotz des exorbitanten Preises für den Aufstieg, nämlich 10 Franken, das Wochengehalt eines Arbeiters, gingen die Fahrkarten weg wie warme Brötchen. In den ersten sechs Monaten wurden 37’000 Fahrgäste registriert, viermal mehr als erwartet.
Eine Bahn für alle
Auch heute, an diesem trüben Tag, ist die von Stephan Sigrist gelenkte Bahn voll besetzt. Im Unterschied zu vor 100 Jahren ist es jedoch nicht nur das Grossbürgerturm, das sich diese Panoramafahrt leisten kann. «Es kommen Chinesen, Japaner, Amerikaner, Inder, Europäer… Touristen von überall auf der Welt. Die Hälfte unserer Gäste sind Ausländer, die andere Hälfte Schweizer», erklärt der Zugführer, bevor er sich umdreht, um das Verhalten der Passagiere zu kontrollieren.
«Dies ist einer der gefährlichsten Momente auf dieser Strecke», sagt er etwas später. Die Bahn hat eben die Blumenwiesen von Alpnachstad durchquert und fährt nun durch einen dichten Nadelwald. 50 Meter weiter ein enger in den Felsen gehauener Tunnel. «Ich muss mich versichern, dass niemand sich aus dem Fenster lehnt.»
Nachdem er einen unaufmerksamen indischen Touristen zurechtgewiesen hat, verlangsamt der 48-Jährige das Tempo der Zahnradbahn, indem er das hölzerne Steuerrad dreht. Auf halber Strecke durchquert die Bahn eine Alpweide, die ziemlich flach scheint. «Flach? Die Steigung beträgt hier 19%. Das scheint wenig. Wenn man den Weg zu Fuss zurücklegt, spürt man die Steigung», meint er vergnügt.
Stephan Sigrist macht die Fahrt sechs Mal am Tag, hinauf und hinunter, hinauf und hinunter… Ist das nicht langweilig? «Überhaupt nicht! Ich beobachte die Natur, die Tiere und lasse mich von den Wetterbedingungen überraschen. Heute Morgen lag auf dem Gipfel Schnee. Auf der Rückfahrt regnete es. Und jetzt scheint die Sonne.» Im Winter, wenn die Linie wegen Lawinengefahr geschlossen ist, arbeitet der ehemalige Postbeamte als Helfer auf der Skipiste. «Natürlich immer auf dem Pilatus.»
Infrastruktur von damals
Oberhalb der Baumgrenze wird die visionäre «Verrücktheit» von Eduard Locher offensichtlich: Vor den Augen eine Wand aus grauem Felsen, die auch den waghalsigsten Alpinisten erschaudern lässt. Dennoch klettert die Bahn mühelos hoch, Zahn um Zahn. Wie eh und je.
Der grösste Teil der Bahn-Infrastruktur sei dieselbe wie vor 125 Jahren, und die Wagen stammten aus dem Jahr 1937, als die Strecke elektrifiziert wurde, erklärt Werner Kramer. «Die ursprünglichen Hersteller gibt es jedoch nicht mehr. Viele Ersatzteile werden daher in unserer Werkstatt produziert.»
Rund 30 Minuten nachdem wir Alpnachstad verlassen haben, kommen wir auf dem Gipfel an. Die Touristen bewegen sich in Richtung Panoramaraum. «Hier sehen Sie den Drachen», ruft Stephan Sigrist und zeigt nach oben.
Von der Legende ist das mythologische Wesen an der Decke der Bahnstation gelandet, ein weiterer Drachen ziert das Logo der Bahn. Wer die Nacht in einem der zwei Hotels auf dem Gipfel oben verbringt, könne ihre Rufe hören, versichert der Lokführer. Oder vielleicht, meint er ironisch, «sind es lediglich Gämsböcke».
Der Bahnmitarbeiter schliesst die Wagontüren, verabschiedet sich von uns und begibt sich zur anderen Bahn. Die Passagiere stehen in Reih und Glied. Für Stephan Sigrist ist es Zeit, die Rückfahrt in Angriff zu nehmen.
Länge der Bahnstrecke: 4,6 km
Maximale Steigung: 48%
Höhendifferenz: 1635 Meter
Fahrgeschwindigkeit: 9 – 12 km/h
Maximale Förderleistung: 340 Personen pro Stunde
Passagiere: 357’162 im Jahr 2013
Betriebskosten: 1,9 Mio. Franken
(Übertragung aus dem Italienischen: Gaby Ochsenbein)
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