Plastikschwemme in der Schweiz: Recycling ist nicht das Allheilmittel
Die Schweiz verbraucht eine Million Tonnen Plastik pro Jahr. Der grösste Teil davon wird verbrannt, nur ein Bruchteil wird wiederverwertet. Etwa 14'000 Tonnen enden in der Natur. Zwar steigen die Recyclingkapazitäten, aber auch der Verbrauch nimmt zu.
Das Naturschutzgebiet Les Grangettes liegt im grossflächigen Rhone-Delta am Genfersee. Laut Pro Natura gedeihen hier Amphibien und Insekten in grosser Zahl. Die «Association pour la Sauvegarde du Léman» (ASL, Verein zur Erhaltung des Genfersees), die 25 Uferzonen rund um den See untersucht hat, spricht von mit Plastik kontaminierten Sumpfgebieten: «Der wertvollste Ort am Genfersee leidet auch am meisten unter Plastikmüll.»
«Die Schweiz verantwortet aufgrund ihres vergleichsweise hohen Verbrauchs an Kunststoffprodukten einen wesentlichen Beitrag an diesem global wachsenden Umweltproblem», fasst ein im September 2022 veröffentlichter Bericht des Bundesrats zusammen. Nach einer Modellrechnung beläuft sich in der Schweiz der Kunststoffverbrauch auf etwa eine Million Tonnen pro Jahr, was 120 Kilogramm Kunststoff pro Person entspricht.
Die Schweiz steht letztlich vor einem Plastikmüllberg von 790’000 Tonnen, wobei fast die Hälfte davon aus Produkten stammt, die weniger als ein Jahr lang benutzt wurden. Dieses Problem muss angegangen werden. Mehr als 80% dieses Abfalls werden in Kehrichtverbrennungsanlagen verbrannt, die insbesondere Energie für Fernwärmenetze erzeugen. Ein kleiner Anteil – rund 15% – wird rezykliert oder wiederverwendet. Ein weiterer, kleiner Anteil landet im Boden, im Wasser und in der Luft.
Alles in allem entgehen so jedes Jahr rund 14’000 Tonnen Abfall «einem gut funktionierenden Entsorgungssystem», sagt derselbe Bericht. Allein durch Littering werden jährlich rund 2700 Tonnen Plastikmüll achtlos entsorgt. Knapp 50 Tonnen Makroplastik gelangen durch Verluste infolge des Transports während der Abfallentsorgung in den Boden, so der oben zitierte Bericht. Zehn Tonnen Wattestäbchen und andere Hygieneprodukte, die über die Toilette entsorgt werden, landen in Oberflächengewässern. In dieser Summe enthalten ist auch Mikroplastik (siehe Kasten).
Treibhausgase und Recycling
Was kann dagegen getan werden? «Wie bei PET, das vollständig rezyklierbar ist, müsste die Kunststoffverarbeitung auf Bundesebene geregelt werden, von der Entwicklung des Materials bis hin zur Verarbeitung», sagt Jasmine Voide, Projektleiterin beim Dachverband Swiss Recycling. Denn die enorme Komplexität von Kunststoffen erschwere oder verhindere oft das Recycling.
Swiss Recycling weist aber auch auf die geschätzten Eigenschaften von Kunststoff hin, insbesondere im Bereich Lebensmittelschutz. Greenpeace hingegen betont, dass beim Recycling schadstoffbelasteter Produkte die Schadstoffe ins Recyclingprodukt übergehen können. Wie auch immer: In der Schweiz entstehen immer mehr neue Sammelkanäle für Nicht-PET-Kunststoffe wie z.B. Getränkekartons, Fläschchen, Plastiksäcke und Gebinde aller Art.
So hat die Thurgauer InnoRecycling AG ein Netzwerk von über 500 Gemeinden im Jahr 2022 mehr als 7000 Tonnen Haushaltkunststoff gesammelt. Das Unternehmen gibt eine Recyclingquote von rund 63% an. Die Sammlung erfolgt über kostenpflichtige Sammelsäcke. Das Unternehmen arbeitet mit einer Sortier- und Verarbeitungsanlage in Österreich zusammen.
Das aus den Kunststoffen gewonnene Granulat wird in Europa weiterverkauft. Die InnoRecycling AG plant den Bau einer Sortieranlage im Thurgau und strebt eine Sammlung von 20’000 Tonnen Kunststoffen pro Jahr an, sagt Sprecher Patrik Ettlin. Die Migros ihrerseits gibt bekannt, im Jahr 2022 rund 3200 Tonnen (Nicht-PET-)Plastikflaschen und mithilfe der Sammelsäcke 500 Tonnen Plastikabfall gesammelt zu haben.
Steigender Konsum
«Die Recyclingquote steigt, aber auch der Verbrauch. Hinzu kommt, dass dieser Prozess Energie verbraucht», stellt Florian Breider, Leiter des zentralen Umweltlabors an der EPFL, fest. Nach Angaben des Bundesamtes für Umwelt (BAFU) entfallen etwa 5% des gesamten Treibhausgas-Fussabdrucks der Schweiz auf Kunststoff. «Wenn Ihre Plastikflasche zu einem Pullover, einer Giesskanne oder anderen Gegenständen verarbeitet wurde, sind diese nicht mehr rezyklierbar», schreibt Jacques Exbalin, Autor eines Buches über den Kampf gegen Plastik.
Greenpeace stellt das Prinzip der Privatisierung von Recycling grundsätzlich infrage, da der Kunststoffbedarf der Recycling-Branche die Produktion ankurbeln dürfte – und dies in einer Zeit, in der die Elektrifizierung des Verkehrs die grossen Ölkonzerne dazu veranlasst, einen Teil ihrer Produktion auf Kunststoff umzustellen. Jedes Jahr werden mehr als 400 Millionen Tonnen Plastik produziert.
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«Die Botschaft, dass man Kunststoffprodukte und -verpackungen ruhig verwenden kann, wenn man sie nach dem Gebrauch trennt, ist falsch. Gegenstände aus Kunststoff müssen so hergestellt werden, dass sie für eine möglichst lange Lebensdauer vorgesehen und danach möglichst einfach zu rezyklieren sind», sagt Breider, der die enorme Verschwendung von Einwegartikeln anprangert. Nichts abgewinnen kann er den Mineralwasserflaschen: «ein vollkommen unnötiges Produkt, da Schweizer Leitungswasser eine sehr gute Qualität aufweist». Greenpeace hält die Massnahmen zur Verbesserung der Abfallsammlung für «reines Greenwashing». Die NGO befürwortet den Wechsel hin zu einem System mit wiederverwendbaren Verpackungen.
Reifenabrieb ist nach Erkenntnissen des Bundesamts Umwelt (BAFU) mengenmässig die grösste Quelle von Kunststoffen in der Umwelt (8900 Tonnen pro Jahr). Ausserdem gelangen jährlich etwa 100 Tonnen Kunststoffteilchen über Kompostdünger in den Boden.
Mikroplastik entsteht beim Waschen und Tragen von synthetischer Kleidung. Auch rund drei Tonnen Mikroplastikkügelchen aus Kosmetika enden jährlich in der Natur. Diese Mikroplastikpartikel zu entfernen erweist sich jedoch als nahezu unmöglich. Den Preis dafür zahlt die Tierwelt: Geringe Mengen an Mikroplastik wurden laut einer Studie aus dem Jahr 2014 im Verdauungstrakt von Vögeln und Fischen auch in der Schweiz gefunden.
Die Auswirkungen von Plastik auf den Menschen seien noch nicht bekannt, sagt EPFL-Experte Florian Breider, der an einer Studie zur Messung von Plastikvorkommen in der Lunge beteiligt ist. Ein weiteres Problem besteht darin, dass Kunststoffe Zusatzstoffe, beispielsweise Weichmacher, enthalten. Allerdings «weisen die Hersteller nur dann vollständige Informationen über diese Zusatzstoffe aus, wenn dies marketingrelevant ist. Dies ist zum Beispiel bei Nuggis der Fall, die garantiert bisphenolfrei sind», betont der Experte. (SH)
Dieser Artikel erschien zuerst in der Schweizer RevueExterner Link.
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