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Im Ringen zwischen Herz und Verstand tendieren Schweizer Parlamentarier zu Macron

Emmanuel Macron begeistert Schweizer Abgeordnete auf allen politischen Seiten. Keystone

Vier Kandidaten in einem Kopf-an-Kopf-Rennen, traditionelle politische Gruppierungen in Nöten, Spannung und Dramatik, wie es die Fünfte Republik noch nie erlebt hat: Der Wahlkampf in Frankreich fasziniert auch in der Schweiz. Wenige Tage vor dem ersten Urnengang hat swissinfo.ch Abgeordnete der fünf grössten Schweizer Parteien nach ihren Favoriten gefragt. Eine Bestandsaufnahme. 

«Auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene unterscheiden sich die SVP und der FN deutlich» Manfred Bühler

Die Kandidatin des Front National, Marine Le Pen, stellt die Schweizerische Volkspartei (SVP) regelmässig als Beispiel hin, aber die rechtskonservative Schweizer Partei gibt das Lob nur ungern zurück. «Nun, wenn ihr diese Sympathiebekundungen uns gegenüber helfen … Unsere beiden Parteien unterscheiden sich aber deutlich, besonders auf wirtschaftlicher und sozialer Ebene», meint der SVP-Parlamentarier Manfred Bühler. Er zögert hingegen keine Sekunde, seine Präferenz für François Fillon, den Kandidaten der konservativen Partei «Les Républicains» (LR) offenzulegen, obwohl gegen diesen eine Untersuchung läuft. «Er ist der Kandidat, der meiner politischen Linie am nächsten kommt», betont der Berner, selbst ein glühender Verfechter des Wirtschaftsliberalismus und eines schlankeren Staates. 

Seine Vorliebe für den Front National offen zu bekunden, macht aber bei der SVP nicht immer einen guten Eindruck. Yves Nidegger ist der einzige nationale Parlamentarier aus der französischsprachigen Schweiz, der offen eingesteht, dass er für Marine Le Pen stimmen würde. Vor einigen Wochen, mitten in der Kampagne für die Wahl der Waadtländer Regierung, hatte der SVP-Kandidat Jacques Nicolet verlauten lassen, dass er die Chefin des Front National ebenfalls unterstützen würde. «Ich glaube, dass es Marine Le Pen in diesen Wahlen weit bringen wird», liess er gegenüber Radio Télévision Suisse (RTS) verlauten, nur um danach sogleich nach Kräften zurückzurudern. Selbst in Zeiten der Entdämonisierung des Front National stellen SVP-Abgeordnete ihre ideologische Nähe zu Le Pens Partei nur ungern offen zur Schau, obwohl die Parallelen vor allem bei den Themen Migration und nationale Souveränität augenfällig sind.  

«Macrons europafreundliche Seite spricht mich mehr an» Liliane Maury-Pasquier

Genau wie in Frankreich sehen sich die Vertreter der Sozialdemokratischen Partei (SP) mit einem Dilemma konfrontiert. Während Benoît Hamon, der bei den Vorwahlen zum offiziellen Kandidaten der Linkspartei bestimmt worden war, laut Umfragen unter die 10-Prozent-Marke gerutscht ist, stehlen ihm die zwei früheren Parteimitglieder der Parti Socialiste Jean-Luc Mélenchon (vom Linksbündnis «La France insoumise») und Emmanuel Macron (von der neugegründeten Linkspartei «En Marche!») die Show.

«Im zweiten Wahlgang möchte ich mich nicht mit dem Duell Fillon gegen Le Pen konfrontiert sehen. Als Französin würde ich meine Stimme deshalb nicht Benoît Hamon geben», versichert die Genfer Ständerätin Liliane Maury-Pasquier. Bei der Wahl zwischen Macron und Mélenchon entscheidet sich unsere Gesprächspartnerin für die Stimme der Öffnung. «Was die Beziehungen mit der Europäischen Union angeht, ist Mélenchon auf derselben Linie wie Marine Le Pen. Er vertritt protektionistische, ja sogar nationalistische Ansichten. Macrons europafreundliche Seite spricht mich mehr an.»

Obwohl die Mehrheit der Schweizer SP ebenfalls Maury-Pasquiers Position einzunehmen scheint, findet man am linken Parteiflügel einige, die Jean-Luc Mélenchon bedingungslos unterstützen. Zu ihnen gehört Mathias Reynard. Auf seinem Twitter-Profil spricht sich der Walliser Parlamentarier klar für den Linksaussenkandidaten von «La France insoumise» aus, denn «er bietet als Einziger Alternativen und eine kohärente Vision an.» 

«Ich könnte Fillons Programm unterstützen, nicht aber seine Persönlichkeit» Laurent Wehrli

«Als Schweizer Parlamentarier steht es mir nicht zu, in einem anderen Land stattfindende Wahlen zu kommentieren», schickt Laurent Wehrli, Nationalrat der freisinnigen FDP.Die Liberalen aus dem Kanton Waadt und Stadtpräsident von Montreux, voraus. Diese anfängliche Zurückhaltung macht aber im Laufe des Gesprächs rasch dem Drang Platz, sich zu dieser Präsidentschaftswahl zu äussern, die alle von uns nach ihrer Meinung gefragten nationalen Parlamentarierinnen und Parlamentarier bewegt. «Hätte der Kandidat der Rechten Alain Juppé geheissen, hätte ich als Wahlberechtigter ohne Zögern für ihn gestimmt», erklärt er.

Angesichts eines konservativen Kandidaten, der in Affären verstrickt ist, sieht die Situation aber anders aus. «Ich könnte Fillons Programm unterstützen. Was hingegen seine Persönlichkeit betrifft, ist die Sache viel komplizierter. Es würde mir wirklich schwerfallen, einen Stimmzettel mit seinem Namen in die Urne zu werfen.» Die Extreme im linken wie im rechten Lager missfallen ihm, und er würde wohl seine Entscheidung bis zur letzten Minute hinauszögern, meint Wehrli. Aber er würde sich auf jeden Fall für einen «republikanischen Kandidaten» entscheiden.

Also nach dem Ausschlussverfahren für Macron stimmen? «Sein Bestreben, Ideen von links und rechts zusammenzubringen, ist interessant. Vor ihm hatten bereits andere versucht, Konsens und Kompromiss in das politische System Frankreichs zu integrieren, ich denke da vor allem an François Bayrou oder Alain Juppé. Das sind genau die zwei Elemente, welche die Stärke der Schweizer Demokratie ausmachen.»

Wenige Tage vor dem ersten Wahlgang der französischen Präsidentschaftswahlen können vier Kandidaten auf eine Teilnahme am zweiten Wahlgang hoffen: Marine Le Pen, Emmanuel Macron, François Fillon und Jean-Luc Mélenchon. Reuters

«Man trägt dazu bei, dass unkonventionelle Denkweisen mehr Zuspruch erhalten» Claude Béglé

Die Christlichdemokratische Volkspartei (CVP, Mitte-rechts) bezeichnet sich gern als «die stärkste Kraft der politischen Mitte» in der Schweiz. Es überrascht daher nicht, dass das Phänomen Macron die Parlamentarier dieser Partei freut. «Emmanuel Macron steht für eine innovative Mitte, deren Ideen ideologische Gräben und rigide Parteigrenzen überwinden können. Dieses Verständnis der Mitte zeugt von Weitsicht», betont auch der Waadtländer Nationalrat Claude Béglé.

Aus seiner Sicht könnte sich der konsens- und bündnisorientierte Ansatz des Kandidaten der Bewegung «En Marche!» «positiv auf Frankreich auswirken» und das Land von seiner «binären Denkweise» wegbringen. Claude Béglé vermutet jedoch auch, dass Emmanuel Macron schwierige Zeiten erwarten, sollte er den Einzug in den Élysée-Palast schaffen. «Er hat kaum Erfahrung damit, wie ein Land geführt wird, deshalb könnte er Fehler machen, und möglicherweise würde es ihm schwerfallen, den Ozeandampfer der französischen Bürokratie zu steuern.»

Für Claude Béglé stellt diese Präsidentschaftswahl auch einen Wendepunkt im politischen Leben Frankreichs dar. «Man trägt zu einem Zusammenbruch des Systems bei, unkonventionelle Denkweisen erhalten mehr Zuspruch. Das ist gleichzeitig erfrischend und gefährlich», sagt er und spielt dabei namentlich auf den Durchbruch von Marine Le Pen und Jean-Luc Mélenchon in den Umfragen an. 

«Der zentrale Konflikt findet zwischen den Anhängern der Öffnung und jenen der Abschottung statt» Adèle Thorens Goumaz 

Die Unterstützung von Emmanuel Macron durch Daniel Cohn-Bendit macht Schule bei den Schweizer Grünen. «Bei den Umweltthemen ist Emmanuel Macron nicht der Kandidat mit dem klarsten und engagiertesten Programm. Er ist aber zweifellos am besten in der Lage, der extremen Rechten und den Populisten Steine in den Weg zu legen», glaubt Adèle Thorens Goumaz.

Aber auch abgesehen von der rein zweckgerichteten Wahl sieht die Waadtländer Nationalrätin der Grünen im Kandidaten des Bündnisses «En Marche!» unbestreitbare Qualitäten. «Er verfügt über eine ungemeine Innovationskraft und will den Menschen die Hoffnung und das Vertrauen in die Zukunft zurückgeben, indem er sich auf ein konstruktives Engagement der Bürger stützt. Er ist sich bewusst, dass man von ihm Lösungen erwartet, die über die Parteigrenzen hinausgehen.»

Die von Jean-Luc Mélenchon angepriesene ökologische Revolution überzeugt Adèle Thorens Goumaz hingegen nicht: «Der zentrale Konflikt, der zurzeit in Frankreich und in Europa stattfindet, spielt sich zwischen den Verfechtern der Öffnung – zu denen auch ich gehöre – und den Anhängern der nationalen Abschottung ab. Und da wäre Jean-Luc Mélenchon mit seinem populistischen und extremistischen Unterton bereit, eine Spaltung Europas in Kauf zu nehmen.» 

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