Flüchtlingskrise beflügelt die Rechte
"Die Rechte bedrängt das Parlament", "Drehen Sie nach rechts", "Comeback der bürgerlichen Schweiz", "Triumph der SVP", "SVP stärker denn je". Der Wahlsieg des bürgerlichen Lagers ist in der Schweizer Presse unbestritten. Die Polarisierung im Parlament werde dadurch noch zunehmen. Einig sind sich die Medien auch, dass die Flüchtlingskrise der Rechten in die Hände gespielt hat.
Die Flüchtlingskrise sei für die «Partei mit dem Mantra vom übervollen Boot» wie gerufen gekommen, schreibt die wirtschaftsnahe Neue Zürcher Zeitung (NZZ). «Christoph Blocher kann sich bei seiner heimlichen Wahlhelferin Angela Merkel bedanken. Ihre fatalistische Migrationspolitik provoziert nicht nur in der Bundesrepublik bange Fragen, wohin dies alles noch führt. Wenn ein Nachbarland durch eine Politik der offenen Grenzen an den Rand des partiellen Staatsversagens gerät, in dem die Regierung nicht mehr Herr der Lage zu sein scheint, darf man sich nicht wundern, dass es denjenigen nützt, die schon immer vor unkontrollierbaren Zuständen warnten.»
Von einem «Rechtsrutsch» will die NZZ aber nicht reden. Die Freisinnige Partei (FDP.Die Liberalen) habe bei den Eidgenössischen Wahlen am Wochenende «deutliche» Sitzgewinne verzeichnen können und die Schweizerische Volkspartei (SVP) sogar «massive». Aber der von einigen prognostizierte «Rechtsrutsch» sei dennoch ausgeblieben, kommentiert die NZZ unter dem Titel «Rückkehr zur Normalität». Auch wenn es in der Schweiz mit ihrem an grossen Umschwüngen armen Politsystem so scheinen möge, so seien «einige Prozentpunkte alles andere als ein Erdrutsch». Diese Wortwahl unterstelle nämlich, dass ein homogener rechter Block existiere. «Wo es in Wirklichkeit nur zwei bürgerliche Parteien gibt, die überdies in zentralen Fragen unterschiedliche Ansichten vertreten.»
Ähnlich tönt es in der Westschweiz: 2011 habe die Katastrophe von Fukushima einen Teil des Wahlresultats provoziert und den Ökologen zu Sitzgewinnen verholfen. 2015 habe die Migrationskrise die SVP stärker als je gemacht, schreibt Le Temps. Diese Zusammenfassung könnte den Eindruck verleihen, die internationalen Themen würden in den Eidgenössischen Wahlen den Ton angeben. Das würde aber zu kurz greifen, denn das Verdikt vom Sonntag sei letztlich nur die Aneinanderreihung von 26 kantonalen Wahlen, relativiert die Westschweizer Tageszeitung mit Bezug auf das föderalistische System der Schweiz. «Das Stimmvolk will Repräsentanten wählen, die in der Lage sind, die lokalen Konsequenzen der grossen globalen Krisen in die Hände zu nehmen.» Eine logische Folge davon sei die Niederlage der Parteien mit monothematischen Inhalten wie den Grünen. «Alle sind ein bisschen grün geworden, aber jene, die es ausschliesslich sind, haben an Glanz verloren», ob sie nun eher aus linker oder aus liberaler Warte politisierten.
Als einen Ruf nach Standfestigkeit interpretiert der Walliser Nouvelliste das Wahlresultat vom Wochenende. «In Zeiten starker Verunsicherungen, die derzeit mit einer gedrückten ökonomischen Situation und einer als unkontrollierbar eingeschätzten Immigration zusammenhängt, hat das Stimmvolk die Tendenz, jene Parteien zu wählen, die sich als standfest rühmen. Unsere Nachbarn kennen genau die gleiche Situation, in Frankreich mit dem Front National oder mit den Freiheitlichen in Österreich.» Die von der SVP endlos wiederholte monothematische und enthemmte Denkweise über die drastische Beschränkung der Anzahl Fremder und die Ablehnung Europas überzeuge all jene, die im Stimmengewirr der anderen Parteien nichts mehr hören könnten.
«Schandfleck der zivilisierten Welt»
Nahezu jeder dritte Urnengänger habe die Schweizerische Volkspartei (SVP) gewählt, rechnet die Boulevard-Zeitung Blick vor und sagt voraus, was dieser «historische Wahlsieg» für das Land heisse. «Zunächst einmal: Die Asyl- und Migrationspolitik, ein Kernthema der Rechtsaussenpartei, hat diese Wahlen zugunsten der SVP entschieden. Kein Wunder. Das Flüchtlingsproblem ist das grosse Leid der Zeit, ein ungetilgter Schandfleck der zivilisierten Weltgemeinschaft, unter dem alles andere verblasst. Darin offenbart sich die abgrundtiefe Ratlosigkeit der Politiker. Sie schwanken zwischen einem Aufnahme-Blankoscheck für Flüchtlinge und einer unmenschlichen Grenzen-dicht-Haltung.»
Aber das Volk verlange pragmatische Lösungen zur Eindämmung der Flüchtlingsströme, schreibt die leserstärkste Tageszeitung der Schweiz und das heisse: «klare Anwendung des Asylgesetzes. Dies traut jeder dritte Wähler am ehesten der SVP zu».
Das deutliche Verdikt «im Land der direkten Demokratie» dürfte auch in Brüssel und Berlin registriert worden sein, schreibt der Blick in Anspielung auf die Flüchtlingspolitik der EU und vor allem der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. «Die Schweiz ist seit jeher ein Seismograf für Unterströmungen in der Bevölkerung, die sich über das direktdemokratische Wahlsystem früher und klarer artikulieren als anderswo und die regierenden Parteien so unter Druck setzen, den Wählerwillen zu respektieren.»
Jedem Politiker in Europa müsse nun klar sein, dass die Resultate ähnlich wären wie in der Schweiz, wenn sich «auch dort das Volk direkt an der Urne zur Flüchtlingsfrage äussern könnte».
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Mit Gadgets auf Stimmenfang
An den zweiten, wenn auch kleineren Sieger der Parlamentswahlen, erinnert die Waadtländer Tageszeitung 24 heures. Die Freisinnige Partei habe das seit langem verlorene Lächeln wieder gefunden. Angesichts der starken Verunsicherungen im Zusammenhang mit der Wirtschafts- und Beschäftigungssituation sowie mit den bedrohten Bilateralen Verträgen mit der Europäischen Union hätten die Freisinnigen einen glaubwürdigen Weg einzuschlagen verstanden. Mit dem Rechtsrutsch dürfte in der nächsten Legislatur eine polarisierende Politik ins Parlament zurückkehren. Auf die Kompromisse der letzten Jahre bezüglich Altersvorsorge, Energie, Transport oder Besteuerung dürften laut 24 heures härtere Konfrontationen und eine neue Litanei von Initiativen und Referenden folgen.
Sieg trotz «Vabanque-Spiel»
«Ein gespaltenes Land», titelt der Tages-Anzeiger. Die Eidgenössischen Parlamentswahlen hätten die Schweiz weiter polarisiert. «Das sind schlechte Vorzeichen für die anstehenden Reformen.»
Als historisch bezeichnet die Zürcher Tageszeitung das Wahlresultat der Schweizerischen Volkspartei (SVP), die ihr bisher höchstes Resultat von 2007, als sie 28,9 Prozent erzielte, noch übertrifft. «Der SVP-Sieg ist umso bemerkenswerter, als er ein Jahr nach dem Ja zur Zuwanderungsinitiative erfolgt. Nicht einmal die unabsehbaren Folgen, die die SVP der Schweiz damit beschert hat, schmälern ihre Attraktivität. Wenn eine Partei mit der Zukunft des Landes derart Vabanque spielt, ohne an der Urne abgestraft zu werden, kann sie im Prinzip tun und lassen, was sie will – die Gefolgschaft bleibt ihr treu.»
Die Partei pflege einen kuriosen Mix aus nationalkonservativem, rebellischem und wirtschaftsliberal-agrarischem Gedankengut. Und sie spreche mit Personen wie Roger Köppel, dem Chefredaktor der Weltwoche, auch intellektuell-urbane Wähler an. «Solange sie als De-facto-Opposition Probleme benennen kann und nicht lösen muss, wird sie ein Resultat in diesem Bereich erzielen», prophezeit der Tages-Anzeiger.
Wahlen 2015
Die SVP geht als klare Siegerin aus den Nationalratswahlen 2015 hervor. Sie gewinnt 11 Sitze und kommt damit auf den historischen Höchststand von 65 Mandaten. Zusammen mit den Freisinnigen und kleinen Rechtsparteien hat die SVP neu eine Mehrheit.
Die SP büsst drei Sitze ein und hat noch 43 Mandate. Die FDP kommt mit drei Sitzgewinnen neu auf 33 Vertreterinnen und Vertreter. Die CVP verliert einen Sitz und kommt noch auf 28 Mandate.
Zu den grossen Wahlverlierern gehören die Sieger der Wahlen 2011. Hart traf es die Grünliberalen, welche 5 ihrer Deputierten einbüssten und noch 7 Sitze haben. Die BDP, die Partei von Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf erzielte 7 Sitze, minus zwei. Federn lassen mussten ausserdem die Grünen. Sie verloren 5 Mandate und kommen noch auf 10.
Zusammen mit der Tessiner Lega (2 Sitze) und dem Mouvement Citoyen Genevois (1 Sitz) ist demnach die rechtsbürgerliche Mehrheit aus SVP und FDP im Nationalrat mit 101 Stimmen Tatsache. Die Wahlbeteiligung lag bei 49 Prozent, 0,5 Punkte höher als 2011 und so hoch wie seit 1975 nicht mehr.
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