«Wir dürfen Künstlern in ihrem Schaffen keine Politik aufzwingen»
Philippe Bischof, seit 100 Tagen Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, spricht mit swissinfo.ch über die Bedeutung des Kulturaustausches mit dem Ausland. Er sagt, Kunst biete eine Chance zum Dialog und erklärt, wie Pro Helvetia Kulturprojekte in Ländern unterstützt, wo die Kunst unter politischem Druck steht.
swissinfo.ch: Wenn Sie den Stand der Kunst in der Schweiz beschreiben müssten, um diese im Ausland zu «verkaufen», wie würden Sie das angehen?
Philippe Bischof: Mit der Vielfalt, denn diese ist ziemlich spezifisch für die Schweiz. Sie ist ein Land mit vier offiziellen Sprachen. Es gibt nicht nur eine Schweizer Kultur, sondern viele Schweizer Kulturen – und das wird in anderen Ländern geschätzt, das höre ich oft.
Es gibt aber auch die Frage der Qualität. Die Schweiz ist ein reiches Land – mit einer hohen Qualität in der Kunstproduktion und sehr guten Kunstakademien. Es ist Kunst, die unter exzellenten Bedingungen geschaffen wird, mit guten finanziellen Mitteln und guter Infrastruktur, das ist etwas, dass man einfach erkennen kann. Es gibt aber auch eine Art spezifischer Innovation, mit viel Liebe zum Detail, akribisch, wie etwa mit Christoph Marthaler im Theater, oder mit Fischli & Weiss in der Kunst und so weiter.
swissinfo.ch: Glauben Sie, dass die Schweizer Szene internationaler geworden ist, in dem Sinne, dass es schwieriger geworden ist, von «Schweizer Kunst» zu sprechen?
P.B.: Die Kunst war immer eine internationale Sprache. Diese globale Sprache ist es, die Kunst zu Kunst macht. So gibt es zum Beispiel ein Musikfestival in einem Wald im Kanton Obwalden, wo sie Jahr für Jahr zwei Regionen oder Länder zusammenbringen, und man entdecken kann, dass das Jodeln kein Schweizer Ding ist – sondern dass man auch in Bhutan jodelt.
Die Technik und die Kultur dahinter sind universell. Für mich geht es also nicht um Schweizer Kunst, sondern um Kunst, die von Schweizerinnen und Schweizern, oder in der Schweiz, gemacht wird. Das ist es, was wir finanzieren. Das ist ein wichtiger Unterschied.
swissinfo.ch: Inwiefern sieht sich Pro Helvetia als Sprungbrett für Schweizer Künstlerinnen und Künstler, um international Fuss zu fassen?
P.B.: Ganz wesentlich. Wir sind die einzige Institution, die konsequent die Förderung von Schweizer Kunst und Kultur im Ausland und ins Ausland als Auftrag hat. Wir sind dann erfolgreich, wenn es uns gelingt, Leute mit Talent in der Schweiz früh zu erkennen und aufzubauen und nach einer bestimmten Zeit konsequenter Förderung auf internationalen Bühnen zu präsentieren. Dann haben wir einen Teil unserer Mission erfüllt.
swissinfo.ch: Sie bieten eine konsequente Karrierebegleitung ins Ausland?
P.B.: Wir sind in der Schweiz nach den Gemeinden, Städten und Kantonen die letzte Stelle der Kulturförderung – im positiven Sinne. Deshalb ist die Nachhaltigkeit und die Selektivität unserer Arbeit sehr wichtig. Es braucht viele Jahre bis eine Künstlerin oder ein Künstler international wahrgenommen wird. Die konsequente Begleitung einer Laufbahn ins Ausland ist eine Frage von Geduld und Vertrauen.
swissinfo: Wie bereiten sie die Rezeption von Schweizer Kunst im Ausland vor?
P.B.: Der Austausch mit dem Publikum findet im Inland und Ausland statt. Das ist nicht trennbar. Die Trainingsstätte für das Ausland ist das Inland, das einheimische Publikum. Wir haben die Verantwortung, dass wir die Künstler nicht zu früh in die Welt schicken – wir möchten die Gefahr vermeiden, dass sie dort nicht bestehen. Wenn eine Tanzkompanie aus Bern aber vor Publikum in Genf bestehen kann, und dann erst in Paris auftritt, ist die Chance in der Regel grösser, dass sie es schafft.
swissinfo: Sie sind seit etwas mehr als 100 Tagen im Amt. Was macht die Faszination dieser internationalen Perspektive für Sie persönlich aus?
P.B.: Kunst ist kein Produkt, das in sich besteht, sondern Kunst ist ein Angebot zum Dialog – dafür braucht es Raum. Je grösser dieser Echoraum ist – und die Welt ist ja grösser als die Schweiz – umso interessanter sind auch die dialogischen Angebote, die entstehen können. Es ist menschlich und politisch eine grosse Chance, über die Kunst einen Perspektivenwechsel auf bestimmte Dinge oder eine andere Ausdrucksweise ganz konkret zu erleben. Das Faszinierende ist, dass man dasselbe Theaterstück, dasselbe Buch, an verschiedenen Orten anders rezipiert. Beethovens 9. Sinfonie in Island zu hören ist nicht dasselbe wie hier in Zürich. Das ist ein Glück, es zeigt die Vielfalt und die Differenziertheit von Kunst per se.
swissinfo.ch: Wie kann Pro Helvetia bei der Unterstützung von Kulturprojekten in ehemaligen europäischen Kolonien, vor allem in Afrika, einen gewissen Grad an Neutralität bewahren?
P.B.: Das ist tatsächlich eine sehr wichtige Frage. Was uns hilft ist erstens, dass Pro Helvetia eine nationale Institution ist, aber keine politische Agenda vertritt. Das ist etwas, was viele Menschen und Interessengruppen schätzen. Sie kommen auf mich zu und erklären «beschützen Sie das»; es sorgt für eine Art Freiraum, was unsere Engagements angeht, und das ist ein Teil der Antwort.
Zweitens sollten wir nie vergessen, dass diese Art Kulturaustausch sehr heikel und komplex ist. Es braucht Respekt, braucht viel Zeit und Raum, und ist nicht immer erfolgreich. Aber was die Leute kennen, sind der gute Ruf von Pro Helvetia, das Qualitätsbewusstsein und wie schon erwähnt, diese Unabhängigkeit.
swissinfo.ch: Wie reagieren Kunstschaffende auf post-koloniale Ansätze?
P.B.: Der post-koloniale Ansatz ist kein klar definiertes Konzept, es geht eher um eine gewisse Mentalität, eine Haltung. Grundsätzlich eine gute, damit bin ich einverstanden, aber es ist kein striktes Programm. Übrigens ist es interessant, Kunstschaffende aus post-kolonialen Ländern sagen zu hören: «Das ist mir egal, ich will einfach mein Ding machen.»
Kunstschaffende und Schauspielerinnen und Schauspieler aus post-kolonialen Ländern fordern das Recht zurück, dass man sie «einfach machen lässt, was wir tun wollen, wir wollen uns nicht mit einem Projekt über Post-Kolonialismus oder was immer befassen, wenn wir es nicht tun wollen».
Das ist von Bedeutung für alle europäischen Kulturinstitutionen. Wir sollten keinem Künstler, keiner Künstlerin irgendwo je ein politisches Programm für ihr Werk aufzwingen. Das ist die delikate Balance.
swissinfo.ch: Pro Helvetia ist auch in Regionen aktiv, in denen die Kunst starkem politischen Druck ausgesetzt ist. Die Unterstützung von künstlerischen Aktivitäten steht in engem Zusammenhang mit Themen wie Menschenrechte, soziale Gerechtigkeit, Minderheiten, Genderfragen sowie der Überwindung von kolonialen und post-kolonialen Praktiken. Steht diese Charta von Grundsätzen nicht im Widerspruch zur Situation vor Ort, vor allem in Ländern wie China, Russland, dem grössten Teil der arabischen Welt, und in Zukunft auch in Staaten wie Brasilien.
P.B.: Wir befassen uns mit Individuen, es ist sehr wichtig, dies zu unterstreichen. Wir haben es nicht mit Regierungen oder Verwaltungen zu tun. Wir unterstützen Projekte oder Kunstschaffende, es geht um Verbindungen zwischen einzelnen Personen. Und ein positiver Aspekt der Zusammenarbeit mit lokalen Leuten ist, dass diese die Situation, die Grenzen, aber auch die Freiräume kennen.
Ich habe mich jüngst mit der Leiterin unserer Büros in Moskau unterhalten und fragte sie direkt, wie die Lage sei. Und sie sagte: «Schau, ich weiss, was möglich ist und was nicht, und ich versuche, mich innerhalb dieses Bereichs frei zu bewegen.» Ist das nun Zensur oder nicht? Ist es nicht. Wichtig ist, dass wir das, von dem wir überzeugt sind, in einem gewissen politischen Rahmen unterstützen können.
swissinfo.ch: Aber ist das nicht Selbstzensur?
P.B.: Nein. Das ist auch in der Schweiz so, es gibt gewisse «kulturelle Regeln».
swissinfo.ch: Was wäre in der Schweiz tabu?
P.B.: Man muss immer den Kontext berücksichtigen. Es ist für uns sehr wichtig, den Kontext zu kennen und zu respektieren, denn es ist nicht unsere Mission irgendeinen politischen Kontext zu verändern. Ägypten ist Ägypten, das müssen wir respektieren. Es ist eine permanente, zielstrebige und respektvolle Herangehensweise. Und vielleicht können Kunstschaffende dort durch ihre kulturelle Arbeit zu neuen Schichten in Gesellschaften beitragen.
Pro Helvetia – globales Netzwerk
Pro Helvetia wurde 1939 von der Schweizer Regierung zur Förderung von Kulturwerken von nationalem und internationalem Interesse als Arbeitsgemeinschaft gegründet – am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, als Teil der damaligen Politik der «geistigen Landesverteidigung». Zehn Jahre später wurde Pro Helvetia in eine Stiftung nach öffentlichem Recht umgewandelt. Sie hat ihren Sitz in Zürich.
Pro Helvetia ist die einzige Schweizer Institution, die kontinuierlich Schweizer Kunst und Kultur im Ausland und den kulturellen Austausch zwischen den Sprachregionen im Inland vermittelt und fördert. 1985 gründete Pro Helvetia als erste Aussenstelle das Centre Culturel Suisse in Paris. Heute betreibt sie ein Netz von Aussenstellen rund um den Globus, mit Verbindungsbüros in Kairo, New Delhi, Johannesburg, Moskau und Schanghai sowie kulturellen Zentren in Partnerschaft mit anderen Institutionen, unter anderem in New York, San Francisco und Rom.
Im vergangenen Jahr unterstützte Pro Helvetia Projekte in rund 100 Ländern. Für 2018 beträgt das Budget 40,3 Mio. Franken.
swissinfo.ch: Was sind die Kriterien für die Auswahl eines Landes, in dem Pro Helvetia präsent sein will?
P.B.: Die Fragen sind, wo gibt es inhaltliches Potential und wo gibt es Märkte, also Möglichkeiten für Publikum und Verbreitung? Das erste Verbindungsbüro wurde aufgrund dieser Kriterien vor 30 Jahren in Kairo gegründet.
Ich muss weder Ägypten noch Südafrika rechtfertigen, beides sind kulturell unglaublich reiche Regionen. 2004 definierten wir, auf der Grundlage einer neuen Analyse, künftige Märkte: Indien, Russland, China und Brasilien. Über die Jahre hinweg haben wir an diesen Orten Zweigstellen eröffnet.
swissinfo.ch: Wieso wurden Zweigstellen in Städten wie Belgrad geschlossen, wo es dort doch noch so viel zu tun gibt?
P.B.: Das war kein eigentliches Pro-Helvetia-Verbindungsbüro im aktuellen Sinn. Aber das Beispiel zeigt, wie sich Prioritäten verschieben können. Die künstlerischen Verbindungen zwischen der Schweiz und Belgrad hatten sich derart intensiviert, dass unsere Präsenz nicht mehr nötig war.
Für mich geht es zudem nicht nur darum, in solchen Hotspots oder Städten präsent zu sein, sondern vielmehr darum, Netzwerke mit den umgebenden Regionen aufzubauen. Das Verbindungsbüro in Kairo zum Beispiel sorgt sich nicht nur um Kairo, sondern auch um Tunesien und Libanon.
swissinfo.ch: Sie haben einmal erwähnt, dass Kulturaustausch auch Übersetzungsarbeit ist. Können Sie uns dazu etwas mehr sagen mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen, vor denen Sie bei Pro Helvetia stehen?
P.B.: Ich war in einem anderen Interview gefragt worden, weshalb wir im Zeitalter des Internet noch immer Kulturaustauschprogramme haben – und ich sagte, dass wir persönliche Begegnungen noch immer nicht über das Internet abwickeln oder vermitteln können. Und darum geht es in der Kultur.
Wir haben die Tendenz zu vergessen, dass das Englische nicht die einzige Sprache der Welt ist. Übersetzen bedeutet für mich also, unterschiedliche kulturelle Situationen, lokale Situationen, Sprachen im eigentlichen Sinne wirklich zu respektieren, aber auch auf einer sekundären Ebene ihrer Definition – ich denke zum Beispiel an nonverbale Kommunikationswege, die nur in persönlichen Begegnungen möglich sind.
Das bedeutet, Gedanken und Ideen aus einem Ursprung in einen anderen zu übersetzen, zu übertragen. Es ist nicht nur das Übersetzen von Sprache zu Sprache, sondern auch von Kontext zu Kontext, und letztlich von Individuum zu Individuum. Ohne persönliche Begegnungen wäre dies nicht möglich.
Es gibt da diesen Satz des polnischen Soziologen Zygmunt Baumann, der mir geblieben ist: «Die Bänder der Übersetzung scheinen heute systematisch gekappt zu werden.» Ich weiss nicht, ob das so ist oder nicht, aber wir müssen Sorge tragen zur Kunst des Übersetzens und dem Bewusstsein dafür.
swissinfo.ch: Und wie sieht es in Bezug auf eine gewisse eurozentrische Falle aus, mit der auch die meisten anderen ähnlichen Kulturinstitutionen Europas konfrontiert sind?
P.B.: Nun, es ist schwierig, nicht eurozentrisch zu sein, wenn man in Europa ist. Für mich besteht die Herausforderung darin, immer daran zu denken, dass wir innerhalb von sehr unterschiedlichen Auffassungen und Definitionen von Dingen handeln. Lassen Sie uns zum Beispiel über darstellende Kunst sprechen. Für uns städtische Menschen in Europa ist klar, was wir darunter verstehen, worum es geht. Aber wenn wir etwa nach Nigeria gehen, sollten wir uns die Frage stellen: «Was bedeutet darstellende Kunst für die Kunstschaffenden und das Publikum hier?»
swissinfo.ch: Wieso?
P.B.: Es geht um die Unterscheidung zwischen Verschiedenheit und Distanz. In der Kulturtheorie gibt es eine lang währende Diskussion über kulturelle Unterschiede. Es gibt eine interessante Argumentation von François Jullien [französischer Philosoph und Sinologe, die Red.], der sagte, es gehe mehr um Distanz, man sollte mehr in Abständen denken, nicht in Unterschieden, denn Differenz bedeute, dass wir zwei verschiedene Menschen seien, Distanz hingegen bedeute, dass wir einfach an zwei unterschiedlichen Orten seien.
Und wir haben die Tendenz, Distanzen zu vergessen. Aber sogar zwischen Basel und Zürich gibt es Unterschiede, sind die Dinge nicht einfach gleich. Nicht alle sprechen die gleiche Sprache, nicht alle haben die gleichen Wünsche, Träume.
Es geht mir daher nicht darum, ob ich eurozentrisch bin oder nicht, sondern darum, was ich damit tue, wenn ich als Ausländer irgendwo hingehe, wenn ich meinen Ort verlasse, um an einem anderen Ort Gast zu sein. Das sollten wir nie vergessen.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch