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Garry Kasparow: «Die Schweiz ist nicht bereit zu tun, was nötig ist»

Kasparov
swissinfo.ch

Wie wirksam sind die Sanktionen gegen Russland? Welche Rolle spielt die Schweiz im Krieg gegen die Ukraine? Wir haben russische Putin-Gegner befragt. Im letzten Teil unserer Serie redet Garry Kasparow.

Die Schweiz spielt eine wichtige Rolle, wenn es um russische Vermögenswerte und Rohstoffe geht. Sie darf sich nicht hinter ihrer Neutralität verstecken, sondern sollte aktiv dazu beitragen, dass dem russischen Kriegsregime die Ressourcen ausgehen: Das ist die einhellige Meinung aller Meinungsführer der russischen Opposition, die wir befragt haben.

Für diese Interviewreihe haben wir die wichtigsten Stimmen kontaktiert, die sich gegen den Kreml aussprechen. Die meisten von ihnen mussten deshalb das Land verlassen: Putin-Gegner Garry Kasparov lebt jetzt in Kroatien und den USA, der Unternehmer Leonid Nevzlin in Israel, und Star-Ökonom Sergei Guriev floh nach Frankreich. Der Putin-Kritiker und Wirtschaftswissenschaftler Sergej Aleksaschenko lebt in Washington. Wladimir Kara-Mursa beantwortete unsere Fragen in russischer Haft. 

Garry Kasparow ist ehemaliger Schachweltmeister, Schriftsteller und politischer Aktivist. Von 1984 bis 2005 war Kasparow 255 Monate lang die Nummer 1 der Weltrangliste, so lange wie kein anderer in der Geschichte. Er gründete danach die Vereinigte Bürgerfront und schloss sich im Februar 2022 dem Antikriegskomitee an, einer Gruppe exilierter russischer Persönlichkeiten, die sich gegen Putins Krieg auf die Ukraine aussprechen. 2013 hat Kasparov Russland verlassen, aus Angst vor Verfolgung durch den russischen Staat.

swissinfo.ch: Herr Kasparow, wie lange kann Russlands Wirtschaft den westlichen Sanktionen standhalten?

Garry Kasparow: Die Wirtschaft von Putins Russland hat keine unendlichen Möglichkeiten, und die sozioökonomische Situation nähert sich im Frühling einer Katastrophe. Und das, obwohl die Sanktionen erst jetzt richtig zu wirken beginnen.

Die Sanktionen haben Russlands Wirtschaft also definitiv geschwächt. Sie können die Invasion stoppen, aber sie werden nicht ausreichen, um Putin zu einem Gesinnungswandel zu bringen, so dass er sich vollständig aus der Ukraine zurückzuziehen wird.

Das Ziel der Sanktionen besteht vielmehr darin, Russlands Fähigkeit, diesen Krieg zu führen, einzuschränken. Man muss Putin zwingen die Invasion zu stoppen, überreden lässt er sich nicht. Ein gewisser Erfolg wurde bis heute bereits erzielt, aber die Erfahrung der letzten sechs Monate zeigt, dass noch viel mehr getan werden muss.

Wie sehen Sie die Rolle der Schweiz?

Sie könnte dank ihrer wichtigen Stellung im internationalen Finanzsystem und Bankensektor eine wichtige Rolle beim Widerstand gegen das Putin-Regimes spielen. Es ist allgemein bekannt, dass das meiste Geld, zu dem Putins Kumpane in den über 20 Jahren an der Macht gekommen sind, auf Bankkonten im Westen angehäuft wurde, natürlich auch in der Schweiz.

Was soll die Schweiz also tun?

Es wäre nun wichtig, die Vermögenswerte von Personen, die mit Putins Regime in Verbindung stehen, einzufrieren und zu beschlagnahmen. Die Erlöse sollten zur Finanzierung des Wiederaufbaus der Ukraine verwendet werden. Aber solche Entscheidungen würden politischen Willen erfordern. Trotz einiger Verbesserungen in der Haltung zu Sanktionen gegen Russland ist die Schweizer Regierung offensichtlich nicht bereit, solche Schritte zu unternehmen.

Sie glauben also an die Wirksamkeit von Sanktionen. Warum?

Die Art und Weise, wie sich die Situation im Lauf der Jahre entwickelt hat, entblösst den Zynismus vieler westlicher Politiker:innen. Sie haben in den acht Jahren nach der Annexion der Krim immer wieder beteuert, ernsthafte Sanktionen seien nicht machbar. In all diesen Jahren hat niemand Putin gezeigt, dass ihn eine Aggression einen sehr hohen Preis kosten würde. Jetzt aber hat ein halbes Jahr ausgereicht, um Sanktionen zu verhängen, die Putin ernsthafte Probleme bereiten. Das bedeutet, es war immer möglich.

Putin Mobilmachung
Garry Kasparov: «Man muss Putin zwingen die Invasion zu stoppen, überreden lässt er sich nicht.» Russian Presidential Press Service

Was sollte der Westen tun, wenn er will, dass der Krieg mit Putins Niederlage endet?

Die gezielte Ausfuhrkontrolle strategischer Technologien hat sich als besonders effizient erwiesen. Denn diese reduziert Russlands Möglichkeiten zur Aufstockung seiner Bestände an Hochpräzisionswaffen. Mit der Zeit wird das verringerte Angebot an Hochtechnologiekomponenten das militärische Potenzial des Landes schwächen.

Sie sprechen also nicht nur von Panzerteilen…

Russland sollte überhaupt keine Hightech-Güter mehr importieren, denn fast jede Technologie kann doppelt genutzt werden. Jede Technologie, die Russlands Wirtschaft hilft, hilft am Ende auch Putin beim Töten von Ukrainer:innen.

Auf welche Bereiche können die Sanktionen noch ausgeweitet werden?

Der Westen muss den Druck auf westliche Unternehmen erhöhen, die noch in Russland tätig sind. Jedes ausländische Unternehmen, das die russische Kriegsmaschinerie unterstützt, und sei es nur, indem es dort seine Steuern zahlt, muss ebenfalls mit Sanktionen rechnen. Und die internationale Gemeinschaft muss auch Druck auf Länder wie die Türkei, Georgien und Kasachstan ausüben. Diese helfen Russland derzeit, Sanktionen zu umgehen.

Was ist mit den Oligarchen?

Persönliche Sanktionen gegen russische Einzelpersonen haben zu greifbaren und nachhaltigen Ergebnissen geführt. Russische Oligarchen sind bereit, grosse Anstrengungen zu unternehmen, um nicht auf Sanktionslisten zu erscheinen, was ebenfalls ein Beweis für die Wirksamkeit der Sanktionen ist.

Wie lange soll der Westen die Sanktionen aufrechterhalten?

Es ist wichtig, dass der Westen jetzt klar sagt, dass die Sanktionen erst dann aufgehoben werden, wenn die folgenden Bedingungen erfüllt sind: Erstens muss die Ukraine ihre Souveränität über das gesamte anerkannte Territorium wiedererlangen, einschliesslich der Krim und Sewastopol. Zweitens muss Russland der Ukraine Reparationen zahlen und drittens müssen russische Kriegsverbrecher vor Gericht gestellt werden.

Die Staats- und Regierungschefs der freien Welt sollten nicht der Versuchung erliegen und die Sanktionen teilweise lockern für eine teilweisenReduzierung der russischen Militäraktivitäten in der Ukraine. Ohne die Zustimmung der Ukraine sollten die Sanktionen ohnehin nicht aufgehoben werden.

Dies sind recht strenge Bedingungen. Wird der Westen dazu bereit sein?

Die Ausweitung und Aufrechterhaltung der Sanktionen wird die Länder des Westens, die USA, Kanada und Europa, teuer zu stehen kommen. Aber das ist der Preis, der für die jahrzehntelange Selbstgefälligkeit gegenüber den autoritären, imperialistischen Methoden Putins gezahlt werden muss. Die freien Länder haben das Glück, diesen Preis nur mit Geld zu zahlen, während ihn die Ukraine mit dem Leben ihrer Bürger:innen bezahlt.

Das Interview wurde schriftlich geführt.
Editiert und ins Deutsche übersetzt von Balz Rigendinger

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