Putins Gegner kritisieren die Schweiz
Wie beurteilen die führenden russischen Kreml-Kritiker die Rolle der Schweiz im Krieg gegen die Ukraine? Die Kritik ist einhellig: Noch immer verstecke sich das Land hinter der Neutralität und gewähre Putins Vertrauten zu viele Schlupflöcher.
swissinfo.ch-Redaktorin Elena Servettaz hat die wichtigsten Stimmen der russischen Opposition kontaktiert.
Diese haben das Land längst verlassen: Ex- Schachweltmeister und Putin-Gegner Garry Kasparov lebt in den USA und Kroatien, der Unternehmer Leonid Nevzlin in Israel, Star-Ökonom Sergei Guriev floh nach Frankreich, und Wirtschaftswissenschaftler Sergej Aleksaschenko lebt in Washington.
In russischer Haft sitzt Polit-Aktivist und Journalist Wladimir Kara-Mursa.
Er beantwortete die Fragen, die wir ihm über seinen Anwalt zukommen liessen, handschriftlich im Besuchsraum der Moskauer Anstalt.
Die Rolle der Schweiz sieht er sehr kritisch: «Putins Funktionäre konnten dort Geld horten, das den russischen Steuerzahlern gestohlen wurde.» Die Schweiz sei so zu Putins «Komplizin» geworden.
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Für Star-Ökonom Sergei Guriev steht fest, dass «jedes noch so kleine Schlupfloch von Putin genutzt wird». Die Schweiz sei darum entscheidend. «Sie ist ein Land, das über moderne Technologien und Banken verfügt. Diese könnten Putin helfen, die Sanktionen zu umgehen», sagt er. Mit Blick auf den Winter steht für ihn fest: «Wenn ein Embargo für den Handel mit russischem Öl kommt, werden Schweizer Händler eine wichtige Rolle spielen müssen.»
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«Es geht um das Leben von Menschen und die Zukunft des gesamten Kontinents», unterstreicht Leonid Nevzlin und erklärt: «Die Schweizer Bankkonten, die Putins Kumpanen gehören, sind immer noch in Betrieb.» Nevzlin fordert von Bund und Banken ein konsequenteres Eingreifen, auch bei verdeckten Immobilienkäufen: «In dieser Situation ist es besser, man übertreibt, als unter dem Deckmantel der Neutralität nicht genug zu tun.»
Nevzlin war der engste Mitarbeiter von Ex-Oligarch Michail Chodorkovski. Dieser lebt heute in London. Er sagt: «Es ist unmöglich zu Europa zu gehören, ohne dass man europäischen Grundwerte teilt. Deshalb war die Weiterentwicklung des traditionellen Schweizer Neutralitätskonzepts alternativlos.» Chodorkowski war einst der reichste Mann Russlands. Auf ihn hat der Kreml ein Kopfgeld von 500.000 Dollar ausgesetzt.
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Für Ex-Schachweltmeister Garry Kasparov ist klar: «Man muss Putin zwingen, die Invasion zu stoppen, überreden lässt er sich nicht.» Er will, dass Vermögenswerte von Putin-Vertrauten in der Schweiz für den Wiederaufbau der Ukraine verwendet werden. Aber: «Das würde politischen Willen erfordern. Trotz einiger Verbesserungen in der Haltung gegenüber Russland ist die Schweizer Regierung zu solchen Schritten nicht bereit», bemängelt Kasparov.
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Kritisch sieht auch Top-Ökonom Sergey Aleksashenko die Neutralität der Schweiz, selbst wenn diese EU-Sanktionen mitträgt. Für ihn reicht das nicht. «Wer sich auf die Seite des Guten stellt, muss die Schlächter stoppen», sagt er. «Die Schweiz ist ein Land, in dem viele Rohstoffhändler ihren Sitz haben, und Brüssel ist mit deren Aktivitäten nicht genügend vertraut.»
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