Die indische Schönheit auf einer Schweizer Uhr
Die Identität der Frau auf dem Porträt ist fast 80 Jahre lang ein Rätsel geblieben. Könnte es sich um die letzte adlige Herrscherin eines kleinen Staates handeln, der heute ein Teil Indiens ist?
«Wir sprechen von der Uhr als ‹Indische Schönheit›, weil es uns nicht gelungen ist, die Person genau zu identifizieren, die auf dem Emaille-Porträt zu sehen ist», erklärt Marc André Strahm, Experte für antike Uhren bei der Schweizer Luxus-Uhrenmanufaktur Jaeger-LeCoultre, gegenüber swissinfo.ch.
Hauptsitz und Produktionsstätte der 132 Jahre alten Uhrenfirma liegen im kleinen Schweizer Ort Le Sentier in den Jurabergen, im berühmten Vallée de Joux, das weithin als Geburtsstätte der Schweizer Uhrmacherkunst gilt. Der eindrückliche Gebäudekomplex von Jaeger-LeCoultre dominiert den ländlichen Horizont. Auf den ersten Blick lässt nichts erahnen, dass die funktionalen Gebäude ein ungelöstes Rätsel mit einer Verbindung zu Indien beherbergen.
Versteckt im Innern des Jaeger-LeCoultre-Komplexes liegt ein Museum, eine Hommage an einige der auserlesensten Uhren der Manufaktur. All die kunstvollen, extravaganten Uhren, die dort ausgestellt sind, werden im Detail beschrieben – mit einer Ausnahme: der zuvor erwähnten «Indischen Schönheit», die aus dem Jahr 1936 stammt.
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Die indische Schönheit
Das Interesse von swissinfo.ch an dieser Uhr wurde ausgelöst von einer Idee für einen Artikel, der den Verbindungen zwischen indischen Adligen und der Schweizer Uhrmacherkunst nachgehen würde. Die so genannte «Schweizer Periode» hatte von 1890 bis 1947 gedauert, eine Zeitspanne, während der Schweizer Uhren den indischen Markt dominierten.
Sie waren erschwinglicher als britische Uhren und boten reichen Kunden auch die Möglichkeit, ihren Status durch kunstvolles Handwerk wie feine Gravuren und Emaille-Porträts zur Schau zu stellen – etwas, was adlige Kreise in Indien sehr schätzten. Viele Maharadschas in Indien gaben extravagante Taschenuhren in Auftrag, die aus einer Kombination von komplizierten Uhrwerken und kunstvollen Gehäusen bestanden, bestückt mit Juwelen und Emaille-Porträts.
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Die Maharadscha-Uhr
Während den Nachforschungen zu den vom indischen Adel in Auftrag gegebenen Schweizer Uhren tauchte auch die «Indische Schönheit» von Jaeger-LeCoultre auf. Sie stach heraus, weil sie das Porträt einer adligen indischen Frau zeigte, eine Seltenheit, denn die meisten Uhren waren verziert mit Porträts von Maharadschas.
Dies und die Tatsache, dass die Identität der Frau nach fast 80 Jahren noch immer ein Rätsel ist, löste eine Recherche nach ihrer Herkunft aus. Es sollte sich herausstellen, dass dies ein Puzzle war, das nicht einfach zusammenzusetzen war.
Nadel im Heuhaufen
Als Jaeger-LeCoultre die Uhr 2004 bei einer Auktion für 77’526 Dollar (77’391 Franken) erstanden hatte, war die Identität der Frau auf der Rückseite des Gehäuses auch für die Uhrenmanufaktur ein Rätsel.
«Die Uhr war in den 1990er-Jahren von einem Lufthansa-Kapitän in Mumbai gekauft worden», erklärte Stefan Muser vom Auktionshaus Dr. Crott in Mannheim gegenüber swissinfo.ch. «Leider hatten wir zu dem Zeitpunkt nicht viele Informationen über diese besondere Reverso.»
Aufgrund der spärlichen Informationen bestand die einzige Vorgehensweise darin, Hunderte von Vintage-Fotos der verschiedenen adligen indischen Familien aus der betroffenen Epoche zu durchforsten. Keine einfache Aufgabe, bedenkt man, dass es in dem damals unter britischer Herrschaft stehenden Indien mehr als 500 Fürstenstaaten gab.
Noch schwieriger wurde die Suche, weil es in der betroffenen Periode verschiedene glamouröse Prinzessinnen und Königinnen gegeben hatte, deren Antlitz hinter dem Porträt stehen könnte. Während frühere Generationen der weiblichen Adligen den Palast kaum verlassen durften, reiste diese neue Generation blaublütiger Frauen durch Europa, kaufte feinsten Schmuck und besuchte die gefragtesten Partys.
Einige nennenswerte Beispiel waren Prinzessin Gayatri Devi von Jaipur, die vom Magazin Vogue als eine der zehn schönsten Frauen bezeichnet wurde, sowie Prinzessin Sita Devi von Karputhla und Prinzessin Sanyogita Bai Holkar von Indore, die Musen für berühmte Fotografen wie Cecil Beaton und Man Ray waren. Könnte eine dieser schillernden Adligen die Inspiration für die rätselhafte Frau auf der Uhr gewesen sein?
Die letzte Königin
Die Suche nach der mysteriösen indischen Schönheit führte schliesslich in den winzigen Staat Tripura im Nordosten Indiens. Der Staat – etwa ein Viertel so gross wie die Schweiz – ist die Heimat der mehr als 600 Jahre alten Herrscherdynastie der Manikya. Obschon Tripura 1809 unter der Kolonialherrschaft ein britisches Protektorat wurde, wurden die Manikya-Maharadschas weiterhin als souveräne Herrscher anerkannt.
Kurze Zeit nachdem Indien 1947 seine Unabhängigkeit von der britischen Herrschaft erlangt hatte, war Tripura dann jedoch nicht mehr länger ein Fürstentum. Interessanterweise lag die letzte Adelsherrschaft in Tripura in den Händen einer Frau.
Als Bir Bikram Kishore Debbaraman, der Maharadscha Tripuras, der den einzigen Flughafen seines Reichs erbaut hatte, 1947 starb, wurde sein Sohn Kirit Bikram Kishore Debbaraman über Nacht de facto der neue Herrscher. Da er jedoch damals erst 14 Jahre alt war, übernahm seine Mutter Kanchan Prabha Devi die Regierungsverantwortung, amtierte in seinem Namen als Regentin und leitete die Staatsgeschäfte von 1947 bis 1949.
Und sie ist sehr wahrscheinlich die rätselhafte Frau, deren Porträt die Jaeger-LeCoultre-Uhr «Indische Schönheit» ziert.
Die Ähnlichkeit von Prabha Devi mit dem Porträt auf der Uhr ist bemerkenswert, vor allem die Haltung, die Frisur und das Zick-Zack-Muster des Saris, den sie trägt. Es ist daher plausibel, dass der Künstler, der das Porträt malte, diese Fotografie verwendete, was übrigens auch heute noch getan wird.
Ihr Enkel und derzeitiges Oberhaupt des Fürstenhauses von Tripura, Pradyot Debbaraman, bestätigte gegenüber swissinfo.ch, dass die Schwarz-Weiss-Fotografie tatsächlich Kanchan Prabha Devi gehörte.
«Es gibt eine sehr starke Ähnlichkeit zwischen dem Porträt auf der Uhr und der Fotografie meiner Grossmutter», sagte er zu swissinfo.ch.
Allerdings ist er nicht hundertprozentig sicher, dass die beiden Frauen ein und dieselbe sind. Er plant daher, Verwandte zu kontaktieren und Familienarchive nach weiteren Informationen zu durchforsten.
Die 1915 geborene Kanchan Prabha Devi war die älteste Tochter des Maharadschas von Panna; an ihrem 17. Geburtstag wurde sie die zweite Ehefrau des Maharadschas von Tripura. Und sie war es, welche die Dokumente unterzeichnete, mit denen sich der kleine Staat am 15. Oktober 1949 der indischen Union anschloss, was auch das Ende der Monarchie für Tripura signalisierte.
«Es ist mein Wunsch, dass, sobald die Umstände es erlauben, Schritte unternommen werden, um ein verfassungsgebendes Organ ins Leben zu rufen, das alle Schichten der Bevölkerung vertreten soll …», sagte sie in einer Erklärung zur Verwaltung von Tripura.
«Sie ist in dem Kontext auch eine sehr wichtige Persönlichkeit, weil Tripura der einzige Staat im Nordosten war, der sich Indien freiwillig anschloss», sagte Debbaraman.
Als Regentin sah sie sich mit einem ernsthaften Test konfrontiert, als der indische Subkontinent nach seiner Unabhängigkeit von 1947 aufgeteilt wurde. Das von Hindus dominierte West-Bengalen wurde ein Teil Indiens, während das von Muslimen dominierte Ost-Bengalen (das spätere Bangladesch) ein Teil des neu geschaffenen Staates Pakistan wurde.
Tripura sah sich mit einer erheblichen Zahl von Flüchtlingen konfrontiert, mit Hindus, die aus dem benachbarten Ost-Bengalen flohen; der kleine Staat sah sich dem Risiko ausgesetzt, in ein Tauziehen zwischen Indien und Pakistan verwickelt zu werden.
«Wir müssen starke, gut organisierte interne Sicherheitskräfte aufbauen, die Finanzen des Landes müssen saniert werden, wir brauchen einen Plan zum Bau eines Strassennetzes, um die interne Kommunikation sowie eine direkte Verbindung mit der indischen Union zu etablieren, wir müssen für die Versorgung der Menschen mit lebenswichtigen Gütern sorgen, an denen es akut mangelt, und die Maschinerie der Regierung muss generell gestrafft werden», erklärte sie damals.
Als letzte Herrscherin von Tripura leistete sie bewundernswerte Arbeit, indem sie das Land sicher durch den gefahrvollen Übergang von einem unabhängigen Fürstentum in einen Teil der indischen Union mit einer demokratischen Regierung steuerte. 1973 starb sie.
Indische Inspiration
Die «Indische Schönheit» ist eine Reverso, eines der beliebtesten Uhrenmodelle von Jaeger-LeCoultre. 1930 hatte der Schweizer Geschäftsmann César de Trey Indien besucht, das damals unter britischer Kolonialherrschaft stand.
Nach einem Polospiel kam ein bestürzter Spieler auf ihn zu, weil das Glas seiner Uhr beim Match zerbrochen war. Er bat den Schweizer Besucher eindringlich, eine Uhr zu entwickeln, die den Strapazen des Polospiels standhalten würde. De Trey war kurz zuvor Händler für die luxuriösen Schweizer Spitzenuhren seines Freundes Jacques-David LeCoultre geworden.
Der Schweizer Geschäftsmann gab die Herausforderung weiter – an den Ingenieur Alfred Chauvot. Ein Jahr darauf hatte dieser eine Lösung entwickelt und einen Patentantrag vorgelegt für «eine Uhr, deren Gehäuse in ihrer Halterung gleitet und vollständig um die eigene Achse gedreht werden kann». Für die kommerzielle Produktion der treffend «Reverso» genannten Uhr wandten sie sich an Jacques-David LeCoultre.
Neben der offensichtlichen Rolle, die Uhr vor Beschädigung zu schützen, macht es die Wendevorrichtung der Reverso möglich, die Rückseite des Gehäuses durch Gravuren oder andere Verzierungen zu personalisieren. Das war damals ein einzigartiges Verkaufsargument, weil es den praktischen Armbanduhren am künstlerischen Flair der ausgefallenen Taschenuhren fehlte.
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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