«Rassismus kommt heute ohne das Wort ‹Rasse› aus»
Rassismus bleibt im US-Wahlkampf bis zuletzt ein dominierendes Thema. Was aber ist das überhaupt, Rassismus? Ein Gespräch mit Historiker Christian Geulen über die Geschichte von Ausgrenzung und Hass.
swissinfo.ch: US-Präsidentschaftskandidat Joe Biden wirft US-Präsident Trump vor, er giesse in jedes einzelne rassistische Feuer Öl. In der Black-Lives-Matter Bewegung kämpfen Menschen weltweit gegen rassistische Strukturen. Auch die Schweiz diskutiert über Denkmäler mit rassistischem Erbe. Ist das alles neu?
Christian Geulen: Nein, das hat es auch früher schon gegeben. Neu sind die Formen der medialen Vernetzung. Inhaltlich erkenne ich eher einen Reflex darauf, dass der Rassismus in den letzten Jahren wieder hoffähig geworden ist. Deshalb sind die aktuellen Proteste vor allem eine Reaktion auf eine neue Welle des Rassismus.
Christian Geulen ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte und ihre Didaktik in Koblenz. Er ist Autor des Buchs «Rassismus: die Erfindung von Menschenrassen».
Wo liegen die Vorläufer dieser Proteste?
Da gibt es viele jüngere Beispiele, etwa die Black-Lives-Matter-Bewegung selber, die eigentlich in den 1990er-Jahren im Zuge der Rodney-King-Riots erstmals prominent wurde, in denen auch gegen Polizeigewalt demonstriert wurde. Blickt man dann in die ältere Geschichte der USA, dann stösst man auf die Civil-Rights-Bewegung der 1960er-Jahre. Und international kann man sogar bis ins späte 19. Jahrhundert zurückschauen.
Worin bestehen die Gemeinsamkeiten mit älteren Bewegungen?
Überall, wo Rassismus als Ausgrenzungsideologie benutzt wird, reagieren die Betroffenen oder die Leute, die sich mit ihnen solidarisieren, mit Protesten. An dieser Konstellation hat sich inhaltlich bis heute nicht viel geändert.
Warum sind Menschen rassistisch?
Rassismus als Ideologie dient dazu, in die gesellschaftliche Vielfalt eine hierarchische Ordnung zu bringen und diese durchzusetzen. Und das geschieht immer wieder in Wellen.
Die Wiederkehr des Rassismus hat sicher mit dem Phänomen der Globalisierung zu tun. Seit dem Ende des Kalten Kriegs und mit den vermehrten Migrationsbewegungen der letzten Jahrzehnte leben wir mehr denn je in postnationalen Konstellationen. Dadurch rücken kulturelle Differenzen näher aneinander und so etwas wie eine idealisierbare homogene Heimat gibt es nicht mehr. Solange man aber an diesem Ideal festhält, steht der Rassismus immer bereit, seine Durchsetzung zu legitimieren.
Woher stammt der Begriff Rasse überhaupt?
Er taucht erstmals in der Pferdezucht des Spätmittelalters auf. Und wird dann im Zuge der Reconquista, also der Rückeroberung Spaniens durch die christlichen Reiche und die damit einhergehende Zurückdrängung des muslimischen Machtbereichs, auf Menschengruppen, besonders auf die spanischen Juden angewandt, die man zur Bekehrung zwingen wollte.
Wie muss man sich das konkret vorstellen?
Damals bemerkte man, dass viele Juden und teils auch Muslime pro forma zum Christentum konvertierten, um nicht ihre Heimat verlassen zu müssen. Dadurch verlor das Glaubensbekenntnis seinen Unterscheidungscharakter. Deshalb führten die Herrscher das neue Merkmal der ‚Blutreinheit’ ein: Fortan war entscheidend, wie lange eine Familie bereits christlich war. Hier verwendete man erstmals den Begriff ‚Rasse‘, um Zugehörigkeit zu beschreiben und zu ordnen
Wie hat sich Rassismus als Konzept weiterentwickelt?
Zwei Phasen sind entscheidend. Zum einen die Aufklärung. Hier erhalten die Rassentheorien, die zuvor nur dazu gedient hatten, Menschen zu beschreiben, plötzlich eine ideologische Funktion. Eigentlich postulierten die Aufklärer eine universale Gleichheit. Doch sie lebten in einer Wirklichkeit, in der Afrikaner wie Ware als Sklaven verkauft wurden. Das mussten sie erklären und begründen.
Wie machten sie das?
Rassismus war gewissermassen die Ideologie, die nötig war, um diesen Widerspruch aufzulösen. Die Aufklärer teilten Menschen in Kategorien, in entwickelte und unterentwickelte Völker, und etablierten dabei ein hierarchisches System. In dieser Struktur standen die Europäer an der Spitze, die Afrikaner ganz unten. Als Ideologie sollte der Rassismus also den Widerspruch zwischen einer Realität der Ungleichbehandlung und dem Ideal der Gleichheit aller Menschen kompensieren.
Wann begann die zweite Phase?
Im späten 19. Jahrhundert. Bis dahin ging man davon aus, die Hierarchie der ‹Rassen› wäre kaum wandelbar. Mit der Evolutionstheorie kam aber die Idee auf, dass sich die Natur und auch die ‹Rassen› laufend verändern. Fortan galt es also, im darwinistischen Überlebenskampf zu bestehen. Damit gewann der Rassismus eine neue Qualität. Nun wurden diejenigen, die vermeintlich von einer anderen Rasse abstammten, erstmals als grundsätzliche Bedrohung wahrgenommen – gegen die man sich verteidigen musste.
Im 20. Jahrhundert steigert sich das bis hin zur Ermordung ganzer Bevölkerungsgruppen.
Mit dem Holocaust fand ein Ereignis statt, das in einem bis dahin ungekannten Masse eine rassistische Gewalt umsetzte, die sich gegen diese imaginäre Bedrohung richtete. So gesehen hatte der Holocaust im Rassismus einen seiner wesentlichen Ursprünge.
Und woher stammt der Begriff Rassismus?
Dieser Begriff ist erst im 20. Jahrhundert geprägt worden. Es gab zwar schon davor ähnliche Begriffe, wie etwa Rassenhass, aber diese -ismus-Formulierung entsteht erst nach den 1920er-Jahren. Magnus Hirschfeld, ein Berliner Sexualwissenschaftler, Jude, Homosexueller und Kommunist, gehörte dabei zu den wichtigsten Protagonisten. Nach seiner Flucht hat er versucht, die Ideologie, die ihn anfeindete, auf einen Nenner zu bringen und für einen Buchtitel erstmals den Begriff Rassismus verwendet.
Wie entwickelte sich der Rassismus nach dem Zweiten Weltkrieg?
Die UNO belegt ihn nach 1945 mit einem Bann. Später stehen im Prozess der Dekolonisierung etliche Nationen gegen die rassistische Kolonialordnung auf. Diese Freiheitsbewegungen waren letztlich immer auch antirassistische Bewegungen.
War der Rassismus damit verschwunden?
In Europa setzt sich tatsächlich für eine kurze Zeit die Überzeugung durch, man habe den Rassismus jetzt hinter sich gelassen – bis seit den 1970er-Jahren die Vorstellung kulturell homogener Nationalstaaten immer unrealistischer wurde. Prompt kehrte der Rassismus als Ideologie der Begründung dieser Vorstellung wieder.
Was kennzeichnet den Rassismus heute?
Er kommt ohne das Wort ‹Rasse› aus. Man kann aber trotzdem in den evolutionsbiologisch oder rassetheoretisch begründeten Mustern denken. Man muss dann einfach nur von Kultur reden, davon dass sich Deutschland oder die Schweiz abschaffen oder dass die eigene Identität durch Ausländer bedroht ist. Der Rassebegriff ist dafür gar nicht notwendig.
Um Rassismus effizienter zu bekämpfen, brauche die Schweiz strengere gesetzliche Bestimmungen, schreibt die Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR)Externer Link am 27. Oktober in einer Mitteilung. Nach wie vor seien viele Menschen von Rassismus im Alltag betroffen. «Die Stärkung des gesetzlichen Diskriminierungsschutzes wäre eine angebrachte Antwort darauf», so die EKR.
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