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Mark Pieth: «Die Schweiz stellt sich tot»

MSC-Schiff an einem Hafen
Die Mediterranean Shipping Company MSC ist das grösste Containerschifffahrtsunternehmen und das drittgrösste Kreuzfahrtunternehmen der Welt. Sie hat ihren Sitz in Genf. Copyright 2021 The Associated Press. All Rights Reserved

Die Schweiz ist ein wichtiger Reederei-Standort und damit eine maritime Grossmacht. Mark Pieth und Kathrin Betz erklären, wie es dazu kam und wieso das Land die Branche stärker regulieren sollte.

Mehr als 90% aller Güter werden auf dem Meer transportiert, auf über 90’000 Schiffen arbeiten weltweit 1,6 Millionen Seeleute. Die Schweiz spielt dabei eine wichtige Rolle: Als Drehscheibe globaler Warenströme und als bedeutender Standort für international tätige Reedereien.

Die Rechtswissenschaftler Mark Pieth und Kathrin Betz beschreiben in ihrem neuen Buch «Seefahrtsnation Schweiz. Vom Flaggenzwerg zum ReedereiriesenExterner Link» wie ein Land ohne Meerzugang und maritimen Tradition zu dieser Stellung kam. Und welche Risiken dies für die Schweiz birgt.

swissinfo.ch: In Ihrem Buch schreiben Sie, die Schweiz sei ein Reederei-Riese. Wie kommt ein Binnenland dazu?

Mark Pieth: Die Schweiz hat nur wenige Schiffe, die unter ihrer Flagge fahren. Das ist vor allem ein Relikt aus den Weltkriegen, damit sollte die Notversorgung gewährleistet werden. Generell spielt das Land aber in der Schifffahrt eine viel grössere Rolle als allgemein angenommen. Was meinen wir mit Reederei-Riese? Damit beziehen wir uns in erster Linie auf Unternehmen, die in der Schweiz domiziliert sind. Zur Hauptsache in Genf oder in Zug, etwas weniger auch im Kanton Tessin.

Bei diesen Firmen handelt es sich hauptsächlich um Operateure: Sie haben die Schiffe oft gechartert, aber führen sie von der Schweiz aus. Je nachdem, wie man rechnet, kommt man sehr schnell auf hunderte, wenn nicht tausende von Schiffen, die von der Schweiz aus operiert werden. Laut Bundesrat ist die Schweiz die Nummer vier in Europa – vor Holland und Norwegen und gleich bedeutend wie England, die Schifffahrtsnation per se. Offiziell sind wir Weltnummer neun.

Mark Pieth
Mark Pieth ist Schweizer Rechtswissenschaftler und Antikorruptionsexperte. Er ist Autor mehrerer Bücher über Korruption. Keystone / Walter Bieri

Eine Reihe von Autoren sieht das anders. Denn wenn wir auch die Rohstoffhändler dazu zählen, die wie etwa Gunvor eigene Reedereien halten, dann sind wir bei 2000 bis 2600 Schiffen – und dann ist die Schweiz die Nummer zwei – weltweit.

Das ist an sich weder gut noch schlecht. Aber mit einer solchen Exposition kommen auch Risiken. Und wir meinen, die offizielle Schweiz ist denen gegenüber ziemlich blind.

Welche sind die problematischsten Aspekte der internationalen Schifffahrt?

Mark Pieth: Im Bereich Arbeitsrecht gibt es grosse Defizite, die auf internationaler Ebene nur sehr langsam angegangen werden. Besonders problematisch ist das bei der Hochseefischerei, wo die übelsten Arbeitsbedingungen herrschen. Sehr aktuell ist zudem die Umweltproblematik, inklusive der unsachgemässen Abwrackung ausgedienter Schiffe.

Man darf auch nicht vergessen: Die Schifffahrt ist nach wie vor riskant, es kommt ständig zu Unfällen. Das war für uns der Anlass das Buch zu schreiben. Wir sind zwar keine Matrosen, aber wir sind Regulierungs-Spezialisten. Und wir sehen, dass es in vielen Bereichen ungenügende Regulierung gibt, oder die bestehenden Regeln kaum durchgesetzt werden. Hat ein Schiff die 12-Meilen-Zone, also das seeseitige Territorium eines Küstenstaates überschritten, dann verkehrt es in internationalen Gewässern – und dann ist alles zulässig.

Lesen Sie hier den Op-Ed von Mark Pieth zur Problematik der Abwrackung:

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Im Buch beschreiben Sie die Cluster-Theorie, die zur herausragenden Position der Schweiz geführt hat. Können Sie die etwas ausführen?

Mark Pieth: Mit Cluster meinen wir verwandte Industriebereiche, die notwendig sind, damit man ein starker Reederei-Standort wird. Etwa den Bereich des Rohstoffhandels, wo die Schweiz unbestritten die Nummer Eins ist. Aber auch den traditionell starken Finanzbereich, besonders die spezialisierte Rohstofffinanzierung, wo die Schweiz auch eine ganz wichtige Rolle spielt.

Und dann kommen Dinge dazu, die man weniger kennt. Zum Beispiel die Zertifizierungs-Unternehmen wie beispielsweise die Société Générale de Surveillance. Aber auch das Versicherungs- und Rückversicherungswesen spielen eine Rolle. Es ist auch kein Zufall, dass die Schweiz lange ein sehr starker Logistik-Standort war, etwa mit Kühne + Nagel, Danzas etc. Zudem finden sich hier Anwaltskanzleien, Treuhänder:innen, Auditfirmen, Steuerberater:innen und Broker aller Art, die Erfahrung auf dem internationalen Parkett haben.

Man bekommt den Eindruck, die Branche sei unübersichtlich, geradezu geheimniskrämerisch. Täuscht dieser Eindruck?

Kathrin Betz: Im Bereich der Eigentümerschaft ist sie definitiv sehr intransparent. Die Schiffe haben zwar einen registrierten Eigentümer, der in einem öffentlichen Register sichtbar ist. Das ist aber oftmals eine Offshore-Gesellschaft, eine Ein-Schiff-Gesellschaft, die nur dieses eine Schiff besitzt. Wer die wirtschaftlich Berechtigten hinter dieser Gesellschaft sind, das weiss man nicht.

Kathrin Betz
Kathrin Betz ist Advokatin und Lehrbeauftragte an der Universität Basel. zVg

Es gibt zwar eine Datenbank, wo die wahre Eigentümerschaft eigentlich ersichtlich sein sollte. Wir haben diese für ein bestimmtes Schiff anfragen lassen, aber da stand bei den Besitzerangaben: «unknown». Das war übrigens das Schiff, das das hochexplosive Ammoniumnitrat nach Beirut transportierte, welches bei der Explosion 2020 die Hafengegend zerstörte und über 200 Menschen tötete.

Warum überhaupt eine solche Intransparenz?

Mark Pieth: Es gibt sehr unterschiedliche Hypothesen. Die Banalste: Leute wollen ihr Geld an der Steuer vorbei schleusen und investieren in Schiffe. Oder es handelt sich um reine Geldwäsche. Oder man will die wirtschaftlich Berechtigten vor Haftung schützen, etwa nach einem Unfall. Es gibt Beispiele von katastrophalen Havarien, die zu starken Umweltverschmutzungen geführt haben, bei denen man die wahren Eigentümer nie ausfindig machen konnte. Es gibt also unterschiedliche Gründe und die meisten sind nicht besonders ethisch. Erstaunlich ist übrigens wie viele Spuren in die Schweiz führen.

Kathrin Betz: Es gibt möglicherweise auch noch einen weniger problematischen Anwendungsbereich, wenn es um die Finanzierung geht. Wenn eine Ein-Schiff-Gesellschaft Eigentümerin des Schiffes ist, dann kann der Betreiber das Schiff leasen. So können via Leasing die Kosten für die Neuanschaffung eines Schiffes zeitlich gestreckt werden. Das ändert aber nichts daran, dass man unter Umständen nicht weiss, wer hinter dieser Gesellschaft steht und wem ein Schiff letztlich gehört.

Was müsste die Schweiz in regulatorischer Hinsicht machen?

Mark Pieth: Die Schweiz stellt sich tot in der Frage der Regulierung, es sei denn, es geht um Schiffe unter Schweizer Flagge. Selbst dort wird aber oft nicht richtig hingeschaut. Wir erwähnen im Buch das Beispiel der Thorco Basilisk, die serbische Waffen nach Saudi-Arabien transportierte, welche für den Krieg gegen den Jemen bestellt wurden. Der Bundesrat sagte dazu, das gehe die Schweiz nichts an. Dabei sind Waffenlieferungen in Kriegsgebiete aus dem Schweizer Territorium, das Schiffe unter Schweizer Flagge sind, grundsätzlich verboten.

Wir finden die Haltung der Schweizer Regierung extrem zynisch. Da wird einfach gesagt: Auch wenn die Schiffseigner in der Schweiz sind, interessiert es uns nicht. Auch wenn Schiffseigner ihre Schiffe in der Schweiz registrieren, ist es ihre Sache, was sie transportieren lassen.

Kathrin Betz: In der Flusskreuzfahrt – wo die Schweiz ebenfalls ein ganz grosser Player ist – stellt sich die Rechtslage noch komplizierter dar, weil es das übliche Flaggenprinzip so nicht gibt. Gerade in arbeitsrechtlicher Hinsicht hat man ein sehr komplexes Netzwerk von anwendbaren Rechtsnormen, das einfach ausgenützt werden kann.

Die Praxis der Billigflaggen ist umstritten. Wer profitiert eigentlich davon?

Mark Pieth: Auf jeden Fall nicht die Flaggenstaaten. Die meisten stellen nur ihre Flagge zur Verfügung und erhalten davon Tantiemen der operierenden Unternehmen. Nehmen Sie das Beispiel Liberia: Das ganze Geschäft wird von Virginia in den USA aus betrieben. Da werden Lizenzgebühren bezahlt, um die liberianische Flagge zu benutzen, während das Land selbst keine ernstzunehmende Schifffahrtsbehörde hat. Das ist heikel, denn als Konsequenz übernehmen sogenannte Klassifikationsgesellschaften hoheitliche Funktionen, die eigentlich Staaten vorbehalten sind.

Die Schweiz will eine neue nationale maritime StrategieExterner Link formulieren, die «eine gesamtheitliche Sicht der Interessen der Schweiz im maritimen Bereich ermöglichen» soll. Was erwarten Sie davon?

Mark Pieth: Das geht einerseits zurück auf ein Fiasko um staatliche Bürgschaften für Schweizer Schiffe: Schweizer Reeder erhielten finanzielle Absicherungen, teils mit fadenscheinigen Begründungen. Als die internationale Schifffahrt nach dem Finanzkollaps von 2008 in die Krise stürzte, gingen auch sie unter – und die Schweizer Steuerzahlenden mussten dafür mit hunderten Millionen Franken geradestehen.

Andererseits hängt das mit der sogenannten Tonnagesteuer zusammen, die man wie viele andere Staaten einführen möchte. Das Ganze läuft auf eine wahnsinnige Steuerermässigung hinaus. Und man muss sich fragen: Wieso gerade diese Branche? Letztlich geht es um die Frage, ob es überhaupt noch eine Schweizer Flagge braucht.

Kathrin Betz: Hinter der Tonnagesteuer steckt in vielen Ländern gerade in Europa der Wunsch, die Flotten zurück zur eigenen Flagge zu holen. Damit wären sie immerhin der europäischen Regulierung unterstellt. Aber ein wesentliches Problem in der Schweiz ist, dass generell ein mangelndes Verständnis über die Schifffahrt herrscht, in der Politik, in der Verwaltung. Das kann sich die Branche zunutze machen. Immerhin hat das den Effekt, dass das Thema Schifffahrt öffentlich diskutiert wird.

Das gilt für viele international ausgerichteten Branchen. Ist das das Resultat eines wirtschafsliberalen Staatsmodells, das in Kombination mit föderalistischen Strukturen zu einer Undurchschaubarkeit ganzer Wirtschaftszweige führt?

Mark Pieth: Die Menschen haben keine Ahnung wofür der Schweizer Grund und Boden gebraucht wird, das sieht man jetzt im Zuge des Ukraine-Kriegs: Plötzlich versteht man, dass hinter den schönen Blumenkästen in Zug fragwürdige russische Oligarchen ihre Firmen operieren. Jetzt folgt das Erwachen. Andere problematische Bereiche wie der Rohstoffsektor und der Finanzplatz sind immerhin schon länger als solche bekannt.

Ich denke auch, die Behörden sind überfordert mit der Kontrolle. Und wird mal ein Regulierungsbedürfnis formuliert, wird das im Parlament gebodigt. Das beste Beispiel ist der Sport, wo nach dem Fifa-Debakel nichts passiert ist. Die Blauäugigkeit der Öffentlichkeit und der massive Lobbyismus diverser Branchen ergeben eine bedenkliche Mischung. Immerhin scheint ein Umdenken stattzufinden. Die vom Schweizer Volk fast angenommene Konzernverantwortungsinitiative und die erfolgreiche Initiative für ein weitgehendes Verbot von Tabakwerbung zeigen eine zunehmend kritischere Öffentlichkeit.

Welchen Einfluss wird der Krieg in der Ukraine auf die Reederei in der Schweiz haben?

Mark Pieth: Die Frage ist, wie weit man die Sanktionen gegen Russland noch eskalieren wird, da ist man ja noch lange nicht am Ende der Fahnenstange. Die wäre erreicht, wenn etwa nicht nur Oligarchen, sondern russische Firmen sanktioniert werden. Die Schweiz, die viele russische Unternehmen beherbergt, hätte da keine Möglichkeit sich zu weigern.

Konsequenzen zeichnen sich für die Branche schon ab, denn auch sie müssen Sanktionen berücksichtigen. Wir werden wohl eine Verlagerung sehen zur asiatischen Konkurrenz hin. Der Konkurrenzkampf wird härter werden.

Kathrin Betz: Die verschleierten Besitzverhältnisse sind auch da natürlich ein Problem, das könnte sich für die Behörden als problematisch erweisen.

Mark Pieth: Obwohl man sagen muss: Staaten könnten viel mehr herausfinden – wenn sie denn auch möchten. Es ist nicht so, dass es keine Möglichkeiten gibt, um anhand finanzieller Transaktionen den Besitzverhältnissen nachzugehen. Es gibt aber grosse Interessen, die Anonymität aufrecht zu erhalten.

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