Referenden über Beitritt zu Russland sind eine «Verhöhnung der Demokratie»
Russland hat Referenden in ukrainischen Gebieten angekündigt. Laut dem Schweizer Experten für direkte Demokratie Andreas Gross haben diese mit Selbstbestimmung nichts zu tun.
swissinfo.ch: Putin hat in den Gebieten Lugansk, Donezk, Cherson und Saporischja Referenden über einen Beitritt zu Russland angekündigt. In der Schweiz – der Hochburg der direkten Demokratie – werden diese als Scheinreferenden bezeichnet. Zu Recht?
Andreas Gross: Absolut, es ist sogar eine eigentliche Verhöhnung der Demokratie. Es sind ja auch keine Referenden, sondern Plebiszite, von oben angesetzte Volksabstimmungen. Mit Demokratie und Selbstbestimmung hat dies nichts zu tun.
Bezüglich der Schweiz würde ich nach dem bundesrätlichen Umgang mit der Anti-F35-Volksinitiative freilich auch nicht mehr von einer «Hochburg der direkten Demokratie» reden, zumindest derzeit und angesichts der gegenwärtigen Mehrheiten im Bundesrat und der Bundesversammlung nicht.
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«Eine Abstimmung wäre spannend gewesen»
Sind die angekündigten Referenden also pure Propaganda zur innenpolitischen Legitimierung militärischer Aktionen?
Nein, das ist viel mehr als Propaganda, eher ein mehrfach manipulativer Akt. Man will einer gewaltsamen Annexion eine demokratische Legitimation zuführen, die sie in keiner Weise verdient. Das kann freilich nur bei jenen gelingen, die nur noch eine zynische Beziehung zur Demokratie pflegen. Ein solches manipulatives Plebiszit liess Putin ja bereits 2014 auf der Krim organisieren.
Aus völkerrechtlicher Sicht wäre es aber grundsätzlich richtig, dass die Bevölkerung darüber abstimmen darf, zu welchem Land sie gehören möchte?
Sicher sollen die Menschen ihre staatliche Zugehörigkeit selber bestimmen können. Doch in diesem Fall handelte es sich ja um eine Sezession, einen Austritt aus der Ukraine und einen Beitritt zur Russischen Föderation. Und da bedürfte es aus demokratischer Sicht zumindest zweier Volkabstimmungen. Einmal eine in den betreffenden Regionen und eine zweite in der gesamten Ukraine über die Frage, ob das Land diese Regionen auch ziehen lassen soll. Würden wir uns die Bern/Jura-Logik zu eigen machen, käme dann noch eine dritte Volksabstimmung dazu, in der jede (Grenz-)gemeinde sagen kann, auf welcher Seite der Barrikade sie landen möchte.
Warum lässt Russland eine Beobachtung der Referenden durch die OSZE nicht zu?
Der Kreml hat längst ein sehr schräges Verhältnis zur OSZE; sie ist für ihn gleichsam Feindesland geworden. Längst sind ihm seriöse Wahlbeobachtungen verhasst und er versuchte sie schon einige Male zu behindern oder ganz zu verhindern. Die Beobachter würden all die Einwände formulieren, die gegen solche autokratischen Plebiszite zu formulieren sind. Es kann ja auch von keiner anständigen Meinungsbildung und freien Willensentscheidung die Rede sein, wenn in einem so gewaltsamen Umfeld die Menschen innert einer Woche sich «entscheiden» müssen.
Der Schweizer Aussenminister und Bundespräsident Ignazio Cassis hat bei einem Gespräch mit dem russischen Aussenminister Sergei Lawrow Moskau aufgefordert, von der Durchführung der Scheinreferenden in den besetzten Gebieten der Ukraine Abstand zu nehmen. Cassis zeigte sich auch besorgt über jede Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen. Dies teilte er auf Twitter mit.
Quelle: SRF
In my meeting with FM Sergei Lavrov, I called on #RussiaExterner Link to refrain from holding so-called referenda in occupied territories of #UkraineExterner Link. #SwitzerlandExterner Link is also very concerned about any threat to use nuclear weapons. Neutrality & good offices remain our instruments for dialogue. pic.twitter.com/DYH3SCYhnCExterner Link
— Ignazio Cassis (@ignaziocassis) September 21, 2022Externer Link
Besteht irgendeine Aussicht, dass die Referenden eines Tages noch gemäss Minsker Abkommen «richtig» durchgeführt werden können?
Nein, diese Chance ist längst vorbei. Seit 2014 gibt es diese Option nicht mehr. Und ob die Ukraine nach der Wiedereroberung dieser Gebiete in den kommenden zehn Jahren eine solche Möglichkeit eröffnen möchte, wage ich zu bezweifeln.
Warum hat Putin die Referenden gerade jetzt und zeitgleich zur Teilmobilmachung verkündet?
Er will verzweifelt aus der Defensive herauskommen; in dem sich Russland diese Regionen zu eigen macht, erhofft er sich mehr Zurückhaltung bei den militärischen Rückeroberungen der Ukraine und der Lieferanten ihrer Waffen; schliesslich will keiner russisches Kernland angreifen, weil sonst Putin seine Hemmungen ablegen könnte, sein Land mit taktischen Atomwaffen zu «verteidigen». Plebiszite und Teilmobilmachung bedeuten eine Eskalation des Krieges. Die Frage ist bloss, wie weit der Kreml diese Eskalation treiben will.
In der Sendung Echo der Zeit vom 20.09.2022 wird das Thema der Pseudo-Referenden mit der Auslandsredaktorin Judith Huber eingeordnet:
Wie gross ist Ihrer Einschätzung nach das Risiko einer Eskalation dieses Krieges?
Die ist wie gesagt meiner Meinung damit erfolgt. Doch wie lange an dieser Spirale gedreht werden soll, das weiss wohl der Kreml vorläufig selber noch nicht.
Das Vorgehen Putins ist nicht neu, schon auf der Krim hat er 2014 durch Besetzung und «Referendum» Fakten geschaffen. Wird seine Rechnung auch dieses Mal aufgehen?
Nein, grundsätzlich hat sich Putin bereits verkalkuliert. Diesen Krieg kann er nicht mehr gewinnen. Die Frage ist bloss, wie lange er ihn noch intensivieren will bis er zu dieser Einsicht gelangt. Und ob er diese Niederlage auch akzeptieren kann. Den Menschen in den betreffenden Regionen steht leider wohl noch lange eine prekäre Zukunft und eine schwierige Leidenszeit bevor. Mit den anstehenden manipulativen Plebisziten werden sie sich in keiner Weise helfen können.
Das Interview wurde schriftlich geführt.
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