Schweizer Flüsse im Dilemma zwischen Schutz und Nutzung
Kein anderes Land nutzt seine Wasserkraft für die Stromproduktion intensiver als die Schweiz. Aber die Gewässerverbauungen sind mitverantwortlich für Überschwemmungen und den Verlust der Lebensräume von zahlreichen Tier- und Pflanzenarten. Nur wenige Gewässer sind ökologisch intakt. Der Versuch einzelne Bäche und Flüsse zu revitalisieren, ist kostspielig und steht im Widerspruch zum Nutzungsdruck.
Unterhalb der Ruine Grasburg, einer gespenstischen Ansammlung von Steinmauern auf einem Sandstein-Hügel, führt ein Waldweg hinunter zu den Ufern der Sense. Es ist ein seltener Fleck Wildnis in der dicht bebauten Schweizer Landschaft.
«Hier leben viele Tier- und Pflanzenarten. Es ist wirklich eindrücklich – eine Art Regenwald der Schweiz», sagte Julia Brändle, Projektleiterin für nachhaltige Wasserkraft bei der Umweltschutzorganisation WWF Schweiz.
Dank der gebirgigen Topografie ist die Flusslandschaft auf diesem Abschnitt natürlich und wild geblieben. Das Gefälle ist zu gering für die Nutzung der Wasserkraft zur Stromerzeugung. Und an die Hänge beidseits des Flusses sind für eine landwirtschaftliche Nutzung zu steil.
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«Einer der Gründe, warum der Fluss noch immer im natürlichen Zustand ist, liegt in seiner breiten Ausdehnung, weshalb das Energiepotenzial nicht so hoch ist. Das hat den Fluss davor bewahrt, für Elektrizität genutzt zu werden», sagte Brändle während einer Wanderung durch die Region.
«Ein weiterer Grund liegt darin, dass sich die Schlucht nicht für Landwirtschaft eignet», sagte sie und zeigte auf den steilen Hang oberhalb des von Natur aus flachen Flusslaufs. «Dazu kommt, dass es keinen Hochwasserschutz brauchte.»
Fehler eingestehen
Die Schweizer, ein Volk von Bauern, bauten im späten 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein Netz aus Dämmen und Kanälen, um Überschwemmungen zu vermeiden und sumpfige Gebiete bebauen zu können. Von diesen «Gewässerkorrekturen» waren vor allem im Mittelland fast alle Flüsse und zahlreiche Seen betroffen.
Die kanalisierten oder betonierten Wasserbette beschleunigten den Wasserlauf, liessen aber nur wenig Wasser im Boden versickern. Das sollte sich noch als Fluch für das Land herausstellen.
Die «Jahrhundertflut» von 2005 brachte Chaos in die Zentralschweiz. Sieben Tote und mehrere Milliarden Franken Schäden waren zu beklagen. Sintflutartige Regenfälle setzten 2007 tief liegende Gebiete unter Wasser. Extremer Niederschlag liess in jedem der vergangenen Jahre Flüsse und Seen auf ein alarmierendes Level ansteigen.
Die eidgenössische Regierung investierte seit der Überschwemmung von 2005 über eine halbe Milliarde Franken in die Verstärkung des Hochwasserschutzes, doch einige kantonale und kommunale Projekte – beispielsweise der Bau von Hochwassersperren, Verbesserung der Wettervorhersagen und Flussbettkorrekturen – verzögern sich aus finanziellen Gründen und wegen fehlenden Konsenses zwischen den lokalen Behörden.
Natürliche Spannungen
Ein Schweizer Gesetz aus dem Jahr 2011 verlangt von den 26 Kantonen, ihre Oberflächengewässer zu sanieren. Laut Bundesamt für Umwelt sollen viele Schweizer Flüsse oder Abschnitte davon wieder in einen natürlichen Zustand zurückgesetzt werden.
Auf der anderen Seite hat die Schweiz laut Bundesamt für Energie «ideale Bedingungen» für die Nutzung von Wasserkraft. Die Energiestrategie 2050 der Regierung will ausdrücklich die Nutzung von Wasserkraft verstärken, um die Stromversorgungs-Lücke nach der Abschaltung der fünf alten Atomkraftwerke zu füllen.
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Heute gibt es in der Schweiz rund 600 Wasserkraft-Zentralen (mit einer Mindestleistung von 300kwh), die insgesamt 36’031 Gigawattstunden (GWh/a) Strom produzieren.
Laut WWF ist die starke Zunahme von Wasserkraftanlagen einer der Gründe für die wenigen naturbelassenen Flussläufe, die so vielen Pflanzen- und Tierarten einen Lebensraum bieten könnten. Die Umweltschutzorganisation möchte, dass die Schweiz wie die EU ein Verbot der Schädigung von wertvollen Gewässern erlässt.
Laut WWF sollte die Regierung auch die finanziellen Anreize für Wasserkraftprojekte revidieren, weil diese dazu führten, dass Unternehmer sich mit vielen kleinen Projekten die Tasche füllen.
Begrenztes Wachstum
Anfang der 1970er-Jahre deckte Wasserkraft fast 90% des Elektrizitätsbedarfs von Privathaushalten. Nach dem Bau von insgesamt fünf Atomkraftwerken in den 1970er und 1980er-Jahren sank der Anteil der Wasserkraft an der Stromproduktion bis 1985 auf 60%.
Die Regierung will die Wasserkraft vor allem mit Verbesserungen an bestehenden Anlagen und Massnahmen zur Effizienzsteigerung fördern. Eine Studie aus dem Jahr 2014 kam zum Schluss, eine Ausweitung von Wasserkraft sei unter den gegebenen Umständen nicht vertretbar.
Heute stammen noch 56% der Schweizer Elektrizität aus Wasserkraft. Sie ist noch immer die wichtigste einheimische Quelle von erneuerbarer Energie. Laut Andreas Stettler, Leiter Hydraulische Kraftwerke bei der BKW Energie AG, gibt es aber noch Potenzial für mehr nationales Wachstum.
Mit mehr Effizienz könnte die Wasserkraftproduktion 60% des Schweizer Elektrizitätsbedarfs decken, sagt Stettler, aus wirtschaftlichen und Naturschutz-Gründen jedoch nicht mehr. «Das Potenzial für grosse, neue Projekte liegt mehr oder weniger bei null in der Schweiz», sagte Stettler. «Alle interessanten, guten Plätze mit grossem Potenzial wurden in den 1950er und 1960er-Jahren bebaut.»
Alarmierende Zahlen
Die Renaturierung von Gewässern ist eine andere Sache. Es dauert laut Experten mehrere Jahre, bis ein Ökosystem sich erholt hat. Die Entwicklung neuer Flusswindungen, Inseln, Sandbänke oder Teiche gibt Gewässern die Chance zur Regeneration. Allerdings ist das viel Arbeit.
Der WWF fand heraus, dass 80% der Schweizer Flüsse nur zwei von vier grundlegenden Kriterien für ökologische Gesundheit erfüllen: Diversität der Arten, geschützte natürliche Lebensräume, natürlich fliessendes Wasser und ein unveränderter Flussverlauf.
Sogar noch alarmierender ist das Ergebnis, dass nur 3,6% der Flüsse in «hohem Mass» ökologisch wertvoll sind, das heisst, mindestens drei der Kriterien erfüllen. Und sogar diese Schweizer «Flussperlen» brauchen Hilfe, um den Entwicklungsdruck abzuwehren, sagt Lene Petersen, Projektleiterin ökologische Wasserkraft bei WWF Schweiz.
Bei einer Wanderung im Berner Oberland zeigte sie einen ziemlich wilden Flussabschnitt der Kander, als Beispiel für den Druck, der auf Schweizer Gewässern liegt. Dort wird ein kurzer, abschüssiger Abschnitt des Flusses auf sein Potenzial für Wasserkraftenergie hin geprüft. Auf einem grossen Felsen neben dem Fluss hat es ein Wasserstand-Messgerät und einen solarbetriebenen Kasten zum Sammeln von Daten über den Wasserfluss.
Es ist ein Beispiel der vielen Dualitäten der Schweizer, die zu einem Mikromanagement ihrer Postkartenlandschaft tendieren. «Ich denke, dass die Menschen umweltbewusst sind, sie schätzen ihre Flüsse und sie wollen eine gesunde Umwelt, aber auf der anderen Seite wollen sie auch Energie, und Landwirtschaft und so vieles mehr», sagt Petersen. Im Ergebnis bekomme der Schutz der Flüsse «nicht genügend Gewicht im Vergleich zu den anderen Interessen».
Wasserreichtum der Schweiz
Die Schweiz ist als «Wasserturm» Europas bekannt: Die Schweiz besitzt 6% der Süsswasserressourcen des Kontinents, obwohl das Land nur 0,4% der Fläche ausmacht.
Die Schweiz hat etwa 1500 Seen, die meisten von ihnen entstanden aus Gletschern. Der Neuenburgersee ist der grösste See, der vollständig auf Schweizer Gebiet liegt. Der Genfersee ist der grösste Süsswassersee in Mitteleuropa. Zu den grössten Flüssen gehören die Rhone, der Rhein und der Inn, die alle in der Schweiz entspringen.
Am meisten Niederschläge fallen in der Schweiz in Form von Schnee in den Alpen. Der Vorrat von Schnee und Gletschern ist wichtig für die jahreszeitliche Einspeisung der Gewässer, besonders in hoch gelegenen Einzugsgebieten. Alpenflüsse führen im Frühling und Frühsommer am meisten Wasser, wenn der Schnee und die Gletscher zu schmelzen beginnen.
Kein anderes Alpenland nutzt seine Flüsse so intensiv wie die Schweiz, die etwa 1500 Kraftwerke und 150’000 künstliche Schwellen hat.
(Adaptiert aus dem Englischen: Sibilla Bondolfi und Peter Siegenthaler)
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