Das Schweizer Ja zur Organspende und die drei offenen Fragen
Deutliches Ja zum neuen Transplantationsgesetz: Frühestens ab 2024 gelten in der Schweiz alle Personen ab 16 als Organspender:innen, es sei denn, sie haben sich dagegen ausgesprochen. Nun stellen sich drei ethische Fragen.
Nicht mehr Zustimmung, sondern Verzicht auf Widerspruch – die Schweiz ändert bei der Organspende das Prinzip der Einwilligung. Das Resultat mit 60-Prozent Ja-Stimmen ist deutlich. Bis auf Schwyz, Schaffhausen und die beiden Appenzell haben alle Kantone dem Systemwechsel zugestimmt.
Bislang galt in der Schweiz als Spender:in, wer sich dazu explizit bereit erkläre. Ab Inkrafttreten des neuen Transplantationsgesetzes gelten alle Personen ab 16 Jahren als Spender:innn, die sich nicht explizit dagegen ausgesprochen haben. Diese sogenannte Widerspruchslösung ist in Europa bereits weit verbreitet, mit einer prominenten Ausnahme: Deutschland.
Eine Parlamentsmehrheit und die Befürworter:innen erhoffen sich vom Systemwechsel eine Zunahme der tiefen Schweizer Spenderquote. Sie stagnierte in den letzten Jahren bei unter 20 Spenden pro 1 Million Einwohner:innen und war damit rund halb so hoch wie in den europäischen Spitzenländern.
Die Gegnerinnen und Gegner, die das Referendum ergriffen und so die Abstimmung erzwungen hatten, kritisieren den Systemwechsel als unethisch und nicht zielführend. Sie plädierten für das Modell der verpflichtenden Erklärung, wie es in einzelnen US Staaten in Kraft ist, dass also alle Bürger:innen sporadisch ihre Haltung zur Organspende deklarieren müssen – ein System, das in der Schweiz aber keine politische Mehrheit fand (mehr dazu hier).
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Und das sind die Reaktionen
Franz Immer, Direktor der Schweizer Organspende-Stiftung Swisstransplant, interpretierte den Entscheid zum Transplantationsgesetz gegenüber der Agentur Keystone-SDA als ein deutliches «Ja zum Leben». Das Volk zeige die Bereitschaft, den Menschen auf der Warteliste für eine Organspende eine Chance zu geben. Erfreut sei er auch über die breite Debatte, die über das Thema in der Schweiz stattgefunden habe.
Beim Referendumskomitee bedauert man das Resultat der Abstimmung. Man habe ab Beginn der Kampagne schlechte Umfragewerte gehabt, sagte Co-Präsident Alex Frei gegenüber Keystone-SDA. Je besser aber die Menschen informiert gewesen seien, desto mehr habe man zulegen können. «Wir hatten zu wenig Zeit, um alle zu erreichen», konstatierte Frei.
SP-Nationalrätin Flavia Wasserfallen sagte gegenüber dem Schweizer Fernsehen SRF, sie sei froh, dass der Paradigmenwechsel in der Organspende demokratisch legitimiert sei. Alle anderen Massnahmen hätten sich in den letzten zehn Jahren als wirkungslos erwiesen, die Spendenquote sei immer zu tief geblieben. Den Wechsel des Willensäusserungsmodells sieht sie vor diesem Hintergrund als Ultima Ratio. Die grösste Herausforderung bei der Umsetzung erkennt Wasserfallen in der Informationskampagne. Gerade an fremdsprachige und bildungsferne Schichten sei zu denken, hier habe der Bund während der Corona-Pandemie aber viel dazu gelernt.
Verena Herzog, Nationalrätin der SVP, zeigte sich gegenüber SRF enttäuscht über die Annahme der Widerspruchslösung, die sie als «unethisch und rechtsstaatlich zweifelhaft» bezeichnete. Dass ihre Partei den Abstimmungskampf nicht mit letzter Konsequenz betrieben hatte, begründete sie mit internen Meinungsunterschieden. Das Transplantationsgesetz sei kein typisches Parteithema. Wie Wasserfallen sieht Herzog die Herausforderung nun in der Information der Bevölkerung: «Der Bundesrat muss alle 6 Millionen Menschen über 16 Jahre aufklären über das Gesetz.» Das Parlament wiederum müsse die Verordnung zum Gesetzt ganz genau anschauen. Der Teufel stecke im Detail. «Wir müssen zum Beispiel regeln, was passiert, wenn sich die Angehörigen über die Organspende nicht einig sind», so Herzog.
Drei dicke Fragezeichen
Die Debatte über die ethische Dimension der Widerspruchslösung wurde in der Schweiz pietätsvoll und gründlich geführt. Mit dem Ja an der Urne sind jetzt drei kritische Fragen aufgeworfen:
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Die Frage nach der lückenlosen Information. Als Einwilligung kann das Fehlen von Widerspruch sinnvollerweise nur gewertet werden, wenn eine verstorbene Person vom Gesetz Kenntnis hatte. Eine lückenlose Information hat darum oberste Priorität. Das wissen auch Regierung und Verwaltung. Das Bundesamt für Gesundheit hat bereits vor der Abstimmung ein detailliertes Konzept zur Information ausgearbeitet. Während die informierte Öffentlichkeit durch die Abstimmungsdebatte mit dem Thema vertraut ist, dürfte das Erreichen bildungsferner Schichten schwierig werden. Darauf deutet nicht zuletzt die tiefe Stimmbeteiligung von 39 Prozent hin.
Wie die Schweiz das Informations-Problem angehen will, lesen Sie hier:Mehr
Organspenden: Vor diesen Herausforderungen steht die Schweiz
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Die Frage nach den Angehörigen. Die Widerspruchslösung gilt in der Schweiz nicht absolut, sondern mit einer Erweiterung: Die Angehörigen einer verstorbenen Person müssen der Organentnahme zustimmen. Tun sie es nicht oder sind nicht erreichbar, ist die Organentnahme nicht erlaubt. Wie bisher bleibt das Gespräch mit den Angehörigen also ein Schlüsselfaktor für die Verfügbarkeit von Spendeorganen in der Schweiz.
Die Befürworter:innen der Vorlage erwarten, dass das neue Gesetz eine bessere Grundlage für das Angehörigengespräch schafft. Die Gegnerinnen und Gegner hingegen befürchten, dass Eltern und Partner in einer ohnehin traumatischen Situation zusätzlich unter Druck gesetzt werden. Hatte das bisherige Modell, in dem Angehörige auch ohne explizite Zustimmung der Verstorbenen eine Organspende beschliessen konnten, den Charakter eines Gebens, könnte die neue Konstellation bei Eltern und Partnern den Eindruck verstärken, dass ihnen etwas genommen wird. Die Ethik des Systems entscheidet sich letztlich auch am Feingefühl der Ärztinnen und Ärzte in der Schweiz. -
Die Frage nach dem Nutzen. Selbst die entschlossensten Befürworter:innen des neuen Transplantationsgesetzes mussten einräumen, dass der Systemwechsel ethisch Risiken birgt. In der Güterabwägung aber überwiegt für sie die Aussicht auf mehr Spendeorgane – sprich das Retten von rettbaren Leben.
Ob aber der Systemwechsel – in dem nach wie vor die Angehörigen eine Schlüssrolle spielen und auch andere, beispielsweise kulturelle Faktoren mitwirken – tatsächlich zu signifikant mehr Spendeorganen führt, ist nicht sicher, wie unter anderem die nationale Ethikkommission im Bereich Humanmedizin bereits früh in der Debatte eingewandt hatte. Damit aber steht und fällt die Verhältnismässigkeit der Massnahme.
Das Gesetzt tritt frühestens 2024 in Kraft. Bis eine aussagekräftige Bilanz zum Schweizer Systemwechsel in der Organspende möglich ist, sind dann einige Jahre Praxis abzuwarten.
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Resultate der Abstimmung vom 15. Mai 2022 in der Schweiz
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