Rohingya-Flüchtlingslager: Mit Schweizer Hilfe Gemüse anbauen
Für die geflüchteten Rohingya in Bangladesch kehrt so etwas wie ein Alltag ein. Es grünt in den Camps, weil die Flüchtlinge kleine Gärten um die Hütten und auf den Dächern anlegen können, um ihre Familien gesünder zu ernähren. Doch ihr Schicksal bleibt ungewiss.
Nein, einen Garten habe sie zuhause in Myanmar nicht gehabt, sagt Sarah Begum*. «Wir wohnten in einem gewöhnlichen Haus. Mein Mann arbeitete auf dem Bau, ich schaute für die Familie. Das Gemüse kauften wir auf dem Markt.»
Und jetzt steht sie mit einer Giesskanne inmitten von viel Grün, wässert ihre Pflanzen und zupft hier und da ein trockenes Blatt ab. Sarah Begum lächelt verlegen: «Noch vor kurzem hatte ich keine Ahnung vom Gärtnern.»
Schwieriger Neustart
Sarah Begum gehört zusammen mit ihrem Mann Yousuf und den drei Kindern zu den über 740’000 Rohingya, einer muslimischen Minderheit im mehrheitlich buddhistischen Myanmar, die im August 2017 nach grauenhaften Massakern ins Nachbarland Bangladesch geflüchtet sind.
Hier hatte Sarahs Familie zunächst in einem Dorf nahe der Grenze Unterschlupf gefunden. Ein halbes Jahr später zog die Familie dann etwas weiter ins Landesinnere, wo mittlerweile knapp eine Million Rohingya im grössten Flüchtlingslager der Welt leben.
Der Welternährungstag soll darauf aufmerksam machen, dass noch immer Millionen Menschen Hunger leiden. Am 16. Oktober 1945 gründete die Uno die Welternährungsorganisation FAO, um die weltweite Ernährungssicherheit zu gewährleisten.
Hier im Camp haben Sarah und ihr Mann auf einer kleinen Anhöhe mit zwei anderen Familien einen einfachen Unterstand aus Bambusstecken und Plastikplanen gebaut. Knapp 20 Quadratmeter, auf denen insgesamt dreizehn Leute leben, sechs Erwachsene und sieben Kinder.
Es ist eng und stickig in der Hütte, draussen steht jetzt, um die Mittagszeit, das Thermometer auf 35 Grad, die Luftfeuchtigkeit beträgt knapp 80 Prozent. Drinnen sind die Hitze und die Feuchtigkeit noch um einiges grösser. Jede Bewegung wird zur Qual.
Aber Sarah Begum, die mittlerweile in ihrer kleinen Küche auf dem Boden sitzt und mit schnellen, sicheren Bewegungen Kartoffeln, Gemüse und Chilis zerkleinert, will sich nicht beklagen. Immerhin habe ihre Familie ein Dach über dem Kopf, sagt sie.
Und seit sie einen Gartenkurs der lokalen Helvetas-Partnerorganisation Shushilan** besucht und kurz darauf einen eigenen Garten angelegt hat, isst ihre Familie auch viel ausgewogener. «Davor lebten wir, wie fast alle Geflüchteten, von der Essensverteilung. Wir bekamen Reis, Linsen und Öl. Doch diese immer gleiche Ernährung war nicht gut für uns. Zuhause in Myanmar assen wir neben dem Reis immer auch Gemüse und Fisch, das fehlte uns zu Beginn hier sehr», sagt Sarah, und sie erzählt, wie ihre Kinder immer schwächer wurden und oft krank waren. «Jetzt geht es den Kindern wieder besser, sie sind gesund und haben wieder viel mehr Kraft.»
Ernte vom Dach
Den Gartenkurs besuchte Sarah vor einigen Monaten nur wenige Meter von ihrer Hütte entfernt, im Frauenzentrum von Shushilan. Hier werden den Frauen auch wichtige Hygieneregeln vermittelt, und sie erhalten Tipps für die Kinderpflege und die Haushaltsführung. Doch im Mittelpunkt stehen die dreitägigen Kurse in Gemüseanbau, in denen jeweils dreissig Teilnehmerinnen erfahren, was sie wo, wie und zu welcher Jahreszeit anpflanzen können.
Heute treffen sich die Frauen von Sarahs Kurs zu einer Zusatzveranstaltung. Bald beginnt die Regenzeit, da ist es wichtig, dass die Frauen wissen, welche Pflanzen jetzt besonders gut wachsen und für welche es zu feucht wird.
Die Stimmung in der Frauengruppe ist gelöst. Kleine Kinder krabbeln über den Boden, die Frauen scherzen miteinander. Dann wird es still.
Sharmin Begum, Mitarbeiterin von Shushilan und Kursleiterin, bittet um Ruhe. Sie eröffnet die Veranstaltung mit einer kleinen Pflanze in der Hand. Mit Hilfe von Illustrationen, die an einer Leine hängen, und mit beschreibenden Gesten erklärt sie, wie die Bestäubung der Pflanzen funktioniert. Die Frauen hören aufmerksam zu.
«Die Kurse sind sehr beliebt», sagt Sharmin Begum. «Den Frauen ist nämlich bewusst, dass das Gemüse, das sie auf dem Markt kaufen, oft mit Pestiziden versetzt ist. Wenn sie ihr eigenes Gemüse anpflanzen, wissen sie, dass es frisch und gesund ist.» Und sie sparen Geld.
Die Frauen erhalten auch Samen verschiedener Pflanzen und Dünger. Weil der Platz im Flüchtlingslager, wo Hütte an Hütte steht, sehr begrenzt ist, empfiehlt Shushilan den Frauen, Kletterpflanzen zu ziehen, die sich auf die Dächer der Hütten ranken.
Auch das Dach von Sarah Begum ist mit dichtem Grün bewachsen, mit dem angenehmen Nebeneffekt, dass die Innenräume des Unterstands etwas gekühlt werden. Und sie hatte Glück: Weil der Platz vor ihrer Hütte, der etwas tiefer in einer Talsenke liegt, noch leer war, konnte sie auch anderes Gemüse anpflanzen, Chili und Okraschoten zum Beispiel.
«Das einzige Problem ist, dass dieser Boden nicht Sarah gehört», sagt Rajib Rudra, Mitarbeiter von Shushilan. Der ganze Boden hier im Lager gehört nicht den Menschen. Deshalb ist es nicht sicher, wie lange Sarah ihren Garten behalten kann.
Aber bis auf Weiteres freut sich Sarah über die grosse Ernte, die ihr sogar ein kleines Nebeneinkommen einbringt, denn rund die Hälfte ihres Gemüses verkauft die Neu-Gärtnerin auf dem Markt. Etwa 50 bis 70 Taka verdient sie so an einem Tag, rund 60 bis 80 Rappen.
Weil die Rohingya keiner festen Arbeit nachgehen dürfen, arbeitet Sarahs Mann als Taglöhner, wenn er eine Arbeit findet. Dann trägt er meist Steine für den Strassen- und Wegebau zu den Baustellen, wofür er 300 Taka am Tag erhält, etwa 3.50 Franken.
Mit dem, was die beiden verdienen, können sie jetzt ab und zu Fisch kaufen. Oder Gemüse, das sie selber nicht anpflanzen.
Den eigenen Lebensraum gestalten
Langsam kehrt im Flüchtlingslager so etwas wie Alltag ein. Die Geflüchteten – und die Organisationen, die sie unterstützen – haben endlich die Möglichkeit, sich um Dinge zu kümmern, an die in der ersten Phase nach der Ankunft der Rohingya in Bangladesch nicht zu denken war, die aber für ein einigermassen geordnetes Leben unabdingbar sind: ausgewogene Ernährung, Hygiene und persönliche Sicherheit.
In den ersten Wochen und Monaten nach der Massenflucht ging es für die Rohingya ums nackte Überleben. Hütten und Wege mussten gebaut, Nahrungsmittel besorgt werden. Es wurde nach Trinkwasser gegraben. Und Organisationen wie Helvetas errichteten mit Hochdruck Latrinen für die Geflüchteten, um das Ausbrechen von Krankheiten zu verhindern.
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«Hungersnöte sind zurück»
Jetzt steht vor einer dieser Latrinen in einem Unterlager, das ein paar Kilometer von jenem von Sarahs Familie entfernt liegt, eine Gruppe junger Männer und diskutiert aufgeregt über etwas, das unscheinbar über ihren Köpfen hängt, aber eine grosse Veränderung für die Menschen hier gebracht hat: eine Glühbirne.
Dass sie hier hängt, ist keine Selbstverständlichkeit. Strom gibt es für die Geflüchteten im Camp nämlich keinen, weshalb es in der Nacht stockdunkel ist. Das ist gefährlich für Leute, die auf die Toilette müssen oder ihre Hütten nachts aus einem anderen Grund verlassen. An einigen Orten beleuchten solarbetriebene Lampen Wege und Plätze, aber es gibt nicht genug davon, und immer wieder werden sie gestohlen oder gehen kaputt.
Deshalb hat eine Gruppe junger Männer angeregt, eine fixe Stromleitung ins Camp zu ziehen und Glühbirnen daran aufzuhängen. Zusammengefunden hat die Gruppe auf Anregung der Organisation PIN (People In Need), mit der Helvetas zusammenarbeitet.
Die tschechische Organisation veranstaltet regelmässige Treffen von Mädchen, Jungen, Frauen und Männern, die in getrennten Gruppen darüber diskutieren, wie man die Sicherheit im Lager verbessern könnte. Alters- und geschlechtergetrennt sind die Gruppen, damit auch die Mädchen und jungen Frauen offen reden und die Jungen ihre Stimme einbringen können.
Durch die Diskussionen, wie sie den Alltag im Camp erträglicher gestalten und einfache Anliegen gemeinsam umsetzen könnten, erhalten die Rohingya die Möglichkeit, einen Teil ihres Alltags wieder selbst zu gestalten. Für ihre Initiativen erhalten sie kleine Unterstützungsbeiträge.
Ein Vorschlag der Jungengruppe war, die Plätze vor den Latrinen zu beleuchten. Sie bekam das Geld, um das Material zu besorgen, und dank ihrem Verhandlungsgeschick hat sie es geschafft, von ausserhalb des Lagers eine Stromleitung ins Camp zu ziehen und so ein einfaches, aber wirksames Beleuchtungssystem einzurichten.
«Wir sind stolz, dass wir das erreicht haben», sagt der 18-jährige Mohamad, informeller Leiter der Jungengruppe, während er Betreuer Rafik das Resultat ihrer Bemühungen zeigt.
In eine ähnliche Richtung ging der Vorstoss der Männergruppe: Auch sie fand das Leben im Camp nachts zu unsicher und zu gefährlich. «Ältere Leute könnten stolpern oder in Gräben fallen», sagt ihr Leiter Alam. Aus diesem Grund setzten sich die Männer für Taschenlampen für die 160 Familien in ihrem Unterlager ein.
Die Frauengruppe schliesslich beklagte die zum Teil gefährlichen Trampelpfade, die zu den Latrinen führten. Es gab keine festen Stufen, und bei Regen verwandelten sie sich innert Minuten in eine Rutschbahn.
Darum legte die Frauengruppe, zusammen mit der Mädchengruppe, gleich selbst Hand an: Sie beschafften sich Sandsäcke und Holzlatten und bauten so Treppen und Wege, auf denen man auch bei Regen sicher gehen kann.
Aber nicht nur das: Bei ihren Treffen lernten die Frauen und Mädchen auch, was sie für Rechte haben; zum Beispiel, dass sie vor 18 nicht verheiratet werden dürfen. Und dass sie im Fall von häuslicher Gewalt ein Recht haben, sich zu wehren, und an wen sie sich wenden können.
Diese Themen werden auch in den Männergruppen angesprochen, damit alle in ihren Familien und in der Nachbarschaft dazu beitragen können, die Verletzlichsten im Camp zu schützen.
Langsam normalisiert sich das Leben im grössten Flüchtlingslager der Welt etwas. Doch die Unsicherheit bleibt: Zurück nach Myanmar können die Rohingya, trotz Beteuerungen der Regierung, nicht. Zu gross ist die Angst, dass ihnen etwas zustossen könnte, nachdem Tausende ihrer Angehörigen vergewaltigt, gefoltert und umgebracht und ihre Dörfer abgebrannt worden waren.
In Bangladesch können sie aber auch nicht bleiben, denn das Land, das zu den ärmsten der Welt zählt, hat sie nur vorläufig aufgenommen. Das Schicksal der Rohingya bleibt ungewiss, umso mehr brauchen sie deshalb dringend weiter jede Hilfe.
Diese Reportage erschien erstmals 2019 in der Publikation «Partnerschaft» von Helvetas.
* Alle Namen der Rohingya wurden zu ihrem Schutz geändert.
** Das Projekt wird seit 2019 unter anderem von der Glückskette und vom Kanton Genf mitfinanziert.
Der Schweizer Fotojournalist Patrick Rohr besucht im Auftrag von Helvetas seit mehreren Jahren Projekte und berichtet darüber.
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