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«Rubik» bereitet immer mehr Kopfzerbrechen

Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf und ihr deutscher Amtskollege Wolfgang Schäuble haben am 21. September 2011 das Abkommen unterzeichnet. Keystone

Die Steuerabkommen, welche die Schweiz mit Grossbritannien und Deutschland unterzeichnet hat, hängen an einem dünnen Faden. Auch in der Schweiz kommen Zweifel auf. Das Modell "Rubik" ist jedoch noch lange nicht gestorben.

Wir überweisen Euch die anonymisierten Milliarden aus einer neuen Abgeltungssteuer, Ihr verzichtet dafür auf die Forderung nach automatischem Informationsaustausch.

Mit der Unterzeichnung der Steuerabkommen mit Deutschland und Grossbritannien im September und Oktober vergangenen Jahres schien die Schweizer Regierung das Ei des Kolumbus gefunden zu haben: Retten, was vom Bankgeheimnis noch übrig bleibt und gleichzeitig den berechtigten Steuerforderungen der beiden Länder nachkommen.

Im Gegenwind

Seit einigen Wochen jedoch scheint das so genannte Modell «Rubik» nicht mehr auf die vorausgesagte Zustimmung zu treffen. In Deutschland stösst das Abkommen bei der Sozialdemokratischen Partei (SPD), den Grünen und bei einigen Bundesländern auf keinen Gefallen.

Brüssel seinerseits hat bereits die Gültigkeit der Steuerabkommen in Frage gestellt, während Frankreich zu verstehen gab, man wolle nichts davon wissen.

Die einzige positive Nachricht erreichte die Schweiz aus Italien, wo Ministerpräsident Mario Monti erklärte, ein Abkommen mit der Schweiz sei «eine überprüfbare Hypothese».

Um einen Zusammenstoss zwischen Brüssel und der Schweizer Regierung zu verhindern, hat das deutsche Finanzministerium mitgeteilt, man wolle bis Ende März mögliche punktuelle Änderungen nachprüfen, wobei eine Neuverhandlung des ganzen Abkommens ausgeschlossen sei.

Die Schweizer Finanzministerin Eveline Widmer-Schlumpf hat sich bereit erklärt, «gewisse technische Fragen nachzuprüfen», nicht aber den Kern des Abkommens.

Auch im Inland

Auch in der Schweiz ist es nicht mehr so sicher, dass die beiden Steuerabkommen die parlamentarische Hürde leicht nehmen werden. Die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) sieht das Projekt «Rubik» nicht gern, das mehr negative als positive Wirkungen habe. Bei der Linken dagegen stossen die europäischen Forderungen nach automatischem Informationsaustausch auf eine gewisse Unterstützung.

Einige Ökonomen und Steuerexperten haben die Wirksamkeit von «Rubik» kürzlich in Zweifel gezogen. Für Wirtschaftsprofessor Sergio Rossi von der Universität Freiburg handelt es sich um ein Modell, «das auf einer Philosophie basiert, die im letzten Jahrhundert wirksam gewesen sein könnte, als ausländisches Kapital in der Schweiz parkiert war und während Jahrzehnten nicht ausgegeben wurde».

Wenn man in die Zukunft blicken wolle, müsse man in Richtung automatischen Informationsaustausch gehen, sagte er im Schweizer Radio und Fernsehen. «Dabei muss man geschickt mit den Gegenparteien verhandeln, um die grösstmöglichen Vorteile für unser Land herauszuholen», so Rossi.

Politisches Spiel

Für Paolo Bernasconi, Professor für Banken- und Steuerrecht, der in der Schweiz als Finanzsektor-Topexperte gilt, ist aber noch nichts verloren: «Wahrscheinlich wird Deutschland Änderungen in einigen Punkten verlangen, die Kompatibilitätsprobleme mit der Europäischen Union (EU) zur Folge haben. Das Abkommen ist eigentlich wie der Würfel ‹Rubik› gestaltet, mit verschiedenen Teilen. Und wenn man einen Teil wegschneidet, heisst das nicht, dass das Ganze zerfällt», so Bernasconi.

«Es ist klar, dass es hier um ein politisches Spiel zwischen Brüssel einerseits und Berlin und London andererseits wie auch innerhalb von Deutschland geht», sagt Michel Dérobert, Generalsekretär der Vereinigung Schweizerischer Privatbankiers (VSPB).

«Wir sind von der Idee ausgegangen, dass diese Abkommen mit dem europäischen Recht in Einklang sind. Jetzt liegt es an den britischen und deutschen Verhandlungspartnern, sich davon zu überzeugen.»

Wie auch immer, Dérobert gibt sich zuversichtlich: «Ich glaube, die deutsche Regierung hat die Mittel, um das Projekt nicht scheitern zu lassen und so die Schmach zu verhindern, ein Abkommen mit einem Drittland zu unterzeichnen und anschliessend von Brüssel dafür Rutenschläge zu kassieren. Und wenn es mit Deutschland klappen wird, schätze ich, dass viele andere Länder an einem solchen Abkommen interessiert sein könnten.»

Besser heute das Ei als morgen das Huhn

Die Schweiz könnte davon profitieren, dass viele europäische Länder «frisches» Geld dringend nötig haben.

Gemäss einer Studie der Beraterfirma Booz & Company waren Ende 2010 auf Schweizer Bankkonten 270 Milliarden Franken von in Deutschland und England wohnenden Personen deponiert, wovon 60% nicht versteuertes Kapital.

Um diese Gelder zu regularisieren, müssten die Banken eine Abgeltungssteuer zwischen 19 und 34% auf dem Kapital erheben. Damit würden mehrere Milliarden in die Staatskassen Grossbritanniens und Deutschlands fliessen.

«Die EU-Position – ‹wir wollen den automatischen Informationsaustausch› – ist ideologisch», sagt Paolo Bernasconi. Ich habe den grössten Respekt für Konzepte wie Steuergerechtigkeit, Gleichheit, Gleichbehandlung. Aus einer pragmatischen Sicht muss aber der Staat zuallererst Einnahmen ohne zusätzlichen Kosten machen», betont er.

Automatischer Informationsaustausch?

Der automatische Informationsaustausch würde potenzielle Steuerhinterzieher sicher entmutigen. Auf der anderen Seite würde er aber viele Unbekannte enthalten.

«Wenn man Informationen über einen Steuerzahler erhält, heisst das nicht, dass von heute auf morgen Geld rausspringt. Die Informationen müssen ausgewertet werden. Dies setzt ein Prozedere voraus, das Jahre dauern kann, ohne dabei sicher zu sein, Erfolg zu haben und die hinterzogenen Steuern kassieren zu können», sagt Bernasconi.

Und wenn diese Argumente die europäischen Partner nicht überzeugen und die Steuerabkommen scheitern sollten? Dann würde die Situation so verbleiben wie heute, erklärt Michel Dérobert.

«Unter Druck ist vor allem die EU, wegen ihres Zinsbesteuerungssystems, dessen Reform nicht gelingt. Wenn man sich in Brüssel eines Tages auf die Richtung des Weges einigt, wird die EU die Schweiz auffordern, die existierenden Abkommen zu revidieren und den automatischen Informationsaustausch zu akzeptieren. Bern wird Nein sagen. Man wird wieder neu verhandeln, und eines Tages wird man eine Lösung finden», so Dérobert zuversichtlich.

Weniger optimistisch sieht es Paolo Bernasconi: «Im Moment, wo die G 20 und alle grossen Organisationen auf den automatischen Informationsaustausch drängen, können die Schweizer Banken eine Alternative vorschlagen: Aladins Wunderlampe. Die ausländischen Staaten kassieren rasch Milliarden, ohne Kosten und mit Schweizer Präzision.»

Falls diese Alternative aber zurückgewiesen werden sollte, «würde es für die Schweiz sehr schwierig, weil sie gar nichts mehr anzubieten hätte», so Bernasconi. «Ich befürchte, dass man sich geradewegs zum automatischen Informationsaustausch hin bewegt. Für einen Teil des Schweizer Finanzplatzes wäre das katastrophal, weil er einen grossen Teil seiner Attraktivität einbüssen würde.»

Das Projekt «Rubik», vom Verband der Auslandbanken in der Schweiz (AFBS) initiiert, schlägt als Alternative zum automatischen Informationsaustausch eine Abgeltungssteuer an Drittstaaten vor, mit der Wahrung der Anonymität des ausländischen Halters eines Kontos in der Schweiz.

Diese Strategie, welche die Privatsphäre der Kunden schützt, soll auch Angestellte ausländischer Banken in der Schweiz vor juristischer Verfolgung aus Drittländern schützen.

Laut den Promotoren des Projekts soll die Sicherstellung der Anonymität ausländische Kunden dazu ermutigen, ihre Gelder in der Schweiz zu belassen, statt diese zurückzuholen.

Die Schweizerische Bankiervereinigung (SwissBanking) unterstützt das Projekt «Rubik».

In Deutschland wird das mit der Schweiz unterzeichnete, aber vom Parlament noch nicht ratifizierte Steuerabkommen von der Sozialdemokratischen Partei (SPD), den Grünen und einigen Bundesländern – vor allem Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen – beanstandet.

Das Abkommen wird für Steuerhinterzieher als zu günstig betrachtet. Das Abkommen könnte im Bundesrat, der Länderkammer, scheitern, wo die Regierung keine Mehrheit mehr hat.

In Grossbritannien ist das Abkommen mit der Schweiz weniger umstritten. Nach Ansicht von Dave Hartnett, Sekretär bei der britischen Steuerbehörde, ist «Rubik» die bestmögliche Kompromisslösung.

Brüssel hat die Gültigkeit der Abkommen in Frage gestellt, weil sie die Richtlinien der EU über die Zinsbesteuerung und die entsprechende Konvention zwischen Bern und Brüssel verletzen würden. Die EU hat Berlin und London zu Neuverhandlungen mit der Schweiz aufgefordert.

Frankreich gab bekannt, es wolle kein Abkommen mit der Schweiz zur Regularisierung der nicht versteuerten Gelder seiner Staatsbürger auf Schweizer Bankkonten aushandeln. «Wir wollen keine Diskussionen beginnen über den Vorschlag der Schweizerischen Bankiervereinigung, weil uns dies zwingen würde, auf unsere Prinzipien zu verzichten», erklärte die französische Haushaltsministerin Valérie Pécresse.

(Übertragung aus dem Italienischen: Jean-Michel Berthoud)

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