Was Locarno 2018 über den Schweizer Film aussagte
Die Werke Schweizer Filmemacher und -macherinnen, die am diesjährigen Locarno Filmfestival auf die Leinwand gebracht wurden, sind weit von Klischees entfernt. Die zehn ausgewählten Filme zeigen einen breiten Fächer des filmischen Schaffens im Land. Eine Bestandesaufnahme.
Das Schweizer Programm bot einen Querschnitt durch die Schweizer Filmlandschaft. Auf den ersten Blick ist es eher dokumentarfilmlastig.
Am nächsten am Motiv der Heimat bleiben die zwei Dokumentationen » À l’école des Philosophes» und » Les Dames». Die Produktionen aus der Westschweiz finden ihre Themen im Inland. Ein Vorteil des Dokumentarfilmes: Die Mikroperspektive einnehmen zu können – sich in der Gesellschaft umzuschauen und zu überlegen, wessen Perspektive wir selten zu hören bekommen.
Für das Programm Panorama Suisse ist jeweils eine Fachjury verantwortlich, die sich aus Repräsentanten der Solothurner Filmtage, der Schweizer Filmakademie und der Promotionsagentur Swiss Films zusammensetzt.
Der Alltag unter dem Mikroskop
So stellen sich die Regisseurinnen von «Les Dames», Stéphanie Chuat und Véronique Reymond, die Frage, wie alleinstehende Frauen über 60 ihren Alltag bestreiten. Der Film zeigt anhand von fünf intimen und berührenden Porträts das Gefühlsleben einer Altersgruppe. Wir lernen Frauen kennen, die sich nicht scheuen vor der Kamera ihre Leben zu reflektieren, sich ihren Ängsten zu stellen und munter große Pläne für die Zukunft zu schmieden.
Eine der Frauen überwindet ihre Höhenangst indem sie sich mit einer Seilbahn zum ersten Mal in ihrem Leben auf einen Gletscher begibt. Mit der Kamera an ihrer Seite stellt sie sich einer Angst, die stellvertretend für alle Ängste steht, die ihr in ihrem Leben im Weg standen. Es ist die grosse Leistung der Filmemacherinnen, solche persönlichen Momente festzuhalten, ohne dabei in Sentimentalitäten zu verfallen.
Reisen durch Raum und Zeit
Während die einen bemüht sind, aktuelle Lebensrealitäten in der Schweiz festzuhalten, nehmen andere Filme die Betrachtenden in ferne Länder oder vergangene Zeiten mit. «Eldorado», «Where are you, Joao Gilberto?» und «Chris the Swiss» schöpfen ihre dokumentarische Kraft aus persönlichen Ansätzen ihrer Filmemacher.
Anja Kofmel beispielsweise wird in ihrem Film «Chris the Swiss» selbst zur Darstellerin, wenn auch nur als Illustration. Von klein auf vom mysteriösen Tod ihres Cousins Chris betroffen, will die erwachsene Regisseurin herausfinden, was mit ihm passiert ist. Ihr Weg führt sie zurück in den Jugoslawienkrieg der 90er Jahre. War Chris noch Journalist, als er sich einer paramilitärischen Einheit in Kroatien anschloss? Auch heute ist das Thema ein gräfliches Terrain.
Kofmel spickt ihre filmische Reise mit bildgewaltigen Animationen in Schwarz-Weiss, welche die Grenzen zwischen Imaginiertem und Recherchiertem verschwimmen lassen. Ihr Beitrag befindet sich im Spannungsfeld zwischen Animation, Dokumentation und Fiktion. «Chris the Swiss» ist sicherlich einer der anspruchsvollsten Beiträge in der Sektion Panorama Suisse.
Gesellschaftlich relevante Zeitdokumente
Zwei weitere Dokumentarfilme runden den Schweizer Blick auf die Welt ab. Mit ihren thematischen Schwerpunkten entwickeln die Beiträge «Genesis 2.0» und «Die Vierte Gewalt» vor allem als Zeitdokumente Relevanz. Sie behandeln gesellschaftliche Themen, die zu gross sind, als dass man sie als Einzelner in ihrer Gänze fassen könnte. Das übernehmen hier die Filmemacher. «Die Vierte Gewalt» thematisiert das Zeitungssterben und porträtiert die heimische, deutschsprachige Medienlandschaft.
Über mehrere Jahre hinweg hält Regisseur Dieter Fahrer filmisch fest, wie sich die Redaktion der Tageszeitung «Der Bund» verändert. Er zeigt den schnelllebigen Arbeitsalltag des Newsportals «Watson» und begleitet die Entstehungsphase des Onlinemagazins «Republik». Wer immer schon mal wissen wollte, wie die Medienwelt funktioniert und welche Menschen sich hinter den Nachrichten befinden, sollte sich diesen behutsam kuratierten und pointiert kommentierten Film anschauen.
Doch was ist mit Schweizer Spielfilmen? Sie waren auch im regulären Festivalprogramm vertreten. Das Geschwisterdrama «Glaubenberg» von Thomas Imbach lief im internationalen Wettbewerb und Bettina Oberlis «Le vent tourne» feierte vor dem grössten Publikum auf der Piazza Grande seine Weltpremiere. Im Wettbewerb der Nachwuchsregisseure überzeugte der Film «Closing Time» von Nicole Vögele. Filme wie «Closing Time» lassen hoffen, dass sich in Zukunft weitere junge Filmemacherinnen und Filmemacher an mutige Projekte wagen, die ihren Weg auf die Leinwände der grossen Filmfestivals finden.
Die Jury der Sektion Panorama Suisse setzte in der Spielfilmauswahl jedoch auf eher konventionelle Filmformate und geläufige Themen. «Blue my mind» und «Mario» handeln von jungen Erwachsenen und spielen im Gymnasium und im Fussballverein. Und doch zeichnen die Dramen keinesfalls eine heile Welt, sondern leisten einen Schweizer Beitrag zur internationale Filmtradition der «coming of age»- und «coming out»-Filme.
Doch immer wieder die Berge
Am unkonventionellsten kommt das Flüchtlingsdrama «Fortuna» von Germinal Roaux daher. Die gleichnamige Hauptdarstellerin ist ein vierzehnjähriges Mädchen, das mit anderen Flüchtlingen in einem Hospiz der Augustiner auf dem Simplon-Pass gestrandet ist. Das surreale Setting spiegelt die extreme Ohnmacht der Figur und wird unterstrichen durch die mutige Entscheidung des Regisseurs, den Film in schwarz-weiss zu halten.
Das Bild der Berge taucht am Ende doch wieder als Motiv in der Schweizer Filmlandschaft auf. Ebenfalls wiederkehrend ist die Ambition der Filmschaffenden, soziale und gesellschaftliche Themen anzusprechen. Die Jury hat diesbezüglich ihrem internationalen Publikum eine gelungene und anspruchsvolle Filmauswahl am Festival in Locarno zusammengestellt. Einzig ist zu bemängeln, dass sich bei so vielen ernsten Themen der eine oder andere Zuschauer zwischendurch vielleicht etwas Aufheiterung wünschen könnte.
Critics Academy
*Silvia Posavec (Schweiz) nahm an der diesjährigen Critics Academy teil, einer Initiative des Locarno Festivals mit 11 jungen Filmkritikerinnen und Kritikern aus der Schweiz und dem Ausland. Die ausgewählten jungen Leute waren beauftragt, Kritiken über die Filme des Programms und über begleitende Events, sowie Hintergrundbeiträge und Interviews mit Gästen zu machen.
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