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Lässt die Schweiz ihre Konsumenten im Regen stehen?

Obergericht
Der Versuch der Konsumentenschützer, mit einer Sammelklage gegen den Autobauer VW vorzugehen, blieb erfolglos. © Keystone / Ennio Leanza

Das Parlament der Europäischen Union hat Ende November neue Regeln für Sammelklagen verabschiedet. In der Schweiz gibt es das juristische Instrument bisher nicht. Diese Lücke sorgt für Diskussionen.

Das Stichwort Sammelklage löst in der Schweiz in der Regel ungute Gefühle aus: Entweder erinnert es an die dunkle Geschichte im Zusammenhang mit den nachrichtenlosen, jüdischen Vermögen bei den Schweizer Banken. Oder man denkt dabei an die teils abstrusen Klagen, die in den USA an der Tagesordnung zu sein scheinen – etwa jene, bei der Kunden die Fast-Food-Kette McDonald’s verklagten, weil sie für einen Burger, den sie auf Sonderwunsch ohne Käse wollten, gleich viel bezahlen mussten wie jene Kunden, die den Burger mit allem bestellt haben.

Dabei hat der sogenannte kollektive Rechtsschutz unbestritten seine guten Seiten: Nehmen wir das Beispiel des Dieselskandals, das der Debatte um die Sammelklage in der Schweiz zuletzt neuen Schwung verliehen hat. Wir erinnern uns: Der Autobauer VW hatte in seinen Dieselfahrzeugen eine Software verbaut, die es ihm erlaubte, in Abgastest die Ergebnisse zu schönen. Für den einzelnen VW-Kunden resultiert daraus nur ein geringer Schaden. Eine individuelle Klage gegen den Autokonzern lohnt sich unter diesen Umständen kaum – zumal ein Gerichtsverfahren eine teure Angelegenheit ist.

Weil VW aber nicht nur einen Kunden getäuscht hat, sondern allein in der Schweiz Tausende, summiert sich der Gesamtschaden. Wenn sich alle Geschädigten zusammenschlössen, könnte sich eine Klage gegen den Autobauer also durchaus lohnen. In anderen Ländern, wo das Instrument der Sammelklage etabliert ist, musste VW denn auch Millionen an seine Kunden zurückerstatten.

Zwar hat auch in der Schweiz der Konsumentenschutz 2017 für geschädigte VW-Kunden eine Schadenersatzklage eingereicht. Diese wurde aber im Sommer vom Bundesgericht abgewiesen. Das Schweizer Recht sieht vor, dass nur klagen kann, wer persönlich betroffen ist. Der Konsumentenschutz habe somit nicht die Möglichkeit, im Namen der Betroffenen zu klagen, so die Begründung.

Bundesrat hält die Situation für «verbesserungsfähig»

«Der kollektive Rechtsschutz im schweizerischen Privatrecht ist verbesserungsfähig.» Zu diesem Schluss kam 2013 ein Bericht des Bundesrats. Bei sogenannten Massen- und Streuschäden sei es sinnvoll und effizient, wenn die vielen Geschädigten ein kollektives Verfahren anstreben könnten. «Dies verbessert den Rechtsschutz des Einzelnen und führt zu einer effektiveren und effizienteren Rechtsanwendung und Rechtsdurchsetzung, zur Rechtssicherheit insbesondere für Schädigende und zur Entlastung der Justiz», heisst es im Bericht.

Beispiele für Massen- oder Streuschäden gäbe es in der Schweiz zur Genüge – neben VW etwa das Löschen von Kundendaten aus der Swisscom-Cloud, die Pleite der Bank Lehman Brothers während der Finanzkrise und die Retrozessionen, die Banken von den Fonds kassieren. Doch die politischen Mühlen der Schweiz mahlen bekanntlich langsam. So hat sich seit 2013 nichts getan.

Gescheitert sind Anstrengungen für eine Veränderung bisher vor allem am Widerstand der Wirtschaft. Das zeigte sich auch am runden Tisch, zu dem die Eidgenössische Kommission für Konsumentenfragen letzte Woche geladen hatte. Sandrine Rudolf von Rohr, die stellvertretende Leiterin Wettbewerb und Regulatorisches bei Economiesuisse, warnte dort, die Schweiz würde mit der Sammelklage einen Standortvorteil aufgeben. Die Unternehmen würden erpressbar und könnten sich im schlimmsten Fall aus der Schweiz verabschieden.

Vorlage für besseren Schutz bis 2021

Dabei wollte der Bundesrat eigentlich griffigere Regeln für einen kollektiven Rechtsschutz einführen, wie das Instrument der Verbandsklage und des Gruppenvergleichs: Im Rahmen der laufenden Reform der Schweizerischen Zivilprozessordnung schlug der Bundesrat 2018 ursprünglich entsprechende Neuerungen vor. Später verschwanden die Ideen wieder aus dem Entwurf, weil sie separat behandelt werden sollten.

Die Regierung werde noch nächstes Jahr eine entsprechende Vorlage präsentieren, sagte Justizministerin Karin Keller-Sutter Anfang November im Gespräch mit der Neuen Zürcher Zeitung.

Haben wir also in der Schweiz schon bald Verhältnisse wie in den USA, wie das Gegner der Sammelklage befürchten? Das müsse auf jeden Fall verhindert werden, darin – und eigentlich nur darin – waren sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer am virtuellen runden Tisch von letzter Woche einig.

Keine Angst vor Amerikanisierung

Bisher wurden Sammelklagen tatsächlich vor allem mit den USA assoziiert. Dabei gibt es mittlerweile auch europäische Länder, die vergleichbare Instrumente kennen – die Niederlande und Deutschland etwa. Zudem hat die Europäische Union Ende November neue, einheitliche Regeln für Verbandsklagen beschlossen.

«Ein einziger EU-Bürger, der ein riesiges Unternehmen vor Gericht bringt – dies war ein sehr ungerechter Kampf. Mit der neuen Richtlinie werden sich die Dinge verbessern: Verbraucherinnen und Verbraucher aus der gesamten EU können sich zusammentun und gemeinsam Rechtsmittel einlegen», sagte Věra Jourová, Vizepräsidentin der EU-Kommission. Die EU-Mitgliedstaaten haben bis Januar 2023 Zeit, die neue Richtlinie umzusetzen.

Die Schweiz droht zur Insel zu werden, deren Bewohner als einzige nicht die Möglichkeit zur Sammelklage haben. Gleichzeitig macht die europäische Ausprägung der Sammelklage, die Verbandsklage, deutlich, in welche Richtung die Schweiz gehen dürfte. Sie unterscheidet sich wesentlich von den in den USA üblichen Class Actions. So sieht die EU-Regelung beispielsweise vor, dass keine Anwaltskanzleien klagen dürfen, sondern nur Einrichtungen wie Konsumentenschutzorganisationen, die keinen Erwerbszweck verfolgen und strenge Zulassungskriterien erfüllen. Die Angst vor einer Amerikanisierung scheint deshalb unbegründet.

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