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Schriftsteller:innen im Exil: Gefangen zwischen dort und hier

Personen stehen vor einem offenen Bücherschrank, der das tauschen von Büchern ermöglicht
Die Solothurner Literaturtage sind eine der wichtigsten Veranstaltungen im literarischen Leben der Schweiz. Dieses Jahr fanden sie zum 45. Mal statt. © Keystone / Peter Klaunzer

Einige schreiben in der Sprache ihrer Heimat, andere haben sich die Sprache ihres Gastlandes zu eigen gemacht. Gemeinsam ist den Autor:innen der zweiten Generation von Auswanderer:innen, dass sie ihr Werk nicht als "Migrant:innenliteratur" verstanden haben wollen.

“In unsicheren Zeiten voller Krisen, Proteste und gesellschaftlicher Umbrüche ist es wichtig, der Welt mit Empathie zu begegnen, zuzuhören und in einen konstruktiven Dialog zu treten.” Das schrieben die Veranstalter:innen der Solothurner Literaturtage in der Broschüre der diesjährigen Ausgabe.

In der Tat standen an diesem schweizerischen Forum für Literaturschaffende im Mai Krisen, gesellschaftliche Umbrüche und Migration als deren Folge im Mittelpunkt aller Diskussionen.

Der im Iran geborene Behzad Karim Khani und der in Paris geborene Gauz von der Elfenbeinküste sprachen über die Krisen und schwierigen Schicksale der in Berlin lebenden Migranten. Khanis Biografie spricht für sich: Er ist mehrfach wegen illegalen Besitzes von Cannabis und schwerer Körperverletzung verurteilt worden, lebte drei Jahre lang in einem Wohnwagen und betrieb eine Bar. Gauz hat unter anderem eine Vergangenheit als Bodyguard.

In seinem hochgelobten Debüt “Hund, Wolf, Schakal” beschreibt Behzad Karim Khani die “Verhältnisse, die wir mit geschaffen haben” (Elke Heidenreich). Es geht um Kampf um Würde und Anerkennung im Berlin-Neukölln der 1990er-Jahre nach der Flucht aus Teheran. Die Hauptfrage von Khani ist: Was macht eigentlich den Menschen aus – Natur oder Zivilisation? 

Menschen bicken in einem Saal in Solothurn auf Podium und Leinwand
Bei der Eröffnung der Literaturtage in Solothurn – ein voller Saal. © Keystone / Urs Flueeler

Schriftstellerinnen und Schriftsteller aus dem ehemaligen Jugoslawien – Violeta Aleksić, Olga Serafimovski Milenković, Goran Vulović – haben darüber nachgedacht, was es heisst, eine Migrant:in der dritten Generation zu sein, wie man eine gesunde nationale Identität bewahrt und die nationale Verbitterung überwindet.

Auswege in der Sprache

Goran Vulović sprach von Generationenkonflikt und davon, dass die erste Migrant:innengeneration ihr Leben lang “nach Hause” wollte, über das Gefühl, man sei nur vorübergehend hier. Als Vertreter:in der zweiten Generation gerät man in eine Zwischenlage – zwischen dort und hier, zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Als Ausweg aus dieser Lage bot Violeta Aleksić mit ihrem „Esperanto“-Text, einer neuen Sprache der Hoffnung, ein Symbol für das Verständnis zwischen den Generationen.  

Alle drei Autor:innen schreiben auf Deutsch und bestehen darauf, dass ihre Texte ein Teil der deutschsprachigen Literatur und nicht der Migrant:innenliteratur sind, wie dies früher der Fall war.  

Die belarussische Schriftstellerin und der belarussische Schriftsteller Julia Cimafiejeva und Alhierd Bacharevič, beide mit Migrationshintergrund, sprachen darüber, wo die Grenze zwischen Emigration und Exil verläuft und wie sie zu definieren ist.  

In seinem Roman “Die Hunde Europas” erzählt Alhierd Bacharevič Geschichten aus Belarus, die in der Gegenwart oder in einer nahen Zukunft spielen. Er hat seinen 2017 erschienenen Roman selbst ins Russische übersetzt und stand damit unter anderem auf der Shortlist des grössten russischen Literaturpreises. Im Frühjahr 2021 wurde die belarussische Neuauflage von Lukaschenkos Regime konfisziert und als “staatswidrig” eingestuft. Bacharevič lebt seit Dezember 2020 mit Julia Cimafiejeva im Exil.  

Für Bacharevič ist es wichtig, nicht in die Schublade eines eingegrenzten Autors zu geraten aus einem Land, wo es entweder Opfer oder Augenzeug:innen gibt. In einem Land, in dem Russisch gesprochen und Belarussisch gedacht wird, sucht er die Möglichkeit, sich zu äussern. Und findet sie in einer Sprache, die nicht verunreinigt ist, in einer völlig neuerfundenen Sprache – Balbuta.  

Ein Sein im Nirgendwo

Julia Cimafiejeva veröffentlichte 2020 ihr Tagebuch “Dagar i Belarus” (Tage in Belarus), worin sie die Proteste gegen Lukaschenko protokollierte.  Seitdem war auch ihr Leben in Belarus nicht mehr möglich. Wenn Bacharevič eine neue Sprache erfindet, so redet Cimafiejeva über ihre Erfahrung in einer starken Metapher. “Angststein” lautet der Titel ihres Gedichtbandes:  

Als Erbstück erhielt ich 
meine Angst – 
eine Familienreliquie, 
ein wertvoller Stein, 
weitergegeben 
von Generation zu Generation. 

Was kann man mit dem “Angststein” machen, der von Generation zu Generation weitergegeben wurde, der vor Gefahren schützt und gleichzeitig Ballast ist, der einen am Atmen und Leben hindert? 

Die iranische Schriftstellerin Pegah Ahmadi, die mit Julia Cimafiejeva über Formen des Exils diskutierte, sprach über Exil als ein Zustand zwischen zwei Unmöglichkeiten – Unmöglichkeit der eigenen und der neuen Sprache, der Heimat und des neuen Ortes. Das Sein im Exil sei ein Sein im Nirgendwo. 

Migration und Exil sind unweigerlich mit dem Thema Sprache verbunden, sei es eine Fremdsprache, die man sich anzueignen versucht, oder eigene Sprache, die in einem neuen Land als Fremdsprache fungiert, oder sei es eine Sprache, die aus dem Exil im eigenen Lande führt.  

Die Podiumsdiskussion zum Thema Sprache zwischen den aus Ex-Jugoslawien stammenden Schriftstellerinnen Mina Hava und Shpresa Jashari und dem gebürtigen Inder Ralth Tharayil stand unter dem Titel “Sprache manifestiert Realitäten”. Sie alle sprachen über ihre “Zwangsehe” mit der deutschen Sprache und ihr Selbstverständnis als Schriftsteller:innen im deutschsprachigen Raum, die nicht Teil der “Migrant:innenliteratur” sein wollen. Das Schlüsselwort für die Anerkennung für sie ist “Code-switching” zwischen den Kulturen. Eine auffällig schöne deutsche Sprache, die sie alle sprechen, ist Ausdruck davon, wie sehr man dazu gehören will, denn man ist gut in Aneignung.

Letha Semadeni am Renderpult.
Die Schweizer Schriftstellerin Letha Semadeni, Gewinnerin des Schweizer Grand Prix für Literatur, spricht bei der Preisverleihung im Rahmen der 45. Solothurner Literaturtage. © Keystone / Peter Klaunzer

Mina Hava, Autorin des Debutromans “Für Seka”, einer Migrationsgeschichte, behauptete, dass sowohl Literatur als auch Sprache Orte der Gewalt seien, wo die Autor:nnen einzig und allein aus eigener Entscheidung handeln können und wollen.  

Ralth Tharayil dagegen sprach von der Sprache als Denunziation, als Verweigerung, weil man sich seiner eigenen Sprache schämt. Man baue sich ein eigenes Gefängnis aus eigener Sprache, aber man sei nicht frei darin. 

Kolonialimus zweiten Grades?

Der Begriff der Migrant:innenliteratur wurde wiederholt als sexistisch und als das Aufzwingen eines bestimmten Etiketts in Frage gestellt. Ist die Lektüre eines fremden Texts einer fremdkulturellen Autor:in mit dem Ziel, sich Wissen und Informationen über ein anderes, meist weniger entwickeltes Land als die Schweiz anzueignen, möglich? Ist dies nicht eine weitere Form des Kolonialismus, verstanden im weitesten Sinne des Wortes als jede Form der Aneignung des Fremden? So lauteten die Fragen, auf die es am literarischen Forum in Solothurn vorerst keine Antworten gab. 

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