Schulen in der Schweiz: Zwischen Inklusion und Exklusion
Ist das Bildungssystem in der Schweiz ausreichend inklusiv? Darauf gibt es unterschiedliche Antworten. Den Behindertenverbänden geht der Prozess der schulischen Inklusion zu langsam voran, den Lehrkräften aber zu schnell.
«Wir leben in einer sehr vielfältigen und diversifizierten Gesellschaft – das müssen unsere Schulen berücksichtigen», sagt Silvia Pool MaagExterner Link, Professorin für Sonderpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Zürich mit dem Schwerpunkt Inklusion und Diversität. «In der Schweiz müssen alle Schulen inklusiv und jedes Bildungssystem auf Inklusion ausgerichtet sein.»
Dieser Grundsatz ist letztlich in der BundesverfassungExterner Link verankert (Art. 8 Abs. 2 und 41 Abs. 1). Im Jahr 2023 stellt niemand in Frage, dass alle Kinder, unabhängig von ihrer Herkunft, ihren Interessen und Fähigkeiten die gleichen Chancen im Schweizer Bildungssystem haben müssen.
Doch bei der Umsetzung dieses Grundsatzes harzt es. Wie sonst lässt sich die Diskriminierung von Kindern mit einer körperlichen oder geistigen Behinderung erklären? Es gibt Medienberichte über Kinder, die in einer «Ghettoschule für Menschen mit Behinderungen eingesperrt sindExterner Link«, oder über Familien, „die Mühe haben, ihr Kind mit einer Beeinträchtigung in eine Regelschule zu integrierenExterner Link«.
Artikel 24 des von der Schweiz unterzeichneten Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit BehinderungenExterner Link der Vereinten Nationen befasst sich mit Bildung. In der deutschen Übersetzung ist in Absatz 1 dieses Artikels von einem «integrativen Bildungssystem» die Rede. In der englischen Originalfassung der Erklärung von SalamancaExterner Link zur schulischen Integration, die als Rechtsgrundlage für den Integrationsprozess gilt, wird der Begriff «inclusive education system» verwendet, der dann mit «integrativ» übersetzt wurde.
Obwohl die beiden Wörter «inklusiv» und «integrativ» manchmal als Synonyme verwendet werden, haben sie nicht dieselbe Bedeutung. Integration bedeutet, dass Kinder mit unterschiedlichen Begabungen und Einschränkungen so weit wie möglich in derselben Klasse und Schule unterrichtet werden. Inklusion bedeutet eine Schule, die alle Mädchen und Jungen eines Ortes oder eines Quartiers aufnimmt, unabhängig von ihrer körperlichen, geistigen, emotionalen und sozialen Entwicklung. Heterogene Klassen sind die Regel. Kurz gesagt: Bei der Integration muss sich ein Kind mit Einschränkungen an das System anpassen, während sich bei der Inklusion das System an ein Kind mit besonderen Bedürfnissen anpassen muss.
Weniger Schüler:innen in Sonderschulen
Cyril Mizrahi ist Jurist bei Inclusion HandicapExterner Link, dem Dachverband der Behindertenorganisationen in der Schweiz. Er erinnert daran, dass in Genf Jungen und Mädchen mit bestimmten Beeinträchtigungen oft einer Sonderschule zugewiesen werden: «Es gibt zwei parallele Bildungswege: Einerseits Schulen für Kinder, die es schaffen, sich dem System anzupassen; auf der anderen Seite Institutionen für Kinder, die nicht in die Norm passen. Daher kann man in der Schweiz nicht von einer inklusiven Schule sprechen».
Es handelt sich um ein Problem, das auch in einem UNO-BerichtExterner Link über die Umsetzung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen hervorgehoben wird. Der UN-Ausschuss kritisiert die Schweiz, weil die Regelschulen noch immer nicht über die notwendigen Mittel zur Durchführung eines inklusiven Unterrichts verfügen; Hilfsmittel wie die Gebärdensprache stehen nicht ausreichend zur Verfügung.
Kritisiert wird ebenfalls, dass eine umfassende Strategie zur Gewährleistung einer qualitativ hochwertigen Bildung für alle, das heisst auch für Kinder mit Beeinträchtigungen, nach wie vor fehlt.
Man spricht von Integration, wenn eine Schülerin oder ein Schüler die meiste Zeit in der Schule mit Gleichaltrigen aus dem gleichen Quartier oder Dorf verbringt.
Hingegen spricht man von Segregation, wenn der Schulbesuch in einer Sonderklasse stattfindet, das heisst etwa in einer Klasse für Nicht-Muttersprachler:innen, oder in einer Einrichtung, die auf die Unterrichtung von Menschen mit Behinderungen, Lernschwierigkeiten oder Verhaltensstörungen spezialisiert ist.
Ein Blick auf die vom Bundesamt für StatistikExterner Link veröffentlichten Zahlen zeigt, dass die Zahl der Schüler:innen in einer Sonderklasse oder Sonderschule seit 2005 um 40 Prozent von 50‘000 auf 30‘000 gesunken ist.
Laut den neuesten Daten über den Schulbetrieb in der Schweiz ist fast die Hälfte aller Schüler:innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf in eine Regelklasse integriert.
Dies schreibt Romain Lanners, Leiter der Stiftung Schweizer Zentrum für Heil- und Sonderpädagogik (SZHExterner Link), auf dem Blog der Konferenz der kantonalen Erziehungsdirektinnen und -direktorenExterner Link.
Es handelt sich um eine positive Entwicklung seit Inkrafttreten des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Jahr 2014. Das wird auch vom UNO-Ausschuss anerkannt.
Jedoch gibt es Meinungsunterschiede zur Frage, ob genug getan worden ist. «Wir befinden uns auf gutem Weg. Unser Bildungssystem wird immer inklusiver», sagt Professorin Pool Maag als Expertin für Inklusion und Diversität.
Sie verweist darauf, dass gesetzliche Grundlagen geschaffen wurden. In der Tat: Im Jahr 2004 ist das BehindertengleichstellungsgesetExterner Linkz (BehiG) in Kraft getreten. 2007 wurde die Interkantonale Vereinbarung über die Zusammenarbeit im Bereich der Sonderpädagogik verabschiedet. Dieses Konkordat trat am 1.Januar 2011 in Kraft und verpflichtet die Kantone, die schulische Integration von Kindern mit Behinderungen zu fördern. «Schliesslich betont auch der Lehrplan 21Externer Link die Inklusion», meint Pool Maag.
In der Schweiz leben rund 1,7 Millionen Menschen mit einer Behinderung oder einer chronischen Krankheit. Sie machen folglich mehr als 20 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Weltweit sind schätzungsweise 1,2 Milliarden Menschen betroffen. «Es handelt sich um die grösste Minderheit auf unserem Planeten», meint Inklusionsaktivist Raùl Krauthausen.
Vor kurzem wurde die so genannten Inklusions-InitiativeExterner Link lanciert. Die Sammlung von Unterschriften hat am 27. April 2023 begonnen. Diese Initiative verlangt «Gleichstellung, Teilhabe, Selbstbestimmung und Assistenz für Menschen mit Behinderungen.» Auf Grund unzähliger Barrieren im Alltag sei dies momentan nicht möglich. Gefordert wird unter anderem, dass alle Menschen mit Behinderungen das Recht auf freie Wohnformen haben.
Für Cyril Mizrahi sind wir dagegen noch Lichtjahre von den Vorgaben in der Agenda 2030 für nachhaltige EntwicklungExterner Link entfernt. Ziel 4 definiert: «Eine inklusive, gleichberechtigte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten lebenslangen Lernens für alle fördern.“ Dieses Ziel müsste bis 2030 erreicht werden – so haben es zumindest die Vereinten Nationen 2015 in Paris beschlossen.
«Es gibt zwar Fortschritte, aber die Chancengleichheit in der Schule ist immer noch nicht für alle gewährleistet, weil Menschen mit Lernschwierigkeiten nicht immer die Unterstützung bekommen, die sie brauchen», bekräftigt Mizrahi.
Und fügt an: «Zudem gibt es noch das Problem von Minderjährigen, die in eine Sonderschule zurückversetzt werden: Das ist die Regel für Kinder mit kognitiven Defiziten oder Verhaltensstörungen, obwohl ihre besonderen Bedürfnisse in einer Regelschule erfüllt werden könnten.»
Modellkanton Tessin
In der Schweiz gibt es 26 Kantone mit ihrer eigenen Geschichte, ihrer eigenen Bildungspolitik und ihren eigenen geografischen Besonderheiten. Trotz interkantonaler Vereinbarungen fördert jeder Kanton die Inklusion und Integration in der obligatorischen Schule auf seine eigene Weise. Die Unterschiede sind daher sehr gross.
So schwankt beispielsweise der Anteil der Schülerinnen und Schüler, die in einer Regelklasse von begleitenden Massnahmen profitieren, zwischen 0,4 und 6,6% zwischen den Kantonen.
Für Cyril Mizrahi setzt das Tessin ein vorbildliches Modell um, dem anderen Kantone folgen sollten. Dank seiner Nähe zu Italien, wo Schüler:innen mit einer Behinderung seit den 1970er Jahren in Regelklassen integriert werden, ist die schulische Integration im Südkanton zwar nicht perfekt, aber im landesweiten Vergleich am weitesten fortgeschritten (Sonderpädagogik-Gesetz des Kantons TessinExterner Link).
«Seit 2011 hat der Kanton Tessin schrittweise sogenannte Integrationsklassen eingeführt», erklärt der Genfer Jurist. «Das sind Klassen mit 16 oder 17 Schülerinnen beziehungsweise Schülern, darunter drei oder vier mit Behinderungen, die über eine reguläre Lehrkraft sowie eine zusätzliche Sonderpädagogin oder einen Sonderpädagogen verfügen.»
Wer aufgrund eines Autismus oder einer kognitiven Beeinträchtigung nicht am Unterricht in einer integrativen Klasse teilnehmen kann, besucht eine Sonderklasse in der Dorf- oder Quartierschule.
Dies ermöglicht die Organisation gemeinsamer ausserschulischer Aktivitäten mit Schüler:innen aus beiden Bildungssystemen und fördert das gegenseitige Verständnis.
Anfang Januar 2023 hat Mizrahi, Mitglied des Grossen Rates des Kantons Genf, einen parlamentarischen VorstossExterner Link zur Änderung des Gesetzes über das öffentliche Schulwesen zugunsten einer «echten Inklusion» eingereicht. Die «Trennung unterschiedlicher Kinder» soll seiner Meinung nach überwunden werden.
«Ich spreche lieber von einem inklusionsorientierten Bildungssystem als von Inklusion», sagt Professorin Pool Maag. Es ist eine Definitionsfrage, die auch den Dachverband der Lehrerinnen und Lehrer Schweiz (LCH) beschäftigt hat. Kürzlich veröffentlichte dieser ein Positionspapier mit dem Titel «Vielfalt braucht Vielfalt».Externer Link
Der LCH sieht die Inklusion als einen Prozess, der neben den besonderen Lernbedürfnissen der Schülerinnen und Schüler auch die zusätzliche Arbeitsbelastung der Lehrpersonen berücksichtigen muss. Diese stünden vor immer grösseren Herausforderungen, insbesondere dem Mangel an adäquat ausgebildetem Fachpersonen.
Der inklusionsorientierte Prozess geht den einen zu langsam, anderen zu schnell. «Die zentrale Herausforderung besteht darin, den Inklusionsgedanken weiterzuentwickeln und gleichzeitig die Ausgrenzung zu minimieren», so Pool Maag. Um dieses Ziel zu erreichen, müssten die Schulen mit mehr Ressourcen ausgestattet werden.
Darüber hinaus müsse die Zusammenarbeit zwischen den Fachkräften gefördert werden, indem neue Strukturen geschaffen würden, die das System und die einzelnen Schüler unterstützen. «Dies würde es ermöglichen, jedes Kind ohne Etikettierung, ohne Stigmatisierung, in einer für die Vielfalt offenen Schule aufzunehmen», sagt die Pädagogik-Professorin.
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