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«Eine Annahme hätte verheerende Auswirkungen»

Labormitarbeiterin
Eine Annahme der Initiative würde die medizinische Sicherheit und den Forschungsstandort Schweiz gefährden, argumentieren die Gegner:innen. © Keystone / Gaetan Bally

Ensar Can erklärt im Interview, weshalb der Wirtschaftsdachverband economiesuisse gegen die Initiative "Ja zum Tier- und Menschenversuchsverbot" ist. Und was deren Annahme für die Schweiz bedeuten würde.

Am 13. Februar stimmt die Schweiz über ein totales Versuchsverbot an Tier und Mensch ab. Würde die Initiative angenommen, wäre die Schweiz weltweit das erste Land mit solch weitreichenden Bestimmungen.

Ensar Can ist Ökonom und arbeitet seit 2016 als Projektleiter für den Wirtschaftsdachverband economiesuisseExterner Link. Er ist unter anderem verantwortlich für innovations- und forschungspolitische Themen.

swissinfo.ch: Herr Can, in der Schweiz werden jährlich 600’000 Tiere für die Forschung eingesetzt. Für die Initiant:innen sind es 600’000 zu viel. Weshalb werden in der Schweiz eigentlich überhaupt so viele Versuchstiere benötigt?

Ensar Can: Aus wissenschaftlicher Sicht sind wir auf Tierversuche angewiesen, so zum Beispiel für die Entwicklung neuer Wirkstoffe und Heilmittel. Die Alternativverfahren, die heute zur Verfügung stehen, sind noch nicht in der Lage, die Komplexität eines lebenden Organismus genau abzubilden. Wenn man unerwünschte systemische Wirkungen oder Nebenwirkungen zuverlässig ausschliessen möchte, ist man heute immer noch auf Tierversuche angewiesen.

Wir sollten uns aber auch die zeitliche Entwicklung anschauen. Seit 1983 konnte die Anzahl der Tierversuche in der Schweiz um über 70% reduziert werden. Dazu wesentlich beigetragen hat auch das Engagement der Wirtschaft. Sie ist seit über 30 Jahren Teil des Kompetenzzentrums 3R und setzt sich für die konsequente Implementierung des 3R-Prinzips in der Industrie ein. Wir unterstützen Bestrebungen und Initiativen, welche die Anzahl der Tierversuche weiter reduzieren wollen.

Der Begriff «3R» steht für Replace (Vermeiden), Reduce (Verringern) und Refine (Verbessern). Damit sollen also Tierversuche ersetzt, insgesamt weniger Tiere eingesetzt und Versuchebedingungen verbessert werden.

Können Sie auf diese Alternativen etwas eingehen?

Es gibt Alternativen, bei denen man mit Simulationsmodellen oder Zellkulturen arbeitet. Gleichzeitig werden neue Methoden entwickelt. Erst im Juni gab die OECD grünes Licht für einen am Wasserforschungsinstitut Eawag entwickelten Toxizitätstest mit gezüchteten Fischzellen. Damit kann auf Tierversuche verzichtet werden, wenn die Umwelttoxizität von Chemikalien bestimmt werden soll. 2019 wurden allein in der Schweiz etwa 8000 Versuche mit Fischen durchgeführt, um die Giftigkeit von Wirkstoffen zu eruieren.

Ensar Can
Ensar Can zVg

Gleichzeitig hat der Bund ein mit 20 Millionen dotiertes Forschungsprojekt lanciert, das die Anzahl der Tierversuche weiter reduzieren wird. Es gibt also zahlreiche Bestrebungen und Initiativen, um alternative Methoden weiterzuentwickeln. Aber zu diesem Zeitpunkt ist es illusorisch zu glauben – und das sagen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler weltweit – dass Tierversuche ersatzlos gestrichen werden könnten, ohne gravierende Auswirkungen auf die Gesundheitsversorgung.

Kritiker:innen behaupten, dass Schweizer Unternehmen zunehmend Tierversuche in Länder auslagern, die weniger strenge Tierschutzbestimmungen kennen. Dadurch werde die Schweizer Statistik beschönigt. Was ist an dieser Aussage dran?

Mir ist nicht bekannt, dass Tierversuche systematisch ins Ausland verlagert werden – die Initiative würde hingegen genau dies bewirken. Schweizer Unternehmen möchten die Versuche in der Schweiz durchführen. Deshalb setzten sie sich auch gegen die Initiative ein und sind Teil des 3R-Kompetenzzentrums. Eine Verlagerung ins Ausland ist weder ein einfaches Vorhaben noch wünschenswert.

Hier haben wir das nötige Fachpersonal und einen starken Tierschutz. Die Schweiz bietet den Unternehmen und den Forschungsinstituten beste Lebensqualität und gute Rahmenbedingungen. Für die anspruchsvolle Forschungstätigkeit braucht es die besten Köpfe, und diese können wir dank unseren Top-Hochschulen bereits hier rekrutieren oder einfacher in die Schweiz holen als in ein anderes Land mit schlechteren Lebensbedingungen.

Die Initiant:innen sagen, Tierversuche erfolgen zu häufig nach einem Trial and Error-Prinzip und seien in der Summe gar nicht so effektiv. Konkret: Dass ein sehr grosser Anteil der Medikamente, die erfolgreich getestet wurden, letztlich nicht für Menschen zugelassen werden.

Die Wissenschaft ist sich einig, dass Tierversuche auch für den Menschen aussagekräftig sind. Es gibt nur sehr vereinzelte, überholte Studien älteren Jahrgangs, die dies in Frage stellen. Es herrscht also ein Konsens unter Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern. Die Gene von Mäusen und Menschen weisen eine Übereinstimmung von über 95% auf.  Organe funktionieren gleich. Man hat im Prinzip das gleiche System.

Dass nicht jeder geprüfte Wirkstoff am Ende beim Patienten landet, ist klar. Müsste man vollständig auf Tierversuche verzichten, könnte man aber keine neuen Medikamente und Wirkstoffe mehr entwickeln – auch nicht für die Tiermedizin.

Die EU hat sich als Fernziel die Einstellung aller Tierversuche gesteckt. Wäre das auch für die Schweiz denkbar?

Wenn wir wissenschaftlich so weit sind, dass wir vollständig auf Tierversuche verzichten können, ohne dabei ein gesundheitliches Risiko einzugehen, dann sollten wir sie natürlich einstellen. Das ist ein wünschenswertes Ziel. Gemäss der Wissenschaft ist das jedoch in den kommenden 10 bis 20 Jahren nicht realistisch. Grundsätzlich teilen wir aber das Anliegen der Initiantinnen und Initianten: Das Tierwohl ist sehr wichtig.

Wir haben in der Schweiz eine sehr strenge Tierschutzgesetzgebung. Versuche dürfen nur dann durchgeführt werden, wenn es keine Alternative gibt. Jeder belastende Tierversuch muss bewilligt werden. Es gibt ein strenges Bewilligungsverfahren mit klaren Kriterien: Der erwartete Nutzen für die Gesellschaft muss überwiegen. Im heutigen System steht die Güterabwägung im Mittelpunkt. Mit der Initiative wäre eine Güterabwägung nicht mehr möglich.

Gemäss Initiative sollen auch Versuche an Menschen verboten werden. Was würde das in der Praxis in der Schweiz bedeuten?

Bevor Wirkstoffe, Heilmittel oder Impfstoffe für die breite Bevölkerung zugelassen werden können, müssen klinische Studien mit Menschen durchgeführt werden. Da die Initiative auch Handel, Einfuhr und Ausfuhr von Produkten, die mittels solcher Versuche im In- und Ausland entwickelt werden, verbietet, wäre die Schweiz vom medizinischen Fortschritt ausgeschlossen.

Es ist wichtig auch zu erwähnen, dass Versuche an Menschen dem Humanforschungsgesetz unterstellt sind und dieses Forschungsfeld zu den am strengsten regulierten und kontrollierten Forschungsfeldern gehört.

Was sind Ihre Ziele im Abstimmungskampf? Die Front gegen die Initiative ist ja ziemlich breit und geschlossen.

Bundesrat, Parlament und sämtliche Parteien sind gegen diese Initiative, die deutlich übers Ziel hinausschiesst. Aber es ist klar, dass es sich um ein emotionales Thema handelt. Es braucht eine Informations- und Aufklärungskampagne, um den Leuten zu erklären, wieso Tier- und Menschenversuche wichtig sind – und was es bedeuten würde, würde die Initiative angenommen.

Wir hätten offensichtlich gravierende Auswirkungen auf den Gesundheitsbereich. Wir wären vom medizinischen Fortschritt ausgeschlossen, es gäbe womöglich einen Schwarzmarkt für Medikamente, die ungeprüft in die Schweiz kämen. Es bestünde auch die Gefahr einer Zweiklassenmedizin: Wenn Behandlungen in der Schweiz nicht mehr möglich sind, werden Besserverdienende sich im Ausland behandeln lassen.

Aber auch für die Veterinärmedizin wäre die Initiative problematisch: Für die Tiere muss man auch Impfstoffe, Medikamente, Antibiotika entwickeln. Auch die Wirtschaft und der Forschungsstandort wären stark betroffen. So gut die Initiative auch gemeint ist: Eine Annahme hätte für die Schweizer Gesellschaft verheerende Auswirkungen.

Renato Werndli vom Pro-Komitee erklärt im Interview die Gründe für die Lancierung der Initiative:

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