Die Schweiz debattiert die Frage: Sind 16-Jährige bereits reif für die Politik?
Junge Schweizerinnen und Schweizer drängen darauf, bereits mit 16 statt erst mit 18 Jahren abstimmen und wählen zu können. Die Debatte läuft in mehreren Kantonen, aber auch in Bundesbern. Reicht das für den Durchbruch?
Michael Pesaballe erinnert sich bestens an den 6. Mai 2007. Es goss wie aus Kübeln auf den Landsgemeindeplatz in Glarus, als der damals 20-jährige Jungsozialist auf den «Bogg» stieg, wie das erhöhte Rednerpult mit Mikrofon heisst. Pesaballe stellte einen Antrag: das aktive Stimm- und Wahlrechtsalter auf 16 Jahre zu senken.
«Ich rechnete ehrlich gesagt nicht damit, eine Mehrheit zu finden», erzählt Pesaballe. Die Debatte im Ring aber sei sehr emotional geführt worden, «plötzlich spürte ich, dass etwas in der Luft lag».
Etwas Historisches. Nach einem laut Pesaballe «mitreissenden Votum» der damaligen Regierungsrätin Marianne Dürst nahm die Landsgemeinde seinen Kompromissantrag knapp an. Das passive Wahlrecht – also das Recht, sich in ein politisches Amt wählen zu lassen – beliess man bei 18 Jahren.
Was steht für sie gerade im Vordergrund? Welches sind ihre grössten Hoffnungen und Ängste? Und wie stellen sie sich zum politischen Mitspracherecht ab 16? – Die «Schweizer Revue» befragte dazu sechzehn 16-Jährige. Dabei entsteht das Bild einer Generation, die durchaus der Meinung ist, politische Entscheide prägten ihre Zukunft.
Zürich dafür, Bern dagegen
1971 führte die Schweiz nach langem Kampf das Frauenstimmrecht ein, 1991 senkte sie das Stimmrechtsalter von 20 auf 18 Jahre. Das Stimmrecht für niedergelassene Ausländerinnen und Ausländer gilt nur in wenigen Gemeinden und Kantonen, Stimmrechtsalter 16 bloss in Glarus. Die Schweiz ist bereit, immer wieder neu auszuhandeln, wer an der Demokratie teilhaben darf. Doch dafür braucht sie stets viel Zeit.
Für Stimmrechtsalter 16 ist es aufschlussreich, den Blick auf die beiden bevölkerungsreichsten Kantone, Bern und Zürich, zu richten. Die Zürcher Regierung ist dafür, die Berner Regierung ist dagegen. Ihre Begründungen gehen weit auseinander. Die befürwortende Zürcher Kantonsregierung betont die aus dem Gleichgewicht geratene «Generationenbalance» in der schweizerischen Politik.
Das Medianalter der Abstimmenden (Medianalter: 50% der Stimmenden liegen altermässig darüber, 50% darunter, die SWI-Red.) liegt derzeit bei 57 Jahren. Gemäss Berechnungen des liberalen Thinktanks Avenir Suisse steigt es bis 2035 deutlich über 60 Jahre.
Mit anderen Worten: Der Einfluss der über 60-Jährigen wächst angesichts der gestiegenen Lebenserwartung ständig. Bald ist er bei Volksentscheidungen gleich gross wie derjenige aller unter 60-Jährigen.
Mehr
Was das Stimmrechtsalter 16 politisch mit sich bringt
Mehr
Junge an die Urne? Zeit für eine neue Perspektive
Mehr
Stimmrechtsalter 16: Parat vs. nicht bereit
Mehr
Die heimliche Revolution in den Glarner Alpen
Mehr
Stimm- und Wahlrechtsalt 16 Jahre für die Schweiz!
Mehr
Videoclips als Jungbrunnen für direkte Demokratie
Das spricht aus Sicht des Zürcher Regierungsrats ebenso für eine Verjüngungskur der Stimmberechtigten wie die Pflege des direktdemokratischen Nachwuchses: Beziehe man Jugendliche sofort nach der obligatorischen Schulzeit, wenn der Staatskundeunterricht noch frisch in den Köpfen ist, in politische Entscheidungen ein, erhöhe dies die Wahrscheinlichkeit, dass sie langfristig die Gewohnheit entwickeln, zu wählen und abzustimmen.
Die Frage der Mündigkeit
Die ablehnende Berner Kantonsregierung hingegen legt ihr Augenmerk auf das Auseinanderklaffen von ziviler und politischer Mündigkeit. Erst mit 18 darf man rechtskräftige Unterschriften unter Verträge setzen. Würde Stimmrechtsalter 16 eingeführt, hiesse das: Referenden und Initiativen darf man zwar nicht unterschreiben, über sie abstimmen aber schon.
Ebenso müsste das aktive und passive Wahlrecht auseinanderdividiert werden: Wählen dürfte man, für ein Amt kandidieren erst zwei Jahre später.
Diese Argumentation sei «eine Nebelpetarde, die verhindert, dass wir ein System schaffen, das tatsächlich auf junge Menschen zugeschnitten ist», sagt der 21-jährige Philippe Kramer von der politisch unabhängigen Interessengruppe Stimmrechtsalter 16. Der von den Gegnern vorgebrachte Begriff der Mündigkeit sei veraltet, findet Kramer. Entscheidend sei die Urteilsfähigkeit – also das Vermögen, die Folgen einer Stimmabgabe logisch abzuschätzen.
«Das können 16-Jährige ohne Zweifel.» Philippe Kramer, Interessengruppe Stimmrechtsalter 16
Das sogenannte «kalte Denken», die Fähigkeit, in Ruhe ohne Zeitdruck und Beeinflussung aus dem Freundeskreis Entscheidungen zu fällen, sei mit 16 voll entwickelt, sagt er mit Verweis auf Psychologen.
Tauchen auf Instagram
Allerdings stellt sich die Frage, wo sich die junge Generation das Wissen holt um abzustimmen. 70 Prozent der 15- bis 25-Jährigen informieren sich laut einer Umfrage höchstens einmal die Woche über das politische Geschehen.
Aber: Es gibt Initiativen, die Gegensteuer geben. Die Organisation Easyvote bemüht sich mit Videoclips und Broschüren zu Abstimmungen und Wahlen seit Jahren um niederschwellige Information.
Mehr
Newsletter
Und seit wenigen Monaten online ist ein Kollektiv junger Journalistinnen und Journalisten mit dem Projekt @tauch.stationExterner Link. Sie arbeiten dezidiert mit den sozialen Medien. «@tauch.station» recherchiert politische Themen und bereitet sie für den bei Jugendlichen besonders beliebten, bilderlastigen Social-Media-Kanal Instagram auf.
Es sei nicht so, dass Jugendliche per se desinteressiert an Politik seien. Aber «Demokratie heisst in unseren Augen auch Zugänglichkeit», sagt die 29-jährige Mitgründerin Alice Grosjean. Vor allem in der Online-Welt, in der Jugendliche oft unterwegs sind, seien politische Themen zu wenig präsent. Oder zu kompliziert dargestellt. Dagegen tritt «@tauch.station» an.
Man könnte sagen: Die junge Generation ist bereit für Stimmrechtsalter 16. Die erwachsenen Stimmberechtigten müssen es noch werden.
Dieser Beitrag erschien erstmals in der Schweizer Revue vom 5. August 2021Externer Link.
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch