Schweizer Stimmvolk will Richter:innen nicht auslosen
Die Justiz-Initiative scheitert an der Urne. Damit werden Richter:innen des Bundesgerichts weiterhin vom Parlament gewählt und nicht durch das Los bestimmt.
In einer nationalen Volksabstimmung haben 68,1 Prozent Nein zur Justiz-Initiative gesagt. In keinem einzigen Kanton konnte sich eine Mehrheit für die Zufallswahl von Richter:innen erwärmen.
Die Stimmbeteiligung war mit 64,8 Prozent sehr hoch – wohl wegen der anderen Vorlagen, die gleichzeitig zur Abstimmung kamen und stark mobilisierten (Covid-Gesetz und Pflegeinitiative).
Das Ergebnis überrascht nicht: Regierung, Parlament und die grössten acht Parteien hatten ein Nein empfohlen. Auch Umfragen liessen auf eine Ablehnung deuten.
Erste Reaktionen
Die Initiant:innen kündigten an, die Abstimmung wiederholen zu wollen.
Adrian Gasser erklärt im Video, warum wir die Justiz-Initiative wiederholen werden. pic.twitter.com/GRiT1dKMHUExterner Link
— Justiz-Initiative (@justiz_schweiz) November 28, 2021Externer Link
Peter Diggelmann, ehemaliger Bundesrichter und Befürworter der Initiative, bemängelt gegenüber SRF, dass bei der Diskussion um das Losverfahren die eigentlichen Probleme des jetzigen Verfahrens zu kurz gekommen seien. Besonders die umstrittene Mandatssteuer solle zur Diskussion gestellt werden.
Sibel Arslan, Grüne Nationalrätin und Gegnerin der Vorlage erwiderte, dass die Diskussion über das Verfahren am Laufen sei. Man habe jedoch auf einen Gegenvorschlag verzichtet. Man nehme die Bedenken zur Mandatssteuer ernst, auch das gesamte Wiederwahlverfahren, zum Beispiel die Amtsdauer, werde man unter die Lupe nehmen.
Das erfreuliche Nein zur #JustizinitiativeExterner Link bestätigt das grundsätzliche Vertrauen der Bevölkerung in Justiz & Demokratie. Trotzdem bedarf es Verbesserungen, um die Richter*innen und ihre Unabhängigkeit zu stärken und die Wiederwahl der Richter*innen zu entpolitisieren.
— GRÜNE Schweiz (@GrueneCH) November 28, 2021Externer Link
Andrea Caroni, Ständerat (FDP/AR) und Präsident der Gerichtskommission, zeigte sich gegenüber SRF erleichtert über das Nein. Er freute sich über das Vertrauen des Volks für die Gerichte und das Parlament. Die Gewaltentrennung funktioniere mit dem jetzigen System.
Anderer Meinung ist Anwalt Philip Stolkin, ein Befürworter der Initiative. Er wies darauf hin, dass Bundesrichterinnen und Bundesrichter zu abhängig von den Parteien seien. Sämtliche 38 Mitglieder des Bundesgerichts seien in einer Partei.
Heidi Zgraggen, Mitte-Ständerätin (UR), verteidigt gegenüber SRF das System und zeigt sich erleichtert über das Resultat. Das Verfahren sei demokratisch legitimiert. Die Richterinnen und Richter würden so das Wahlvolk abbilden.
Die Ablehnung der Justizinitiative zeigt nach den Worten des Neuenburger FDP-Ständerats Philippe Bauer das Vertrauen der Bevölkerung ins Parlament bei Richterwahlen. Die Justiz funktioniere, die Richter würden nach einer Reihe von Kriterien gewählt, die repräsentativ für die Gesellschaft seien, sagte Bauer der Nachrichtenagentur Keystone-SDA. Er räumte jedoch ein, dass die Frage der Parteimitgliedschaft von Richterinnen und Richter das Parlament auch künftig noch beschäftigen könnte.
Das sagen die Medien
Der Tages-AnzeigerExterner Link kommentiert, der Initiant Adrian Gasser habe dem Land mit seiner Justiz-Initiative eine wichtige Debatte geschenkt. Die Befürworter hätten gute Argumente gehabt: «Das Schweizer Wahlsystem für Gerichte ist ungenügend.» Nach dem Scheitern der Justiz-Initiative müssten Schweizer Gerichte anders «entklüngelt» werden. Es brauche ein Wahlsystem, bei dem alle Qualifizierten eine Chance hätten – insbesondere parteiunabhängige. Und die richterlichen Abgaben an die Parteien sollten verboten werden.
Die NZZExterner Link hingegen begrüsst das Verdikt. Man könne im Nein von Volk und Ständen zur Justiz-Initiative einen Vertrauensbeweis gegenüber demokratischen Wahlverfahren sehen. Auch sei es eine Absage an eine elitäre Expertokratie, so die Traditionszeitung. «Eine frei schwebende Richterkaste, die sich gegenüber niemandem rechtfertigen müsste, würde nicht zum schweizerischen Staatsverständnis passen.»
Nach dem Nein zur #JustizinitiativeExterner Link braucht es Reformen: Abschaffung der Mandatssteuer und feste Amtsdauer für Bundesrichter:innen. Schafft das das Parlament oder braucht es eine neue Initiative? https://t.co/LijUMCNX7UExterner Link
— Dominique Strebel (@dostrebel) November 28, 2021Externer Link
Gemäss Dominik Strebel, Chefredaktor des Beobachters, ist das jetzige Bundesgericht eine Blackbox. Das «Parteibüechli» beeinflusse die Entscheidungen. Mandatssteuer und Wiederwahl würden den Anschein von Befangenheit erzeugen – und der Anschein alleine sorge für Unbehagen.
Regierung ist zufrieden
Der Bundesrat zeigte sich erfreut über das Abstimmungsergebnis. Laut Justizministerin Karin Keller-Sutter bleibt damit die verfassungsmässige Ordnung von 1848 bestehen und damit auch die demokratische Legitimation der Bundesrichterinnen und Bundesrichter. «Das Vertrauen in Bundesgericht und Parlament ist hoch», interpretierte die Bundesrätin das Verdikt. Das bedeute aber nicht, dass das heutige System perfekt sei. Die politischen Diskussionen gingen weiter, so Keller-Sutter, die insbesondere einen allfälligen Fachbeirat zur Unterstützung der Gerichtskommission sowie die Abschaffung der Mandatssteuer erwähnte.
#AbstimmungExterner Link vom 28. November 2021: Bundesrätin Karin Keller-Sutter zur Justiz-Initiative. (BK) @EJPD_DFJP_DFGPExterner Link #chvoteExterner Link #abst21Externer Link pic.twitter.com/xM6CgVYteGExterner Link
— André Simonazzi (@BR_Sprecher) November 28, 2021Externer Link
Die Justiz-Initiative wird mit grosser Mehrheit abgelehnt. Damit bleibt grundsätzlich alles beim Alten: Weiterhin wählt das Parlament alle sechs Jahre die Bundesrichterinnen und -richter. Wahlvorschläge macht die Gerichtskommission der Räte. In den Augen der Initianten und Initiantinnen beeinträchtigt dieses Wahlverfahren die richterliche Unabhängigkeit.
Mit der Volksinitiative «Bestimmung der Bundesrichterinnen und Bundesrichter im Losverfahren (Justizinitiative)» hätten sie darum ein neues Wahlverfahren per Los einführen wollen. Wer an der Auslosung teilnehmen darf, hätte eine unabhängige Fachkommission entscheiden müssen.
Die vom Bundesrat eingesetzte Kommission hätte Personen auswählen müssen, die sich fachlich und persönlich für das Richteramt eignen. Die Amtssprachen sollten gemäss Initiativtext angemessen vertreten sein. Weitere Vorgaben zum Verfahren wären erst auf Gesetzesebene bestimmt worden.
Dies ging den meisten zu weit. Gegen die Initiative hatten sich Bundesrat, Parlament und die Kantone ausgesprochen sowie sämtliche Parteien ausser der Piratenpartei. In den letzten Abstimmungsumfragen von Tamedia und gfs.bern im Auftrag der SRG hatten 37 respektive 41 Prozent die Initiative unterstützt.
Trotz des Neins zur Initiative zeichnet sich allerdings ab, dass das Wahlverfahren für Bundesrichter einer sanften Reform unterzogen wird. Die Rechtskommission des Ständerats will, dass die Gerichtskommission zur Begleitung ihrer Auswahlverfahren künftig einen Fachbeirat einsetzen und beiziehen kann. Mit der entsprechenden parlamentarischen Initiative befasst sich als nächstes die Nationalratskommission.
Zudem hat die parlamentarische Gerichtskommission kürzlich beschlossen, die bisherige Praxis zu überprüfen und neu allenfalls auch Parteilose als Bundesrichterinnen oder -richter zu nominieren. Und theoretisch könnte dieses Gremium beispielsweise auch ohne Gesetzesänderungen Korrekturen im Hinblick auf die Mandatssteuer vornehmen. Diese ist freiwillig und nicht gesetzlich geregelt.
Quelle: SDA
Angesichts der anderen Abstimmungsvorlagen ging die Justiz-Initiative fast etwas unter. Abgestimmt wurde heute auch über das umstrittene Covid-Zertifikat und die Pflegeinitiative:
Mehr
Deutliches Ja in der Abstimmung zum Covid-Gesetz
Mehr
Ja zur Pflegeinitiative: Die Schweiz fällt einen historischen Entscheid
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch