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Jung, europäisch, verkatert

Eu-Brille
AFP

Was denken die pro-europäischen Kräfte in der Schweiz über das Ende des Rahmenabkommens? Ein Gespräch mit zwei jungen Erwachsenen, die den Kopf nicht hängen lassen wollen.

Wenige Themen polarisieren in der Schweiz so stark wie das Verhältnis zur EU. Das zeigte sich während den jahrelangen innenpolitischen Streitigkeiten rund ums Rahmenabkommen, und es zeigt sich weiterhin selbst nach dessen Ende, das die schweizerische Regierung am 26. Mai verkündete.

Ob dieser Tag als «schwarzer Mittwoch» – in Anlehnung an den «schwarzen Sonntag», als die schweizerische Stimmbevölkerung 1992 den EWR-Beitritt ablehnte – in die Geschichte eingehen wird, wird sich noch zeigen. Die Schweiz übt sich in diplomatischer Schadensbegrenzung, aus Brüssel kamen erste Warnungen.

Was sind nun die Optionen? Einen valablen Plan B habe die Schweizer Regierung nicht vorlegen können, so die einhellige Kritik in den Medien. Zufrieden ist nur die rechtskonservative SVP, die sich ohnehin einem isolationistischen Kurs verschrieben hat. Aus der politischen Gegenseite ertönt es naturgemäss anders; nun müssten zwei Optionen (wieder) auf den Tisch: Der Beitritt zum EWR – oder gleich der Beitritt in die EU.

Am lautesten fordert dies die Europäische Bewegung Schweiz und mit ihnen ihre Jugendorganisation Young European Swiss (YES). Wir treffen die Präsidentin Cécile Kessler und das Vorstandsmitglied Marc Sinner kurz nach der Ankündigung des Bundesrats in den Büros der Bewegung – es herrscht Katerstimmung.

Die YES ist Teil der Europäischen Bewegung SchweizExterner Link, ehemals Neue Europäische Bewegung Schweiz (NEBS) genannt. Alle Mitglieder unter 35 Jahren sind automatisch dabei, im Moment sind es rund 250. Sie bezeichnet sich als «einzige pro-europäische Stimme der Schweizer Jugend» und legt ihren Schwerpunkt in der politischen Bildung. Im Fokus steht die EU und das Verhältnis der Schweiz zu ihr.

Die YES ist die Schweizer Sektion des transnationalen Jugendverbands Junge Europäische FöderalistenExterner Link. Sie stehen insbesondere in der Region Oberrhein mit ihren Pendants aus den französischen und deutschen Grenzregionen in engem Austausch.

«Es ist ein schlimmer Tag», sagt Kessler. Für die Präsidentin ist klar: Die schweizerische Jugend verliere den Zugang zu europäischen Bildungsangeboten, Karrierechancen in der EU würden schwinden, ebenso Perspektiven für die Zukunft. «Von nun an herrscht das Prinzip Hoffnung.» Hoffnung, dass die EU die Hand ausstrecke. Das bedeutet so viel wie: Die Schweiz wird zur Bittstellerin.

Sinner findet deutlichere Worte: «Ich bin verärgert, dass der Bundesrat ein gutes Abkommen derart gegen die Wand fährt.» Es sei demokratiepolitisch extrem fragwürdig, dass die Bevölkerung bei so einem wichtigen Geschäft einfach vor vollendete Tatsachen gestellt werde.

Die Fehler seien zwar bereits früher gemacht worden, da sind sich beide einig. Man habe sich hinter Wunschvorstellungen versteckt, dem Volk keinen reinen Wein eingeschenkt – zudem sei in den letzten zwei Jahren ununterbrochen auf das Abkommen eingedroschen, die EU als Feindbild hochstilisiert worden.

Dabei habe die Schweiz gut verhandelt, ist sich Sinner sicher. Man habe der EU viele Konzessionen abgerungen. Und: Gemäss Umfragen hätte das Rahmenabkommen bei der Bevölkerung durchaus intakte Chancen gehabt. «Wenn der Bundesrat behauptet, das Abkommen wäre nicht mehrheitsfähig gewesen, ist das schlicht falsch», so Sinner.

«Nicht binnenmarktfähig»

Wie weiter also? Kessler und Sinner gehen davon aus, dass kurzfristig nicht viel passieren wird. «Die Schweiz steht in Brüssel nicht zuoberst auf der Agenda», so Sinner. Damit fliege man unter dem Radar, was mitunter positiv war. Aber mit der einseitigen Beendigung des Abkommens habe das Verständnis in der EU – und, fast noch wichtiger: in den europäischen Hauptstädten – für die Schweiz abgenommen. Das Signal sei fatal: Die Schweiz sei nicht binnenmarktfähig.

Laut Kessler wird man bald grundsätzliche Fragen beantworten müssen: Wie wird die Kooperation der Schweiz mit der EU in Bildungs- und Forschungsfragen künftig aussehen? Wie kann der Jugend-Austausch vernünftig gestaltet werden? Das Gezerre um das Forschungsprogramm Horizon Europe und die mögliche Nicht-Teilnahme der Schweiz daran, könnten ein erster Vorgeschmack sein.

Letztlich gibt es für beide nur eine Richtung: Näher an die EU. «Die Europäische Bewegung hat das statuarische Ziel, die Schweiz in die EU zu führen», so Sinner. Wie das gemacht werden soll, darüber gibt es unterschiedliche Meinungen. Manche möchten das möglichst schnell, andere bevorzugen eine etappenweise Annäherung.

Ein Blick zurück ins entfernte 1992 ist aufschlussreich. Die Abstimmung über den Beitritt zum EWR, den ein Bundesrat damals als «Trainingslager» auf dem Weg zur EU bezeichnete, war ein Debakel für die Regierung. Das EWR-Nein war aber der Startschuss in den bilateralen Weg. Dieser gewährleistete eine sehr enge Anbindung an die EU – und war stets das beste Argument gegen einen Beitritt. Mit dem Erodieren dieses Weges, wie ihn Brüssel in Aussicht stellt, steht nun die ganze Gleichung auf dem Kopf. Noch sind nicht einmal die neuen Parameter bekannt.

Der Plan B ist bereit

Die beiden jungen Schweizer Europäer kennen nichts anderes als die ständig enger werdende Beziehung zur EU. Beide sind Doppelbürger – Kessler hat den französischen Pass, Sinner ist gebürtiger Luxemburger – so wie weitere 20% der schweizerischen Bevölkerung. Das in Teilen der schweizerischen Öffentlichkeit vorherrschende Bild der EU als Feindbild ist ihnen fremd.

Es sei Zeit, generelle Überlegungen anzustellen, sagt Kessler und fragt: «Wo will die Schweiz eigentlich hin? Die Parteien, die Verbände?» Es ist keine rhetorische Frage. «Wir wissen, wo wir hinwollen.» Damit sind sie in der komfortablen Lage, einen Plan B zu haben – als beinahe einzige, ironischerweise zusammen mit den Kontrahenten der SVP.

Der Schweiz mangle es an Weitblick und klaren aussenpolitischen Zielen, glaubt auch Sinner. Er erwähnt das Beispiel von Luxemburg, quasi als Antithese zur Schweiz: Der Kleinstaat habe sich nach der schmerzlichen Erfahrung zweier Weltkriege entschieden, voll auf den multilateralen Weg einzuschwenken, um seine Souveränität zu sichern. «Natürlich kann man die zwei Länder nicht nicht in allen Belangen vergleichen.» Man solle sich aber vergegenwärtigen, dass es immer auch anders ginge.

Was schwebt ihnen also konkret vor? Sie wissen, ein allzu forsches Drängen hin zur EU könnte das Gegenteil, noch mehr Ablehnung, bewirken. Aber man müsse die EU-Freundlichkeit in der Schweiz auch nicht totschweigen. Umfragen der letzten zehn Jahre zeigen, dass 10-20% der Bevölkerung einen EU-Beitritt befürworte. Beim EWR sei das um die 40-50% gewesen, sagt Sinner. «Nach 30 Jahren etwa nochmals die Frage nach einem EWR-Beitritt aufzuwerfen, ist durchaus legitim.» Und nach dem Tod des Rahmenabkommens sei ohnehin wieder alles anders.

Politik braucht – zumal in der Schweiz – einen langen Atem. Das wissen die Befürworter eines Schweizer EU-Beitritts zur Genüge. Aber wer weiss: vielleicht geht es plötzlich schneller als gedacht. Die Europäische Bewegung Schweiz überlegt sich jedenfalls, eine Volksinitiative zu lancieren, um die «europäische Integration der Schweiz zu bewahren».

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