Die Tatkraft der EU verblüfft – besonders die gelähmte Schweiz
Der Ukraine-Krieg lässt den Kontinent enger zusammenrücken. Doch die Schweiz muss ihre künftige Rolle in Europa erst noch finden. Und alle Zeichen sagen: Bis es soweit ist, könnte es zu lange dauern. Eine Analyse.
Während man in der Schweiz die Europäische Union noch immer gern als Wirtschaftsraum bezeichnet, ist diese längst zur Wertegemeinschaft herangewachsen. Und jetzt merkt die Schweiz: Der Krieg in der Ukraine hat die EU gar zum geopolitischen Akteur gemacht. Die Sanktionen gegenüber Russland übersteigen die ökonomische Summe der einzelnen Massnahmen. Der Kreml bezeichnet sie als «Wirtschaftskrieg».
Die Pandemie brachte der EU einen Integrationsschub, wirtschaftlich wie logistisch. Nun folgt der Bündnisschub in den Bereichen Verteidigung, Energie und Aussenpolitik. Nach innen konsolidiert, tritt das Staatengefüge nach aussen verblüffend wendig und entschlossen auf – und damit erstmals richtig mächtig. Das ist attraktiv: Mit der Ukraine, Georgien und Moldawien haben gleich drei neue Länder ein Beitrittsgesuch an die Union gestellt. Die EU verspricht nicht mehr nur Wohlstand, sondern neuerdings auch Sicherheit.
Zwischen Wohlwollen und Erwartung
Was bedeutet das für die Beziehung zwischen der Schweiz und der Europäischen Union? Sicher dies: Der Schweiz präsentiert sich ein neues Gegenüber. Aber auch eine neue Grosswetterlage, denn trotz Neutralität ist ihr wieder ins Bewusstsein gedrungen, wie klar sie letztlich im Westen eingebunden ist – politisch, wirtschaftlich und hinsichtlich ihrer Werte.
Selbst militärisch schmiegt sich das Land durch Sicherheitspartnerschaften an die Nato an und die EU. Demgegenüber aber steht der Frost, der über den Beziehungen liegt, seit die Schweiz im Mai 2021 die Verhandlungen über das institutionelle Rahmenabkommen einseitig abgebrochen hat. In Brüssel war man sichtlich verstimmt.
Als Belohnung ein kurzes Telefonat
Praktisch zeitgleich mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine hat die Schweiz nun neue Gespräche initiiert. Dass sie die Sanktionen der EU übernahm, wurde in Brüssel durchaus registriert – jedoch auch als Selbstverständlichkeit erwartet. Ihr Einreihen in die europäische Sanktionskaskade brachte der Schweiz immerhin ein 15-minütiges Telefonat auf höchster Ebene: Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen nahm sich Zeit für Bundespräsident Ignazio Cassis. Zuvor stand der Schweiz nicht einmal mehr der EU-Unterhändler Maros Sefcovic zur Verfügung.
Danke @vonderleyenExterner Link für das wichtige Gespräch über die Situation in der #UkraineExterner Link. Europa muss jetzt zusammenstehen! Es braucht rasche und unkomplizierte Hilfe für die Menschen, die vor dem Krieg Schutz suchen. pic.twitter.com/LBwtWlWak9Externer Link
— Ignazio Cassis (@ignaziocassis) March 4, 2022Externer Link
Ob sich das in Vorteile für künftige Verhandlungen ummünzen lässt, bleibt fraglich. Roland Fischer ist Nationalrat der grünliberalen Partei. Er erwartet, dass der Krieg in der Ukraine den Prozess einer Wiederannäherung Berns an Brüssel verlangsamt. «Die EU hat im Moment andere Prioritäten.» Dennoch sieht er eine Chance, denn ein gutes Einvernehmen sei mehr denn je im Sinn von beiden Seiten.
«Moment für den Neuanfang»
Auch Christian Wasserfallen, Nationalrat der Freisinnigen, sieht das ähnlich: «Angesichts der russischen Aggression gibt es im Westen ein vitales Interesse, die Reihen zu schliessen.» Europa sei auf verschiedenen Ebenen herausgefordert, es sei darum an der Zeit, dass die EU die «Sandkastenspiele» mit der Schweiz beende. «Das ist eigentlich der Moment für einen Neuanfang in unseren Beziehungen», glaubt Wasserfallen gar.
Dabei müsse sich aber auch die Schweiz konstruktiv einbringen. Der liberale Politiker verweist auf eine anstehende Volksabstimmung über die Finanzierung der europäischen Grenzschutz-Behörde Frontex. «Ein Nein wäre zu diesem Zeitpunkt ein fatales Signal», sagt er.
Über allem liegt dazu ein grundlegendes Dilemma: Die EU will mit der Schweiz zweifellos gute Beziehungen pflegen. Sie wird sich jedoch hüten, der Schweiz ein zu vorteilhaftes Paket anzubieten – und damit innerhalb der Union Begehrlichkeiten zu wecken. Die hart geführten Brexit-Verhandlungen und die Querelen mit Polen und Ungarn sind für Bern Anschauungsbeispiele für das gewachsene Selbstbewusstsein der EU-Kommission.
Einstiges Bürokratenmonster
Inhaltlich liegen die Vorstellungen nach wie vor weit voneinander entfernt. Die Schweiz möchte am liebsten ein neues bilaterales Paket abschliessen und den Zugang zum Binnenmarkt sektoriell regeln. Die EU wiederholt dabei ständig, dass es eine dynamische Rechtsangleichung und einen juristischen Mechanismus zur Streitbeilegung geben muss.
In Zeiten von Krieg und Zerstörung scheinen solche formellen und technischen Fragen hüben wie drüben zwar seltsam deplatziert, aber gerade bei der EU fällt auf, dass aus dem einstigen Bürokratenmonster längst ein agiler Akteur mit kurzen Entscheidungswegen geworden ist.
Bern ist, was Brüssel war
Die EU zeigt sich angesichts des Ukraine-Krieges weit handlungsfähiger und besser vorbereitet als die Schweiz. Sie scheint besser geführt und straffer organisiert. Das bringt ihr nicht nur einen Zuwachs an Macht – sondern auch an Souveränität. Und letztere ist der zentrale Punkt im bilateralen Verhältnis zwischen Bern und Brüssel.
Das Lavieren der Schweiz hingegen sorgt – zumindest im Inland – zunehmend für Irritationen. Das Schweizer Modell erweist sich einmal mehr als bedingt krisentauglich. Was viele Schweizer:innen jederzeit gerne Brüssel vorwarfen, sehen Sie nun in Bern aufgeführt: Paragrafenreiterei und lähmender Föderalismus, eine wasserkopfähnliche Verwaltung, die sich selbst aus dem Gefecht nimmt und ein Gebilde, das als Wirtschaftsunion zwar funktionieren mag, politisch aber kaum etwas zu stemmen vermag.
Die pro-europäischen Kräfte in der Schweiz spüren nun Rückenwind. Seit Monaten setzen Parlamentarier:innen und zivilgesellschaftliche Organisation die Regierung unter Druck, die Verhandlungen mit der EU voranzutreiben – mit Kriegsbeginn haben sich solche Impulse im Parlament gemehrt.
Der EWR als neue Option?
Einen Beitritt zur EU befürwortet dort zwar weiterhin nur eine kleine Minderheit. Dafür ist die Idee eines EWR-Beitritts wieder auf das Tapet gekommen, nachdem die Freihandelszone nach einer abgelehnten Beitrittsinitiative in den 1990er-Jahren vergessen ging. Der grünliberale Nationalrat Roland Fischer hat im Parlament ein PostulatExterner Link eingebracht, dass den Bundesrat mit der Prüfung einer EWR-Mitgliedschaft beauftragt.
Galt der EWR früher als Übergangslösung hin zu einer Vollmitgliedschaft, so habe sich der Wirtschaftsraum heute etabliert. «Diese Option sollte deshalb ebenfalls diskutiert werden», sagt Fischer. Der Moment sei günstig, die Zustimmungsraten seien hoch. Ein Revival könnte der EWR zudem im Westbalkan erleben, als Alternative zur stockenden EU-Erweiterung und als Gegenmodell zur russischen Einflussnahme, die als destabilisierend gesehen wird.
Im Parlament werden auch andere Ideen diskutiert, etwa punktuelle Assoziierungen mit der EU, ähnlich der Schengen-Teilnahme. Auch wurde von Mitte-Präsident Gerhard Pfister die Diskussion eröffnet, wie die Schweiz ihre Flieger in eine europäische Verteidigungsstrategie einbringen könnte – dies angesichts des geplanten Kaufs amerikanischer F-35 Kampfjets.
Von wegen «hirntot»: Nachdem lange die Existenzberechtigung des Militärbündnisses Nato in Frage gestellt wurde, kam es zu einer beinahe augenblicklichen Reanimation. Während die amerikanischen Nachrichtendienste eindringlich vor einer Invasion warnten, wurden die Europäer auf dem falschen Fuss erwischt.
Viele Staaten haben nun angekündigt, ihre Militärausgaben auf den Zielwert von 2% ihres BIP anzuheben. Im bündnisfreien Finnland und im neutralen Schweden werden ein Nato-Beitritt diskutiert, was noch bis vor dem russischen Angriff auf die Ukraine kein Thema war. Dass zudem Schweden wie viele andere europäische Staaten Waffen in die Ukraine geliefert hat, zeigt, wie stark sich die Sicherheitspolitik auf dem Kontinent verändert hat – und wie schnell Tabus fallen können.
Ein Nato-Beitritt komme für die Schweiz nicht in Frage, sagt der FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen. «Aber es gibt andere Ebenen der Kooperation, etwa im Rahmen der OSZE.» Zudem könne er sich vorstellen, dass sich die Schweiz dereinst in der Ukraine mit einem UNO-Mandat an friedenserhaltende Missionen beteilige, analog dem jetzigen Engagement im Kosovo. Auch für FDP-Parteipräsident Thierry Burkart ist klar: Die Schweiz soll näher an die Nato rücken.
Ist die Schweiz auf dem Weg in einen europäischen Sicherheitsverbund? Lesen Sie hier mehr dazu.
Nicht alle sind jedoch mit einer Annäherung einverstanden: Die nationalkonservative SVP, deren einzelne Exponenten die russische Invasion relativiert und die Sanktionen gegen Russland kritisiert haben, hat eine Initiative angekündigt, die welche helvetische Neutralität in der Verfassung stärken will. Das Ziel: Den Sonderweg der Schweiz zu zementieren.
Es zeichnet sich ab, dass die europäische Nachkriegsordnung auf eine West-Ost-Rivalität hinausläuft, auf eine Neuauflage des Kalten Krieges. Die europäische Integration befindet sich heute jedoch auf einem komplett anderen Niveau und beinhaltet weit mehr als nur ökonomische Fragen. Die Debatte, wie die Schweiz sich darin positionieren soll, ist gerade erst gestartet.
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