«Die Schweizer Europa-Debatte ist das Opfer eines Mythos»
Heute wird ein Entscheid des Bundesrates erwartet, wie es mit der EU weitergehen soll. Bislang hat die Schweiz nach dem Scheitern des Rahmenabkommens auf Zeit gespielt. Europa-Experte Gilbert Casasus sieht die Gründe dafür in der Reduit-Mentalität, der Schweizer Tendenz sich in Krisen einzuigeln.
Gilbert Casasus, Professor für Europastudien an der Universität Freiburg, bezeichnet sich als «kritischen Pro-Europäer». Will heissen: Die EU macht zwar Fehler, aber es führt für die Schweiz kein Weg an ihr vorbei. Der schweizerisch-französische Doppelbürger, der 13 Jahre in Deutschland gelebt hat und perfekt zweisprachig ist, ärgert sich über die aktuelle Europa-Politik der Schweiz.
swissinfo.ch: Herr Casasus, was stört Sie an der schweizerischen Europa-Debatte?
Gilbert Casasus: Die Europa-Debatte der Schweiz ist Opfer eines Mythos: der Reduit-Mentalität. Wir glauben immer noch, in einem abgetrennten Alpengebiet zu leben und uns dort verschanzen zu können. Die Reduit-Mentalität hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg, also seit fast 80 Jahren, in der Schweiz verfestigt und verhindert seither, dass wir uns öffnen – gerade auch gegenüber Europa.
Europa entwickelt sich: 1995 hatte die EU 15 Mitglieder, heute sind es 27. Und die Schweizer verhalten sich wie Personen, die auf dem Zugperron stehen und gucken, wie der Zug vorbeifährt, aber keine Möglichkeit haben, in den Zug einzusteigen.
>> Gilbert Casasus führt aus, was er unter der Reduit-Mentaliät versteht:
Sie ärgern sich besonders über die Europa-Wissenschaft in der Deutschschweiz. Gibt es also Unterschiede zwischen den Landesteilen?
Ich stelle Unterschiede fest zwischen der Romandie und der Deutschschweiz. Die Europa-Thematik ist in der Westschweiz um einiges populärer als in der deutschsprachigen Schweiz. Die Nähe zu gewissen Ländern spielt dabei eine Rolle. Dieser Unterschied spiegelt sich auch in der Qualität der schweizerischen Europastudien wider.
Sie sagen: Je mehr Ausländer:innen, desto reicher ist ein EU-Mitgliedstaat. Verwechseln Sie da nicht Ursache und Wirkung? Je reicher ein Land, desto mehr Ausländer:innen wollen kommen.
Beides ist richtig. Und das ist auch gut so. Ich lebe lieber in der Schweiz, die nicht ein EU-Land ist, als in Rumänien, das ein EU-Land ist.
Andererseits zeigt die Geschichte der Schweiz, die bis 1860 ein klassisches Auswanderungsland war und erst später ein Einwanderungsland: Ausländerinnen und Ausländer sind eine Investition für das Land, in dem sie arbeiten. Wir haben die grosse Chance in der Schweiz, viele Ausländer:innen zu haben. Hätten wir sie nicht, wären wir nicht so reich.
Die Personenfreizügigkeit steigert Ihrer Meinung nach also den Wohlstand. Trotzdem ist die Personenfreizügigkeit der Bevölkerung ein Dorn im Auge, nicht nur in der Schweiz. Profitieren bloss Firmen, Aktionäre und die Steuerkasse, nicht aber einzelne Angestellte?
Sie sprechen viele Aspekte an. Erstens: Ich habe den Kalten Krieg gekannt, da gab es keine Personenfreizügigkeit. Sagen Sie ehemaligen DDR-Bürger:innen, man sollte die Personenfreizügigkeit in Frage stellen. Ihnen, die nicht das Recht hatten, über die Grenze oder die Mauer zu gehen… Personenfreizügigkeit hat mit Freiheit zu tun!
Zweitens sprechen Sie einen Punkt an, den ich auch immer kritisiere: Das mangelnde soziale Bewusstsein in der Europäischen Union. Ein Grund des Euroskeptizismus hat damit zu tun, dass Europa sich sozialer entwickeln sollte. Dass die Sozialwerke immer noch und zu nationalstaatlich organisiert und finanziert sind, verträgt sich schlecht mit der Personenfreizügigkeit. Auch wenn die Schweizer Löhne viel grosszügiger als im europäischen Ausland sind, schneidet die Schweiz im Vergleich zu ihren Nachbarländern hier nicht immer gut ab, da die ausländischen beziehungsweise europäischen Sozialleistungen um einiges höher sind als in unserem Land.
In den letzten Jahren hat man – vielleicht auch im Sog einer Amerikanisierung der Politik – zu sehr auf das Finanzpolitische achtgegeben und viel zu wenig auf das Soziale. Europa braucht eine Sozialpolitik.
Lohnt sich der «Knorz» der Bilateralen oder anders gefragt: Welche Zukunft hat der Schweizer Alleingang?
Ein Alleingang hat nie eine Zukunft. Die Geschichte hat das gezeigt. Länder, die versucht haben, allein zu gehen, geraten in eine Sackgasse.
Die Bilateralen waren eine Zwischenphase. Diese Zwischenphase war für die Schweiz erfolgreich. Und nun tut sich die Schweiz schwer mit dem Gedanken, dass man sich von einem erfolgreichen Modell lösen sollte.
Man kann die positiven Seiten der Bilateralen beibehalten, aber man muss bereit sein, einen Schritt weiterzugehen. Die einseitige Ablehnung des Rahmenvertrages durch die Schweiz schadet der Schweiz viel mehr als der Europäischen Union.
>> «Der Ball liegt beim Bundesrat», sagt Gilbert Casasus:
Kann sich die Schweiz mit weiteren Kohäsionsmilliarden eine «Mitgliedschaft Light» erkaufen?
Diese Idee kam in der EU schlecht an: ‹Typisch Schweiz, die glauben, sie können alles kaufen!›, haben mir Personen zugetragen, die in der EU arbeiten.
Die EU ist keine Spielbank, sie ist ein politisches Gefüge. Wenn man glaubt, man könne sich mit der Kohäsionsmilliarde das Eintrittsticket erkaufen, dann ist das eine Fehleinschätzung.
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