Gewerkschaften in der EU uneins gegenüber Schweizer Blockade
Die Schweiz hat die höchsten Löhne in Europa. Und die Gewerkschaften setzen hierzulande alles daran, dass dies so bleibt. Dafür nehmen sie auch ein Zerwürfnis mit der EU in Kauf. Im Inland ernten sie dafür viel Kritik. Von Gewerkschaften in Europa kriegen sie nicht nur Unterstützung.
Es ist eine kurze Bestimmung im sogenannten EntsendegesetzExterner Link aber offenbar ein entscheidender Grund dafür, dass sich die EU und die Schweiz in den Haaren liegen: «Die Arbeit darf frühestens acht Tage, nachdem der Einsatz gemeldet worden ist, aufgenommen werden.»
Gemäss dieser sogenannten Acht-Tage-Regel müssen sich ausländische Firmen, die in der Schweiz tätig sein wollen, mindestens acht Tage im Voraus in der Schweiz anmelden. So sollen die Schweizer Behörden genügend Zeit haben zu kontrollieren, ob die hiesigen Lohnschutzmassnahmen eingehalten werden. Das Entsendegesetz ist Teil der sogenannten flankierenden Massnahmen zum Schutz der Schweizer Arbeitsbedingungen.
Fast 20′ 000 Verstösse gegen den Lohnschutz
Die Schweizer Behörden sanktionieren im Schnitt jeden Tag zehn Firmen wegen Verstössen gegen die flankierenden Massnahmen. Dies geht aus einer Liste hervor, die das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) von Betrieben führt, die in den vergangenen fünf Jahren wegen Verstössen gegen das Entsendegesetz geahndet, gebüsst oder gesperrt wurden.
Die Liste umfasst 19’200 rechtskräftig entschiedene Fälle.
Unter den Sündern finden sich viele Kleinbetriebe aus gut 30 Ländern. Nicht selten erwischt es aber auch bekannte Konzerne. Verstösse werden mit Bussen oder Sperren bestraft.
Kein Rahmenabkommen ohne Zugeständnisse
Vor allem süddeutsche Firmen stören sich an diesen «bürokratischen Schweizer BestimmungenExterner Link«. Sie möchten die Frist für die Entsendung von Arbeitskräften in die Schweiz deutlich verkürzen. Denn diese gelte sogar für Beratungsgespräche mit einem Schweizer Kunden oder für einen Angestellten, der für eine Offerte die Küche ausmessen wolle, beklagte sich ein deutscher Unternehmensberater gegenüber den Schweizer Zeitungen «Der Bund» und «Tages-Anzeiger». Nicht nachvollziehen können die betroffenen ausländischen Firmen, weshalb man acht Tage braucht, um Kontrollen zu organisieren.
Mit ihren Klagen scheinen die ausländischen Firmen bei der EU auf offene Ohren zu stossen. Brüssel hat verschiedentlich deutlich gemacht, dass ein Rahmenabkommen ohne Schweizer Zugeständnisse bei den flankierenden Massnahmen nicht in Frage komme. Die Schweizer Lohnschutz-Massnahmen sind laut Brüssel unverhältnismässig. Die europäischen seien ausreichend, auch für die Schweiz.
Die Schweizer Gewerkschaften wollen aber um keinen Deut von den Bestimmungen abweichen. Die lange Liste der Verstösse ist für sie ein weiteres Indiz für die Notwendigkeit der Lohnschutz-Massnahmen. Letzte Woche verweigerten sie sich sogar, auch nur am runden Tisch mit der Schweizer Regierung, Arbeitgebern und Kantonsvertretern über mögliche Änderungen zu verhandeln, womit sie sich Kritik von allen Seiten einhandelten.
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«Wird die Schweiz nicht einig, fliege ich nicht nach Brüssel»
Vor allem bürgerliche Parteien werfen ihnen nun vor, Totengräber des Rahmenabkommens mit der EU zu sein. Ohne Zusage der Gewerkschaften ist ein Ja der Schweiz zum Rahmenabkommen unmöglich, weil auch die Schweizerische Volkspartei – wenn auch aus anderen Gründen – kategorisch dagegen ist.
EGB sagt Ja zu Schweizer Sonderschutz
Unterstützung hatten die Schweizer Gewerkschaften auf internationaler Ebene von ihren Kollegen in Brüssel erhalten. Der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB) forderte die EU-Kommission im Juli in einem BriefExterner Link dazu auf, die Schweizer Lohnschutz-Massnahmen zu respektieren. Laut EGB-Generalsekretär Luca Visentini sind spezielle Schutzmassnahmen gerechtfertigt, weil die Schweiz aufgrund ihrer geografischen Lage für Unternehmen so gut erreichbar ist und das höchste Lohnniveau Europas hat.
Solidaritätsbekundungen gab es auch vom Zentralsekretär des Österreichischen Gewerkschaftsbundes: Dieser schrieb seinen Schweizer Kollegen, dass auch in Österreich eine Meldefrist galt, aber nur bis 2016. Diese und weitere Massnahmen hätten auf Druck der EU abgeschafft werden müssen, wodurch der Kampf gegen Lohndumping schwieriger geworden sei.
DGB ist unentschieden
Anders tönt es beim Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB). Die Antwort auf eine entsprechende Frage von swissinfo.ch hinterlässt den Eindruck, dass sich der DGB nicht entscheiden kann, ob er die Position der Schweizer Gewerkschaft oder jene der EU unterstützt.
«Uns geht es darum sicherzustellen, dass ‹gleiche Arbeit, gleicher Lohn, am gleichen Ort’ gilt», sagt DGB-Referentin Susanne Wixforth.
«In der EU ist es uns gelungen, mit der Reform der Entsende-Richtlinien dieses Prinzip durchzusetzen. Bisher hat Sozial- und Lohndumping auch innerhalb der Union stattgefunden. Jetzt muss die EU mit der Schweiz abklären, dass die EU-Richtlinien auch für die Schweiz gelten.»
«Rahmenabkommen würde Lohnschutz stärken»
Wenig Verständnis für die kompromisslose Haltung der Schweizer Gewerkschaften hat Europarechts-Experte Michael Hahn von der Universität Bern. «Anders als die Gewerkschaften zu glauben scheinen, würde das Aufnehmen der flankierenden Massnahmen in das Rahmenabkommen eine Stärkung des Lohnschutzes bedeuten», sagte er gegenüber der Tageszeitung «Blick». Momentan bestehe die Gefahr, dass sowohl das Schweizer Bundesgericht als auch der Europäische Gerichtshof daran Anstoss nehmen könnten. Wären die flankierenden Massnahmen aber Teil des Rahmenvertrags, so Hahn, wären sie für die nächsten zehn bis zwanzig Jahre fast unangreifbar durch die EU.
Laut dem Europarechts-Experten diente ein guter Kompromiss den Gewerkschaften deshalb mehr als ein Festhalten an den jetzigen flankierenden Massnahmen ohne Abkommen.
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