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Warum Schweizer:innen die nicht mehr sehr loyal gegenüber ihren Unternehmen sind

Linkedin auf dem Smartphone geöffnet
Das soziale Netzwerk LinkedIn ist heute wichtig, wenn es darum geht, junge Talente zu gewinnen. © Keystone / Christian Beutler

Insbesondere Jüngere wechseln in der Schweiz oft ihre Stelle, weil ihre Erwartungen an Unternehmen gestiegen sind. Dies stellt HR-Verantwortliche vor Probleme.

Élodie* wechselte in den ersten sieben Jahren ihrer Berufskarriere viermal den Arbeitgeber. Nun scheint die Personalfachfrau angekommen zu sein: Seit sechs Jahren ist die Mittdreissigerin für ein Schweizer IT-Unternehmen tätig. «Hier habe ich echte Entwicklungsmöglichkeiten, und die Aufmerksamkeit für den Menschen ist zentral», betont sie. «Ausserdem sind Ausbildungsangebot und Unternehmenskultur wirklich vorbildlich.»

Es gab vor allem einen Grund, weshalb Élodie so oft den Job wechselte: Probleme mit dem Management. «Bei meiner zweiten Stelle hielt die Geschäftsleitung immer schöne Reden, aber in der Praxis tat sich nichts, und die Chefs hatten keinen Respekt vor den Mitarbeiter:innen», erzählt sie. «Bei meinem nächsten Job war das Management altbacken, und meine Fähigkeiten und mein Potenzial interessierten es nicht. Ich musste bloss Verwaltungsaufgaben erledigen.»

Élodies Erfahrung spiegelt einen Trend auf dem Arbeitsmarkt. Laut einer PwC-Umfrage vom Mai 2022 planten 20% der Beschäftigten in der Schweiz, im Jahr 2023 eine neue Stelle zu suchen. Das Bundesamt für Statistik (BFS) gibt an, dass die berufliche Mobilität zwischen 2016 und 2021 zugenommen hat, vor allem bei den Erwerbstätigen der Generation Z, die zwischen 1990 und 2010 geboren wurden. Insgesamt haben 12,4% der Erwerbstätigen im Jahr 2021 den Arbeitsplatz gewechselt, gegenüber 12% im Jahr 2016.

Besonders auffällig ist, dass etwa ein Fünftel der 15- bis 24-Jährigen (21,6%) und der 25- bis 39-Jährigen (17,7%) im Jahr 2021 einen neuen Job antraten. Im Vergleich dazu betrug der entsprechende Anteil bei den 55- bis 64-Jährigen nur rund 5%. Dieser Trend ist auch in anderen europäischen Staaten zu beobachten, auch wenn es keine vergleichbaren Statistiken gibt.

Anspruchsvoll und neugierig

Der Wunsch nach beruflicher Mobilität geht mit Vollbeschäftigung und einer historisch tiefen Arbeitslosenquote einher. Gemäss einer im Januar veröffentlichten Studie von Manpower sind derzeit über 100’000 Stellen in der Schweiz unbesetzt. Das verändert das Machtverhältnis zwischen Unternehmen und Arbeitnehmer:innen.

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Personalverantwortliche müssen heute nicht mehr nur auswählen, sondern auch aktiv auf Kandidat:innen zugehen. Infolge des Arbeitskräftemangels, insbesondere unter jungen Menschen, war es nie einfacher, einen Job zu finden. Allerdings stellt die Einstellung neuer Mitarbeiter:innen, nicht nur in Branchen wie Informatik und Gesundheitswesen, eine Herausforderung dar.

Das Privatgymnasium Champittet im Kanton Waadt beispielsweise, das rund 250 Angestellte beschäftigt, hat derzeit rund 20 offene Stellen. «Bereits vor fünf Jahren war es schwierig, geeignete Lehrer:innen, Kleinkindererzieher:innen und Informatiker:innen zu finden», sagt Agnès Gabirout, Leiterin der Personalabteilung. «Vor allem ist es schwierig, fachlich kompetente Lehrer:innen zu finden, die sowohl Französisch als auch Englisch und idealerweise eine dritte Sprache beherrschen.»

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Informatikstudenten.

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Matthias Mölleney, Leiter des Center for Human Resources Management & Leadership an der Hochschule für Wirtschaft Zürich (HWZ), verweist auf Studien, die zeigen, dass die Hoffnung auf ein besseres Gehalt nach wie vor der wichtigste Grund für einen Stellenwechsel ist.

Allerdings habe sich in den späten 2010er-Jahren ein drastischer Wandel vollzogen: «Die vorherrschende Hierarchie, die Arbeit an sich und die Wertschätzung, die den Mitarbeitenden entgegengebracht wird, haben eine enorme Bedeutung erlangt», sagt Mölleney.

Junge Arbeitnehmer:innen wechseln aber oft auch die Stelle, weil sie entdeckungsfreudig sind.

«Wenn man frisch aus der Ausbildung kommt, ist man neugierig und möchte Verschiedenes ausprobieren», sagt Manuella*, eine 31-jährige Maschinenbauingenieurin im Kanton Waadt. Sie hat bereits dreimal ihren Job gewechselt. «Auch Studienkolleg:innen haben nach ihrem Abschluss drei oder vier Stellen hintereinander gehabt.»

Die Personalrekrutierung hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Das Schalten von Stellenanzeigen auf Jobbörsen gehört der Vergangenheit an. Stattdessen sind soziale Netzwerke wie LinkedIn zu wichtigen Instrumenten für HR-Verantwortliche geworden. Die Plattform bietet nicht nur ein umfangreiches Talentpool, sondern auch eine simple Bewerbungsfunktion.

Anthony Caffon, Leiter des Personalvermittlungsbüros Michael Page in Genf, betont, dass Bewerbungsschreiben und formelle Lebensläufe heutzutage nicht mehr üblich seien.

Vor allem Start-ups sind bei jungen Arbeitnehmer:innen beliebt, da sie auf schnelles Wachstum und eine grosse Wirkung abzielen. Dagegen sind traditionelle Branchen wie Banken und Versicherungen nicht mehr so beliebt.

Ein agiles Umfeld, das reaktionsschnell, flexibel und kollaborativ ist, werde von vielen bevorzugt, sagt Frédéric Roger, der Gründer von Air HR Global Solutions.

Er betont, dass junge Arbeitnehmer:innen unterhalten werden wollen und ein Umfeld bevorzugen, das Organigramme und Autoritäten vermeidet. «Sie erwarten von ihren Vorgesetzten eine starke Führungsrolle und die Fähigkeit, schnelle Entscheidungen zu treffen.»

Laut Anthony Caffon haben junge Menschen selten Karrierevorstellungen, die über drei Jahre hinausgehen. «Sie fragen sich oft, was die Stelle ihnen bringt und nicht, was sie dem Unternehmen bieten können.» Der Arbeitsmarktexperte prognostiziert, dass die neue Generation während ihrer Karriere durchschnittlich fünfzehn Arbeitgeber:innen haben wird, im Vergleich zu fünf bis sechs Arbeitgeber:innen bei den heute 50-Jährigen.

Die Generation Z legt Wert auf freie Zeiteinteilung, Home Office und ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Berufs- und Privatleben. Für sie ist das Wichtigste, dass sie bei der Durchführung eines Projekts etwas lernen können und ihr Job einen positiven Einfluss auf die Welt hat.

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Auf die Werte kommt es an

Somit ist die Anbindung von Mitarbeiter:innen für die Unternehmen zu einer echten Herausforderung geworden. In der hyperkompetitiven IT-Entwicklungsbranche sticht Infomaniak als einer der wenigen Schweizer Akteure hervor, die in punkto Dienstleistung mit den GAFA-Unternehmen (Google, Apple, Facebook, Amazon) mithalten können.

Trotzdem seien schon Mitarbeitende gegangen, erzählt Boris Siegenthaler, strategischer Direktor des Genfer Unternehmens. «Ein Entwickler, der gerade bei uns angefangen hatte, wurde von einem kalifornischen Unternehmen für einen Job in Paris abgeworben. Die Amerikaner boten ihm ein Aktienpaket im Wert von 170’000 Franken, ein Gehalt, das 20% über unserem lag, und alle Vorteile, die man von diesen Firmen kennt, inklusive kostenlose Mahlzeiten. Als KMU mit 200 Mitarbeiter:innen können wir damit nicht konkurrieren.»

Infomaniak setzt auf seine Unternehmenskultur, um Angestellte an sich zu binden: Das Unternehmen verpflichtet sich auch zu starkem Engagement für die Nachhaltigkeit und sichert gleichzeitig den Erhalt von Arbeitsplätzen in der Schweiz.

Das Management ist so flach wie möglich. Gleichzeitig hat es ein Programm lanciert, um die Hälfte des Firmenkapitals in den Besitz der Mitarbeitenden zu bringen. So werden die Angestellten am Erfolg des Unternehmens finanziell beteiligt. «Bewerber:innen interessieren sich vor allem für unsere Werte und Firmenkultur. Diese Aspekte verdrängen meist die Gehaltsfrage.»

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Debatte
Gastgeber/Gastgeberin Samuel Jaberg

Wie kann der Mangel an qualifizierten Arbeitskräften behoben werden?

Sind Sie in Ihrem Unternehmen oder Ihrem Tätigkeitsbereich ebenfalls betroffen? Ihre Meinung interessiert uns!

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*Namen geändert

Text editiert von Samuel Jaberg und Pauline Turuban. Übertragung aus dem Französischen: Christoph Kummer.

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